Weltspiegel

24. Juni 2024

Italien: Melonis schwieriger Spagat

Dass Giorgia Meloni Italien zu einem maßgeblichen Faktor in der EU machen will, bringt sie in Konflikt mit der eigenen Partei. Wie lange geht das gut – für Meloni und für Europa?   

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Bild: EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen mit Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni
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Groß war die Sorge quer durch Europa, als im Herbst 2022 Italiens Rechte die Parlamentswahlen gewann und die Postfaschistin Giorgia Meloni eine neue Regierung bildete. Schließlich schickten sich da Kräfte zu regieren an, an deren außenpolitischer Zuverlässigkeit erhebliche Zweifel bestehen konnten.

Stärkste Kraft der Koalition war Melonis Partei Fratelli d’Italia (FdI – Brüder Italiens), die bei den Wahlen 26 Prozent erreicht hatte – eine Partei, die zwar dem Faschismus abgeschworen hat, deren Chefin jedoch nie auch nur ein böses Wort über Benito Mussolini verloren hatte. Mit einem Wahlresultat von 8,8 Prozent wurde die von Matteo Salvini angeführte Lega zur zweitstärksten Partei im Rechtsbündnis; auch sie setzt auf radikalen Rechtspopulismus. Auf dem dritten Platz folgte mit 8,1 Prozent die bis zu seinem Tod im Juni 2023 von Silvio Berlusconi geleitete Forza Italia; eine Partei, die schon aufgrund der Geschichte ihres Chefs Zweifel an ihrer ­demokratischen Verlässlichkeit weckte.

Drohte mit dem Erfolg der italienischen Rechten jetzt erstmals auch in einem westeuropäischen Land eine offen rechtspopulistische Regierung, die den außen- und europapolitischen Konsens in der EU aufkündigen könnte? Ihre Berechtigung bezog diese Frage aus der Tatsache, dass sich sowohl die FdI als auch die Lega und Berlusconi über die Jahre in der Russland-Politik und der europäischen Integration ziemlich eindeutig positioniert hatten.


Unter Putin-Freunden

Zwei Putin-Freunde, eine Putin-Sympathisantin: Das war auf den ersten Blick das Tableau, als im Oktober 2022 – acht Monate nach Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine – die Rechte die Macht in Rom übernahm. Berlusconi pflegte engste Beziehungen zum russischen Staatschef, seit er im Jahr 2001 Ministerpräsident geworden war, ja mehr als das. Die beiden verband eine enge persönliche Freundschaft, mit gegenseitigen Besuchen in Berlusconis Anwesen auf Sardinien und in Putins Villa in Sotschi. Und 2015 fuhr Berlusconi ohne Bedenken zu einem Treffen mit Putin auf die ein Jahr zuvor durch die Russische Föderation annektierte Krim und sprach sich anschließend für ein Ende der gegen Moskau verhängten Sanktionen aus. Selbst im Oktober 2022, kurz vor der Bildung der Regierung Meloni, ließ Berlusconi noch verlautbaren, der wirklich Verantwortliche für den Ukraine-Krieg sei Wolodymyr Selenskyj.

Große Nähe zu Putin ebenso wie zu dessen Partei Einiges Russland hatte über die Jahre auch Matteo Salvinis Lega gezeigt. 2017, drei Jahre nach der Annexion der Krim, hatte die Lega ein Kooperationsabkommen mit Einiges Russland unterzeichnet und das damit begründet – so die Worte Salvinis –, dass „die Parteien die gleichen identitären Ideen teilen“. Auch Giorgia Meloni hatte in ihrer Vergangenheit immer wieder Sympathien für Putin erkennen lassen, hatte sich 2016 gegen die Stationierung von NATO-Truppen in Lettland ausgesprochen, hatte dann im Jahr 2017 dem US-Präsidenten Barack Obama vorgeworfen, er entfessele „einen neuen Kalten Krieg gegen Russland“, und „das Ende aller Sanktionen gegen die Russische Föderation“ gefordert.


