Weltspiegel

29. Apr. 2024

EU-Beitrittspolitik: Jean Monnets langer Schatten

Die Diskussionen über die Ukraine und Moldau zeigen eines: Es ist an der Zeit, neue Wege beim EU-Aufnahmeverfahren zu gehen. Ein Vorschlag.

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Bild: Straßenschmuck in Tirana anlässlich des EU-Westbalkan-Gipfels im Dezember 2022.
Erst die Politik, dann die Wirtschaft? Die umgedrehte Integrationsfolge könnte für Staaten wie Albanien interessant sein. Straßenschmuck in Tirana anlässlich des EU-Westbalkan-Gipfels im Dezember 2022.
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Es war Mitte Dezember des vergangenen Jahres, als der Europäische Rat beschloss, Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine und Moldau aufzunehmen. Wie kann ein solcher Beitritt trotz der prekären Lage dieser Staaten und der gewaltigen Probleme, die einer Integration im Wege stehen, in halbwegs überschaubarer Zeit gelingen? Vielleicht, indem man über das Beitrittsverfahren neu nachdenkt – und auf der Grundlage des Artikels 49 des EU-Vertrags zwischen einem bald zu bewerkstelligenden politischen Beitritt und einer erst allmählich nachfolgenden wirtschaftlichen und finanziellen Integration unterscheidet.


Erwartbare Enttäuschung

Ein Beitritt zur Europäischen Union nimmt günstigenfalls viele Jahre, oft mehr als ein Jahrzehnt, manchmal Jahrzehnte in Anspruch, bevor er vollzogen ist oder (wie zweimal im Falle Norwegens) endgültig scheitert. Zwei gegensätzliche Beispiele sind Griechenland und die Türkei: Beiden Staaten wurde 1962 und 1963 in Assoziierungsabkommen der Beitritt zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) versprochen. Griechenland stellte 1975 einen formellen Beitrittsantrag, der innerhalb von weniger als fünf Jahren erfolgreich war – zum 1. Januar 1981. Ausschlaggebend dafür waren politische Gründe, nämlich die Sorge um die Stabilität im Lande; ökonomisch und verwaltungstechnisch war Griechenland eindeutig nicht beitrittsreif. 

Die Türkei stellte 1999 einen Beitrittsantrag, über den die Verhandlungen erst nach sechs Jahren begannen. Über den Antrag ist bis heute nicht entschieden. Wiederum spielen politische Gründe die entscheidende Rolle; denn die Tatsache, dass die EU mit der Türkei seit 1996 eine Zollunion bildet, beweist: Das Land ist ökonomisch nahezu reif für einen Beitritt.

Den von der ums Überleben ringenden Ukraine am 22. Februar 2022 gestellten Antrag auf Beitritt zur Europäischen Union hat der Rat aus politischen Gründen sehr rasch positiv beschieden. Nun drängt sich die Frage auf, wie viele Jahrzehnte es wohl brauchen wird, bis die Verhandlungen darüber zum Abschluss kommen und ob der Beschluss des Rates über den reinen Symbolwert hinaus für das Land von Nutzen ist. Jedermann weiß, dass die Verhandlungen gewaltige technische und finanzielle Probleme aufwerfen, also langwierig und zäh sein werden. Eine herbe Enttäuschung in der Ukraine angesichts schier endloser Verhandlungen ist voraussehbar. Lässt sich eine Entwicklung vermeiden, die für die EU sowie die Ukraine und Moldau ­gleichermaßen fatal wäre?


Weiter inhaltlicher Spielraum

Das wirft die weitere Frage nach der Ursache für die übliche Länge der Beitrittsverhandlungen auf, die man wohl in den meisten Fällen als ungebührlich bezeichnen darf. An den Hürden, die Artikel 49 des EU-Vertrags für einen Beitritt aufstellt, kann es nicht liegen. In Absatz 1 heißt es, dass jeder europäische Staat, der die in Artikel 2 genannten Werte achtet und sich für ihre Förderung einsetzt, Mitglied der Union werden kann. 

