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01. Aug. 2005

Internationale des schlechten Gewissens

Zum 10. Jahrestag des serbischen Massakers in Srebrenica

Im Abkommen von Dayton wurde die multiethnische Republik Bosnien-Herzegowina zugunsten einer dreigeteilten Konförderation aufgegeben. Damit wurde das ethnische Prinzip zum Fundament des neuen bosnischen Staates gemacht – ein Konstruktionsfehler, an dem das Land bis heute leidet. Er muss, mit Hilfe der EU, beseitigt werden.

Es ist noch früh am Morgen des 11. Juli 2005. Eine endlose Karawane von Autobussen und Privatwagen windet sich über die gebirgigen Straßen von Sarajevo und Tuzla Richtung Srebrenica. Der Weg führt durch das Land der Täter, durch die „serbische Republik“, die als widerstrebender Teilstaat zu Bosnien-Herzegowina gehört. Die „Republika Srpska“ ist ein Produkt des Daytoner Abkommens, mit dem der serbisch-kroatisch-bosnische Krieg beendet wurde, nachdem etwa 300 000 Menschen getötet und fast die Hälfte der Bewohner Bosniens zu Flüchtlingen gemacht wurde.

Es hat einen bitteren Beigeschmack, dass Srebrenica, eine vormals überwiegend muslimisch geprägte Kleinstadt, heute zur „serbischen Entität“ gehört. „Ich gebe heute Srebrenica an das serbische Volk zurück“, proklamierte der Kommandant der bosnisch-serbischen Armee, Radko Mladic, am 11. Juli 1995, als er kampflos in die „UN-Schutzzone“ Srebrenica einmarschierte. Damals hatten etwa 40 000 Bosniaken in Srebrenica Zuflucht gesucht. Sie hofften vergebens auf den Schutz der internationalen Gemeinschaft, die sie tatenlos dem schlimmsten Genozid auslieferte, der seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa stattfand.

Das Abkommen von Dayton ratifizierte die Politik der ethnischen Säuberungen. Die multiethnische Republik Bosnien-Herzegowina wurde zugunsten einer ethnisch dreigeteilten Konföderation aufgegeben, 49 Prozent des Territoriums der Republika Srpska zugeschlagen. So wurde das ethnische Prinzip zum Fundament des neuen bosnischen Staates erkoren – ein Geburtsfehler, an dem das Land bis heute leidet.

An diesem 11. Juli machen sich zehntausende Bosniaken auf nach Srebrenica. Darunter sind die Frauen, deren Männer, Brüder und Väter damals von ihnen getrennt wurden, um sie zu töten. Es dauerte drei Tage, bis etwa 8000 Menschen erschossen und erschlagen waren. Ihre Leichen wurden in anonymen Massengräbern in der Umgebung verscharrt. Frauen und Kinder wurden auf bosniakisches Territorium deportiert. Am 10. Jahrestag des Massakers werden die sterblichen Überreste von 600 Männern, die in mühseliger Kleinarbeit identifiziert wurden, auf dem Gelände der Gedenkstätte beerdigt. 600 Särge in der Farbe des Islams sind am Eingang des Mahnmals aufgestellt. Sie werden später in einer endlosen Reihe über die Köpfe der Menschenmenge von Hand zu Hand bis zu den Gräberfeldern weitergereicht, dazu wird der Name jedes einzelnen verlesen. Die meisten der überlebenden Angehörigen wohnen heute unter armseligen Bedingungen, verfolgt von ihren Albträumen, im muslimisch geprägten Teil Bosniens. Nur einige Hundert sind in ihre zerstörten Häuser zurück-gekehrt. Sie müssen damit rechnen, dass sie den Mördern von damals auf der Straße begegnen. So gehörte der heutige Polizeipräsident der Republik Srpska bei der Eroberung von Srebrenica zum Tross von General Mladic.

Opfer im Land der Täter

Die Straße nach Sarajevo ist gesäumt von Polizisten der „serbischen Republik“ in blauen Uniformen, die Übergriffe auf die anreisenden Bosniaken und die internationalen Gäste verhindern sollen. So viele Polizisten in einem so kleinen Land. Wie viele von ihnen waren an dem Massaker von Srebrenica, an den Massenvergewaltigungen bosnischer Frauen oder an der Quälerei gefangener bosnischer Soldaten in Lagern wie Omarska beteiligt, in denen sich albtraumartige Szenen abspielten? Bis in die jüngste Vergangenheit haben serbische Politiker diese Geschehnisse geleugnet oder heruntergespielt nach dem Muster „Übergriffe hat es auf allen Seiten gegeben“, und bis heute wird in der serbischen Gemeinschaft der Opferstatus kultiviert, nach dem das Serbentum sich in einem heroischen nationalen Verteidigungskampf gegen den Rest der Welt befindet (Handke lässt grüßen).