Ukraine-Politik als Türöffner

Doch schon seit Februar 2022 hatte Meloni ihre eigene Partei FdI völlig neu positioniert, fest an der Seite der Ukraine und der italienischen Regierung unter Mario Draghi, die den Ukraine-Kurs von NATO und EU mittrug. Und als Meloni zum Regierungsantritt ihre programmatischen Linien darlegte, war sie ebenso knapp wie eindeutig: „Italien wird weiterhin ein zuverlässiger Partner in der Atlantischen Allianz bleiben, beginnend bei der Unterstützung des tapferen ukrainischen Volkes, das sich der Invasion der Russischen Föderation widersetzt.“ 

Damit waren auch die Zweifel ausgeräumt, die beiden Koalitionspartner Salvini und Berlusconi könnten womöglich die Achse der italienischen Ukraine-Politik verschieben. Unter Meloni trug und trägt Italien alle in NATO und EU vereinbarten Maßnahmen gegen Russland mit, setzt es ungebrochen seine Waffenlieferungen an die Ukraine fort, pflegt Meloni selbst ein äußerst herzliches Verhältnis zum ukrainischen Präsidenten Selenskyj.

Unter Meloni trägt Italien alle in NATO und EU ­vereinbarten Maßnahmen 
gegen Russland mit

Dies wiederum öffnete ihr, die noch wenige Jahre zuvor aus ihrer Nähe zu Donald Trump und aus ihrer Distanz zu den US-Demokraten keinen Hehl gemacht hatte, auch die Türen bei US-Präsident Joe Biden. Vertraulich hielt Biden auf dem G7-Gipfel in Hiroshima im Mai 2023 Melonis Hand, und nach ihrem Besuch im Oval Office im Juli des gleichen Jahres zitierte Meloni den US-Präsidenten mit den Worten, er habe bei ihrem Treffen den Eindruck gehabt, er kenne sie schon seit Langem, und sie selbst habe sich zumindest „nicht als Aschenputtel gefühlt“.

Als zweites kritisches außenpolitisches Feld der Regierung Meloni musste die EU gelten. Noch im Jahr 2021 hatte Meloni in ihrer Autobiografie „Io sono Giorgia“ („Ich bin Giorgia“) Richtung Brüssel gegiftet, es sei „ein Spielplatz von Technokraten und Bankiers, die es sich auf dem Rücken der Völker gut gehen lassen“, und nachgesetzt, „dieses ‚falsche Europa‘, heute verkörpert von den gemeinsamen Institutionen der EU, ist utopisch und potenziell tyrannisch“. In bester rechtspopulistischer Manier befand sie, die EU sei „eine undefinierte Entität in den Händen obskurer Bürokraten, die über die nationalen Identitäten hinweggehen, ja sie sogar auslöschen will“. 

Gebrochen war auch Melonis Verhältnis zum Euro. Noch 2014 hatten die FdI dessen Abwicklung gefordert, im Jahr 2019 war die postfaschistische Partei dann für Kompensationen zugunsten jener Länder eingetreten, die – wie Italien – durch den Euro geschädigt worden seien. Doch auch hier hatte Meloni spätestens mit ihrer Regierungserklärung eine Frontbegradigung vorgenommen. Italien gehe es nicht darum, „die europäische Integration zu bremsen oder zu sabotieren“, sagte sie nun und fügte hinzu, ihre Regierung werde die „gültigen Regeln respektieren und zugleich ihren Beitrag dazu leisten, jene Regeln zu ändern, die nicht funktioniert haben, beginnend bei der gegenwärtig laufenden Debatte über die Reform des Stabilitäts- und Wachstumspakts“.


Schulter an Schulter mit von der Leyen

An diese Linie hat sich Meloni seitdem weitgehend gehalten. Jedenfalls fiel Ita­lien unter ihrer Führung nicht dadurch auf, dass es seine Haushaltspolitik im Dissens mit der EU-Kommission betrieben hätte. Und auch bei der Umsetzung des NextGeneration EU-Programms – das Italien in den Jahren 2021 bis 2026 die Summe von 194 Milliarden Euro zuweist – funktioniert der Dialog mit der Kommission gut. Ein Ausreißer ist allein Italiens Weigerung, im Parlament die Reform des Europäischen Stabilitätsmechanismus – die den Weg auch für eine Bankenunion öffnen würde – zu ratifizieren.