Das sind keine hohen Ansprüche; denn in Artikel 2 sind die für einen demokratischen Rechtsstaat selbstverständlichen Werte von Verfassungsrang aufgeführt. Nach Artikel 49 Absatz 2 werden die Aufnahmebedingungen und die erforderlichen Anpassungen der EU-Verträge durch ein Abkommen geregelt. Der Wortlaut des Artikels 49 lässt bei der Gestaltung des Beitritts also einen außerordentlich weiten inhaltlichen Spielraum zu. 

Die lange Dauer von Beitrittsverhandlungen liegt in der Geschichte der Union und der ständigen Verhandlungspraxis ihrer Organe begründet. Die Geschichte ist insoweit wichtig, als die europäische Integration nicht auf traditionellem Wege über einen politisch-staatsrechtlichen Verbund, eine Föderation, erfolgte – das war in den 1950er Jahren in der emotional aufgeladenen Stimmung nach dem Zweiten Weltkrieg ausgeschlossen. Auf Jean Monnets klugen Rat hin lief sie auf dem Umweg über den wirtschaftlichen Zusammenschluss in Form neuartiger Gemeinschaften, die von Völker- und Europarechtlern als supranationale internationale Organisationen eingestuft wurden. Supranational, weil ihnen – ähnlich wie bei einer Föderation – ein Teil der nationalen Souveränität übertragen wurde. 

Das galt zunächst nur im Wirtschaftssektor. Die Gemeinschaften sollten jedoch die Vorstufe zu einer politischen Union bilden, im Idealfall zu einem europäischen Bundesstaat. Ziel der europäischen Integration war nicht die bloße Schaffung einer Zollunion oder eines gemeinsamen Marktes. Die wirtschaftliche Integration sollte Durchgangsstation auf dem Weg zu einem originär politischen Zusammenschluss sein. 

Die wirtschaftliche Integration sollte ursprünglich 
nur eine Durchgangsstation 
auf dem Weg zu einem 
originär politischen ­Zusammenschluss sein

Weil der wirtschaftliche Erfolg der Gemeinschaften aber durchschlagend war, geriet die politische Integration aus dem Blickfeld. Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks schien sie vielen Europäern entbehrlich. Von einem europäischen Bundesstaat war immer weniger die Rede, oft wurde er sogar als Endstadium der Inte­gration kategorisch ausgeschlossen. 

Deshalb bildet der Binnenmarkt weiterhin den harten Kern der EU, obwohl es sich mittlerweile um eindeutig mehr handelt als um eine reine Wirtschaftsintegration.

Das hat die EU bisher veranlasst, in den Beitrittsverhandlungen gerade in Sachen Wirtschaftsintegration auf der Übernahme des erreichten Besitzstands zu bestehen, dem sogenannten Acquis communautaire. Das wirft nicht nur erhebliche technische Probleme auf, es ist für wirtschaftlich wenig leistungsfähige Staaten auch oft schwer zu bewältigen – zumal die Strukturhilfen der Union nicht mehr so reichlich fließen wie in früheren Jahrzehnten. Und in einigen Fällen würden allein die für die Landwirtschaft erforderlichen Zahlungen die finanziellen Möglichkeiten der EU weit überschreiten. Das würde für die Türkei, besonders aber für die Ukraine gelten. Vertreter der Institutionen und einiger Mitgliedstaaten sind über solche technischen Verzögerungen im Grunde nicht unfroh, weil sie es erlauben, nicht sonderlich erwünschte Beitrittskandidaten eine Weile auf Distanz zu halten, ohne sie zu brüskieren. 

Im Gegensatz zur politischen Lage in den ersten beiden Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg fällt es heute einigen Beitrittskandidaten leichter, sich politisch in die EU zu integrieren als wirtschaftlich. Der Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum ist für sie deshalb als Alternative sinnlos. Zu dieser Art von Kandidaten zählt die Ukraine, umso mehr, wenn sie nach dem Krieg mit Russland ökonomisch völlig zerstört sein wird. Sollte damit ein Beitritt zur EU auf absehbare Zeit praktisch unmöglich sein? Selbst wenn er zur politischen und langfristig auch wirtschaftlich-finanziellen Stabilität des Landes von großem Nutzen wäre? 