Wenige Kilometer vor der Gedenkstätte an den Genozid von Srebrenica passieren wir ein hastig errichtetes Denkmal an die serbischen Opfer des Krieges, das am folgenden Tag mit dem Segen der orthodoxen Kirche eingeweiht wurde – eine demonstrative Gegenkundgebung, die der Aufrechnung dient und das serbische kollektive Gedächtnis gegen jedes Schuldgefühl immunisieren soll. Es ist wahr, dass nicht nur die serbischen Milizen Schuld auf sich geladen haben. Vor dem Internationalen Tribunal gegen Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien in Den Haag werden auch Kriegsgräuel verhandelt, die von der kroatischen oder bosniakischen Seite begangen wurden. Aber die Gleichsetzung zwischen „den Kriegsparteien“ des zerfallenden Jugoslawiens war schon damals falsch, und sie ist im Licht der Erkenntnisse des Haager Tribunals nicht richtiger geworden.

Ein Großteil der Serben in Bosnien wie im „Mutterland“ hat sich bisher vor der Erkenntnis gedrückt, das die von serbischen Einheiten begangenen Kriegsverbrechen keine vereinzelten Racheaktionen waren, sondern Teil einer systematischen Strategie der „ethnischen Säuberung“ in den von ihnen eroberten Gebieten. Diese genozidale Logik, die schon 1992, zu Beginn des Krieges, in zahlreichen Massakern sichtbar wurde, erreichte in Srebrenica ihren Höhepunkt. Alle Jungen und Männer im Alter zwischen 12 und 75 Jahren, die den Serben in die Hände fielen, wurden „aus keinem anderen Grund getötet als wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit“, wie das Haager Tribunal in seinem Urteil gegen den serbischen General Kristic formulierte. Der Philosoph und frühere Bürgermeister Belgrads, Bogdan Bogdanovic, spricht von einem „Kollektivverbrechen“. Der völkische Ungeist sei „von allen Seiten“ geschürt worden: „von Kirchenkanzeln herab, aus akademischen Höhen und Lehrstühlen“, bis er dorthin gelangte, „wo sein von Anfang an bestimmtes Hauptziel gewesen war: zu Mladics bewunderten Helden!“

Als vor zwei Jahren das Mahnmal in Srebrenica von Bill Clinton eröffnet wurde, ließ sich kein prominenter serbischer Politiker blicken. Diesmal, zum 10. Jahrestag des Massakers, war das anders. Es war ein historischer Moment, als der serbische Präsident Boris Tadic, umgeben von einer dichtgestaffelten Leibgarde, ein Blumengebinde an dem Denkmal für die Ermordeten niederlegte – schweigend beobachtet von der Menge der Überlebenden. Auch der serbische Vertreter im Staatspräsidium der bosnischen Konföderation sowie hohe Würdenträger der Republika Srpska nahmen an der Gedenkfeier teil. Niemand von ihnen ergriff das Wort, niemand von ihnen legte sich fest. Aber immerhin, sie waren da und stellten sich einer Vergangenheit, die nicht vergehen will.

In Srebrenica war eine internationale Gemeinschaft des schlechten Gewissens versammelt. Der Vertreter der Vereinten Nationen verlas eine Botschaft ihres Generalsekretärs. Kofi Annan bedauerte, dass die UN damals ihrem Schutzversprechen gegenüber den bedrängten Menschen untreu geworden seien, die sich unter ihre Fittiche begeben hatten: „Fehlgeleitet durch zwei der Situation nicht entsprechende Grundsätze, den der Unparteilichkeit und der Vermeidung von Gewaltanwendung“ seien die Opfer ihren Henkern ausgeliefert worden. Auch Jack Straw, britischer Außenminister und höchster Repräsentant der Europäischen Union auf der Gedenkfeier, sprach von „tiefem Bedauern“ über das Versagen der europäischen Regierungen. Staatsminister Hans Martin Bury kam als Vertreter der Bundesregierung spät und ging früh. Dafür waren andere da, die sich schon in der Frühphase des Krieges für eine Intervention des Westens eingesetzt hatten und damals eine verfemte Minderheit in ihren Parteien bildeten: Christian Schwarz-Schilling, der aus Protest gegen die Passivität der damaligen Bundesregierung aus dem Kabinett von Helmut Kohl austrat, Marieluise Beck, Daniel Cohn-Bendit und andere. Sie waren schon am Vortag zu einer internationalen Konferenz der Heinrich-Böll-Stiftung und der grünen Fraktion im Europa-parlament über die Lehren aus Srebrenica und die Zukunft Bosniens nach Sarajevo gekommen.