Selbst diese aus EU-Sicht einigermaßen unerfreuliche Episode änderte nichts daran, dass es Meloni gelungen ist, in der Union nicht bloß dabei zu sein, sondern wenigstens auf dem Feld der Flüchtlingspolitik zu einer Protagonistin zu werden – dank einer strategischen Partnerschaft mit Ursula von der Leyen. 

Im Wahlkampf hatte Meloni ihrer rechten Wählerschaft versprochen, die Zahl der Flüchtlingsankünfte deutlich zu reduzieren, musste jedoch im Jahr 2023 erleben, dass mit rund 157 000 Menschen so viele übers Mittelmeer kamen wie seit 2016 nicht mehr. Meloni reagierte mit einem Konzept, das auf die Einbindung jener Staaten wie Tunesien abzielte, aus denen die Migranten sich auf den Weg nach Norden machten.

Hier konnte sie schnell auf eine stabile Zusammenarbeit mit der Kommissionspräsidentin zählen. Eigentlich hätte diese geradezu als Symbolfigur jener „obskuren Bürokraten“ gelten müssen, über die Meloni sich noch in ihrer Autobiografie echauffiert hatte. Doch als von der Leyen im Januar 2023 zum bilateralen Gipfel mit Meloni in Rom erschien, gab es statt Spannungen freundliche Umarmungen. Die beiden Frauen strahlten um die Wette, die Kommissionspräsidentin teilte per Tweet mit, es sei einfach „ein Vergnügen, Giorgia Meloni zu treffen“, und die erwiderte, die Begegnung sei eine „sehr gute Gelegenheit für einen Meinungsaustausch“ gewesen.

In der Folge sollten die beiden einander in enger Taktung immer wieder treffen und sogar gemeinsam auf Reisen gehen. Im Juni und gleich darauf im Juli 2023 flogen Meloni und von der Leyen – beide Male begleitet vom niederländischen Premier Mark Rutte – nach Tunis, um mit dem tunesischen Präsidenten Kais Saied darüber zu verhandeln, wie der im europäischen und italienischen Interesse die Flüchtlinge an der Fahrt übers Mittelmeer hindern könne. An der Beteiligung von der Leyens war Meloni schon deshalb gelegen, weil sie die Zusage auch von EU-Geldern an ­Tunesien brauchte, um die von ihr gewollte Vereinbarung mit Saied zu treffen. 

In der Sache waren sich die beiden Frauen einig, ebenso im März 2024, als sie sich nach Kairo aufmachten, in gleicher Mission. Statt in Europa abseits zu stehen, war Meloni so auf dem Feld der Flüchtlingspolitik mittendrin, Schulter an Schulter mit von der Leyen. Von der gab es dann auch ein großes Kompliment, als Rom mit Tirana die Errichtung zweier italienischer Flüchtlingslager auf albanischem Boden aushandelte. Das sei „ein Modell“ für Europa, so die Kommissionspräsidentin.

Jenes Abkommen kommt der von Großbritannien verfolgten „ruandischen Lösung“ nahe: In Zukunft will Italien im Mittelmeer aufgegriffene Flüchtlinge – sofern sie aus „sicheren Herkunftsstaaten“ stammen – direkt nach Albanien schaffen lassen, um dort ihre Registrierung, ihre Asylverfahren und ihre eventuelle Abschiebung zurück in die Herkunftsstaaten abzuwickeln. 

Meloni darf für sich beanspruchen, dass dieser Ansatz mittlerweile für viele in der EU trotz enormer Kosten und menschenrechtlicher Bedenken als vorbildhaft gilt. Zuletzt sprach auch Bayerns Ministerpräsident Markus Söder nach einem Besuch bei Italiens Ministerpräsidentin von der albanischen Lösung als „Modell“.


„Italien verändert Europa“

Als „strategische Partnerschaft“ darf man das Zusammengehen von Meloni und von der Leyen jedoch auch über das Feld der Flüchtlingspolitik hinaus bezeichnen. Während von der Leyen erkennbar daran gelegen war, ihre Chancen auf eine Wiederwahl als EU-Kommissionspräsidentin zu erhöhen, war es Melonis Ehrgeiz, die italienische Regierung und ihre Partei FdI zum zentralen Player bei der Wahl der 
EU-Kommission zu machen. 