Umgedrehter Monnet

Artikel 49 des EU-Vertrags steht einer Umdrehung des Integrationsansatzes von Jean Monnet und der bisherigen Rechts­praxis nicht im Wege. Er erlaubt, mit der politischen Integration zu beginnen und die wirtschaftliche zeitweilig hintanzustellen – wenn man es denn will! Einer Beteiligung der Ukraine an Forschung, Technologie, Bildung, Umwelt, Energie, Justiz, Verbraucherschutz, Gesundheit, transeuropäischen Netzen, Kultur und letztlich auch der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik steht nichts ernsthaft entgegen. 

Der Einstieg in den Binnenmarkt und womöglich sogar die Währungsunion sollten behutsam und Schritt für Schritt nachfolgen. Auf unabsehbare Zeit unmöglich ist beides nicht. Die Ukraine könnte unter solchen Umständen also drei bis fünf Jahre nach Kriegsende der EU beitreten. Sie wäre dann Mitglied der EU und dürfte sich in Europa besser verankert und aufgehoben fühlen als in der andauernden Hängepartie eines Pufferstaats zwischen Russland und der Union, selbst mit einem Assoziierungsvertrag im Rücken. 

Zwar stünde den Vertretern eines zunächst fast ausschließlich politisch beitretenden Staates nur ein erheblich eingeschränktes Stimmrecht in den Gremien zu. Doch das ließe sich institutionell angemessen regeln. Schon jetzt gibt es eine solche differenzierte Behandlung von Mitgliedstaaten, die an bestimmten Aktivitäten der Union nicht teilnehmen, etwa der Währungsunion oder dem Schengener Abkommen. Es entstünde in vergrößertem Maßstab ein Europa unterschiedlicher ­Geschwindigkeiten. 

Der Vorteil des hier gewählten Ansatzes wäre, dass der Druck auf den beitrittswilligen Staat deutlich größer würde, bestimmte Missstände in Sachen Rechtsstaatlichkeit – Korruption, Art und Weise der Richterernennung – und Demokratiedefizite abzustellen. Das hat damit zu tun, dass der Beitritt nicht wegen wirtschaftlicher, technischer und finanzieller Probleme endlos lange auf sich warten ließe, der Kandidat also nicht geneigt sein würde, bei den politischen Anforderungen zu „trödeln“. 

Voraussetzung für einen nachhaltigen Erfolg dieses Ansatzes für die Integration neuer Mitgliedstaaten in die EU ist im Falle der Ukraine und von Moldau jedoch, dass es eines Tages, wenn auch vermutlich eher mittel- oder langfristig, zu einer neuen europäischen Friedensordnung kommen wird, die auch Russland einschließt. Mit einem permanenten kriegerischen Konflikt im Rücken ist eine geordnete Integration der Ukraine und wohl auch Moldaus in die bestehende EU auf Dauer nicht möglich, ganz gleich, welchen Ansatz man für die Integration wählt.

 

Ein stufenweiser Beitritt

Im Vergleich zum bisherigen Ansatz einer möglichst raschen und vollständigen Übernahme des bestehenden Besitzstands der EU verfolgt das hier skizzierte Modell eine Aufspaltung dieses Besitzstands und erlaubt einen stufenweisen Beitritt. Die von Artikel 49 des EU-Vertrags vorgegebenen Kriterien müssen beim Beitritt voll erfüllt sein und ein verbindlicher, aber leicht flexibler Zeitplan für die nachfolgenden Schritte zur weiteren Integration aufgestellt werden. 

Die umgedrehte Integrationsfolge mag auch für wirtschaftlich schwache Staaten wie Albanien und Nordmazedonien interessant sein. Ebenso böte sie für Staaten, die bestimmte Wirtschaftsgebiete von der Integration ausnehmen wollen (wie Island die Fischerei), auf längere Sicht eine Möglichkeit des Beitritts.

Ob eine derartig große Erweiterung, die am Ende alle europäischen Staaten mit Ausnahme von Russland und der Schweiz erfassen würde, wünschenswert ist, wäre nach nüchterner Analyse und breiter politischer Debatte zu entscheiden. 

Dieser Artikel ist in der gedruckten Version unter dem Titel „Jean Monnets langer Schatten“ erschienen.   

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, Mai/Juni 2024, S. 78-81

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Mehr von den Autoren

Jörn Sack ist ehemaliger Rechtsberater der 
Europäischen Kommission und Lehrbeauftragter am Europainstitut der Universität Saarbrücken.

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