Alle internationalen Redner der Gedenkveranstaltung empörten sich über den Skandal, dass mit General Ratko Mladic und dem damaligen Präsidenten der bosnischen Serben, Radovan Karadzic, zwei der Hauptkriegsverbrecher auch nach zehn Jahren noch auf freiem Fuß sind. Soweit man hört, werden sie von ihren alten Netzwerken im Militär, der serbisch-nationalistischen Partei und der orthodoxen Kirche geschützt. Allerdings klang die einmütige Forderung, die beiden müssten endlich dem Haager Gerichtshof überstellt werden, reichlich hohl: Es ist schlicht unglaubwürdig, dass es den europäischen und amerikanischen Truppen in der Region über zehn Jahre nicht möglich gewesen sein soll, die beiden Topterroristen zu fassen. Das gilt natürlich auch für die serbische Regierung.

Für dieses gewollte Unvermögen mag es verschiedene Gründe geben. So spottete der Ex-General Jovan Diviak, ein Bosnier serbischer Herkunft, der die militärische Verteidigung Sarajevos gegen die Belagerung durch die serbischen Nationalisten leitete: So lange Karadzic und Mladic noch frei herumliefen, könne man ihnen die Verantwortung für alle möglichen Untaten in die Schuhe schieben. Und wer weiß, wer sich alles davor fürchten muss, dass die beiden vor Gericht auspacken, was sie alles wissen? Vielleicht könnten sie ja auch zur Aufklärung beitragen, weshalb die NATO-Kampfflugzeuge am Morgen des 11. Juli unverrichteter Dinge über Srebrenica abdrehten und weshalb die Oberbefehls-haber der UN-Truppen sich hartnäckig jedem Hilfeersuchen aus der bedrängten „Schutzzone“ verweigerten. Es gibt jedenfalls noch reichlich ungeklärte Fragen, deren Beantwortung Licht in das Dunkel der Mitverantwortung des Westens für die Katastrophe von Srebrenica werfen könnte.

Das Daytoner Abkommen und die darauf beruhende Verfassung haben zwar den Krieg beendet, aber die Zukunft des Landes verstellt. Sie haben den ethnischen Partikularismus und die nationalistischen Parteien gestärkt und den Wiederaufbau eines handlungsfähigen Staates behindert. Stattdessen wuchern Bürokratie und Korruption. Nach wie vor herrscht Misstrauen bis zur offenen Feindseligkeit zwischen den ehemaligen Kriegsparteien.

Bosnien stand in den letzten zehn Jahren als Halbprotektorat unter Kuratel der UN. Dieses Interim soll bis Ende des kommenden Jahres enden, die Verantwortung weitgehend an die bosnischen Institutionen übergehen. Ohne eine Verfassungsreform, ohne eine Korrektur der durch Dayton verfestigten internen Blockade ist aber schwer absehbar, wie das Land aus der andauernden mentalen, politischen und ökonomischen Misere herausfinden soll.

Man kann keine Demokratie aufbauen und die Wunden des Krieges heilen auf der Basis der ethnischen Separation. Dieser Konstruktions-fehler von Dayton muss beseitigt werden. Dafür braucht es Politiker und Parteien in Bosnien, die entschlossen sind, einen neuen Anlauf zum Aufbau einer multiethnischen Republik zu nehmen. Dazu braucht es aber auch der Geburtshilfe der internationalen Gemeinschaft und vor allem der EU, die ein massives Eigeninteresse an einer friedlichen, demokratischen und kooperativen Zukunft auf dem Balkan hat. Sie muss sich endlich dazu aufraffen, eine klare Position zum künftigen Status des Kosovo und zur Reform der staatlichen Strukturen in Bosnien zu beziehen. Die Veränderung des Status quo muss wiederum mit der Perspektive eines EU-Beitritts verknüpft werden. Alles andere verlängert den Zustand organisierter Verantwortungslosigkeit und birgt die Gefahr neuer Gewaltausbrüche.