Mit Donald Trump teilt 
Meloni nach eigener Aussage den „Stolz, die eigene Identität zu beanspruchen und zu verteidigen“

Nicht umsonst hieß Melonis Slogan im Europawahlkampf „l’Italia cambia l’Europa“ („Italien verändert Europa“). Und der erste Wandel, auf den sie offen zielte, war eine neue Mehrheit im Europäischen Parlament „wie in Italien“, sprich unter Ausschluss der Linken, aus der Europäischen Volkspartei, den Europäischen Konservativen und Reformern und Identität und Demokratie. 

In der Sache fordert sie – genauso wie ihre Koalitionspartner Lega und Forza Italia – eine Abkehr vom Green Deal: einen Verzicht auf den Ausstieg aus dem Verbrennermotor, auf die ökologische Gebäudesanierung, auf härtere Umweltnormen für die Landwirtschaft.


Keine Korrektur der Parteiideologie

Sicher ist, dass Meloni es in der Außen- und Europapolitik geschafft hat, entgegen vieler Prognosen einer Isolation in EU oder NATO zu entgehen – ja, dass es ihr auch gelungen ist zu vermeiden, in einem Atemzug mit Viktor Orbán oder der polnischen PiS genannt zu werden. 

Allerdings ist keineswegs ausgemacht, ob dahinter eine auf Dauer angelegte strategische Wende oder ein temporäres taktisches Zugeständnis steht. Denn immerhin hatte Meloni im Europawahlkampf erneut die Zugehörigkeit ihrer Partei FdI zur rechtspopulistischen Familie unterstrichen, etwa mit einem Videoauftritt auf einer Großkundgebung der spanischen Vox im Mai 2024, bei der neben Argentiniens Präsident Javier Milei auch Marine Le Pen und Viktor Orbán auftraten. 

Ob der Spagat zwischen der identitären Verortung im rechtspopulistischen Milieu und dem Anspruch, als Regierungschefin eines der großen EU-Länder eine zentrale Rolle innerhalb der Europäischen Union zu spielen, am Ende gelingt: Das wird sich erst in Zukunft zeigen. 

Und selbstverständlich bleibt eine weitere, für Meloni alles andere als zweitrangige Variable bis zum November 2024 noch offen: der Ausgang der US-Präsidentschaftswahlen. Aus ihren Sympathien für die Republikaner hatte Meloni bekanntlich nie ein Geheimnis gemacht. So hatte sie im Jahr 2018 Trumps ehemaligen Chefstrategen Steve Bannon als Redner zu einer großen FdI-Veranstaltung in Rom eingeladen, hatte sich im US-Wahlkampf 2020 einen „Trump-Sieg zugunsten der Interessen Italiens“ gewünscht und erklärt, sie teile mit ihm den „Stolz, die eigene Identität zu beanspruchen und zu verteidigen“, beginnend beim Dreiklang „Gott, Vaterland, Familie“.

Welchen Weg Melonis Italien in Zukunft außenpolitisch einschlagen wird, ist mithin keineswegs ausgemacht. Sicher ist nur, dass ihr Kurs bisher von vorsichtigem Realismus geprägt war. Angesichts des Bildes unfallfreier Normalität, das Meloni gerade in ihrer Außenpolitik schuf, verstummten die jenseits der italienischen Grenzen nach ihrer Wahl 2022 zu vernehmenden besorgten Stimmen schnell. 

Zugleich gilt aber, dass Meloni keinerlei Korrekturen an der Ideologie ihrer Partei vorgenommen hat. Ihr Realismus kann deshalb auch in völlig andere Richtungen führen, sobald es – etwa mit einem Sieg Trumps – zu einer deutlichen Verschiebung der für Italien relevanten außenpolitischen Koordinaten kommt.                    

Dieser Artikel ist in der gedruckten Version unter dem Titel „Schwieriger Spagat" erschienen.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli/August 2024, S. 75-79

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Dr. Michael Braun ist Korrespondent der taz und Wissenschaftlicher 
Mitarbeiter der 
Friedrich-Ebert-Stiftung, Büro Rom.

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