Insel der Seligen?
Warum deutsche Rechtspopulisten oft scheitern
In Frankreich hat Jean-Marie Le Pen um ein Haar die Präsidentschaftswahlen gewonnen, in Italien, Österreich und Dänemark sitzen Rechtspopulisten in der Regierung, nur Deutschland scheint diesem Trend nicht zu folgen. Der Bonner Politikprofessor Frank Decker weist jedoch nach, dass der relative Misserfolg von Rechtspopulisten und Rechtsextremen in Deutschland auch von zufälligen Faktoren bestimmt wird.
Wennin der Bundesrepublik Deutschland in der Vergangenheit von „Rechtspopulismus“ die Rede war, dann richtete sich der Blick fast immer nach „draußen“. Teils sorgenvoll, teils mitleidig durfte der Beobachter hier zu Lande registrieren, wie sich ein neuartiger Typus von Parteien in den westlichen Demokratien breit machte. Anders jedoch als in den westeuropäischen Demokratien fristeten die Rechtsparteien in der Bundesrepublik Deutschland lange ein Schattendasein. Zwar konnte die neu gegründete Partei der „Republikaner“ unter der Ägide von Franz Schönhuber von 1989 bis 1992 bei Landtags- und Europa-Wahlen einzelne spektakuläre Wahlerfolge erzielen. Von einer dauerhaften Etablierung blieb die Partei aber ebenso weit entfernt wie ihre rechtsextremen Mitkonkurrenten DVU und NPD oder andere Neuerscheinungen, die sich an einer gemäßigteren Version des Rechtspopulismus versuchten (Statt-Partei, Bund Freier Bürger). Die Bundesrepublik schien gegen das Phänomen offenbar immun.
Mit dem Sensationserfolg der „Schill-Partei“ bei der Hamburger Bürgerschaftswahl am 23. September 2001 drohte diese Gewissheit auf einmal zu schwinden. Noch nie zuvor war es einer Partei geglückt, bei einer Landtagswahl aus dem Stand ein so hohes Ergebnis zu erzielen (19,4 Prozent). Die Wahl in Hamburg hat gezeigt, dass unter den besonderen Bedingungen eines Stadtstaats rechtspopulistische Parteien durchaus über gewisse Erfolgschancen verfügen. Diese Bedingungen lassen sich aber auf andere Bundesländer oder die nationale Ebene nicht unbedingt übertragen. Den bundespolitischen Durchbruch hat in Deutschland bisher noch keine Rechtsaußenpartei geschafft. Den einzigen beachtenswerten Erfolg auf Bundesebene erreichten die Republikaner 1989 bei den – vergleichsweise unbedeutenden – Wahlen zum Europäischen Parlament (mit 7,1 Prozent).
Ein Blick auf die europäische Landkarte zeigt, dass es sich bei den rechtspopulistischen Vertretern in der Regel um Neugründungen oder Abspaltungen von bestehenden Parteien handelt. Bei solchen Gruppierungen ist das Risiko groß, dass sie allein aus organisatorischen Gründen scheitern. Mit der österreichischen FPÖ und der Schweizerischen Volkspartei (SVP) gibt es allerdings zwei markante Ausnahmen. Beide Vertreter waren in ihren politischen Systemen alteingesessen1 und wurden erst in den achtziger Jahren unter der Ägide Jörg Haiders bzw. Christoph Blochers zu rechtspopulistischen Parteien transformiert.
Bezogen auf die deutsche Situation ist hier insbesondere der österreichische Fall von Interesse. Auch in Deutschland existiert mit der FDP eine Partei, die traditionell zwischen rechts- und linksliberalen Programminhalten changiert. Im Unterschied zu Österreich, wo die nationalen Wurzeln des Liberalismus stets lebendig blieben und von Haider als Parteiobmann lediglich aktiviert werden mussten, wurden diese Wurzeln in der deutschen FDP jedoch frühzeitig gekappt, so dass die Partei mit ihrem Pendant wenig mehr als den Namen gemeinsam hat.
Umso überraschender war, dass im Bundestagswahljahr 2002 ein neuer Versuch einer Transformation der FDP unternommen wurde, der den Verdacht des Rechtspopulismus nährte – diesmal aus ihrer Mitte heraus. Dabei ging es zum einen um die von Parteichef Guido Westerwelle auf Betreiben seines Stellvertreters Jürgen W. Möllemann durchgesetzte strategische Neuausrichtung der Liberalen, die eine massive Ausweitung der Wählerbasis zum Ziel hatte, zum andern um vermeintlich antisemitische Äußerungen Möllemanns zur Nahost-Politik. Möllemann selbst hatte sich durch seine Äußerungen und eine peinliche Flugblattaktion in der letzten Wahlkampfwoche so sehr isoliert, dass er in der Folge seine Parteiämter verlor und dem drohenden Parteiausschluss durch eigenen Austritt im März 2003 zuvorkam.
Das Scheitern des Rechtspopulismus in Deutschland wirkt erstaunlich, wenn man ihm die Erfolgsbilanz der neuen Rechtsparteien in anderen europäischen Ländern gegenüber stellt. In Italien hat es die „Forza Italia“ des Medienunternehmers Silvio Berlusconi bei den Parlamentswahlen vor zwei Jahren erneut geschafft, im Verein mit Umberto Bossis „Lega Nord“ und Gianfranco Finis „Alleanza Nazionale“ die Mehrheit zu erringen. Dasselbe Kunststück gelang der FPÖ in Österreich, die bei den Nationalratswahlen 1999 mit 26,9 Prozent zur zweitstärksten Partei avancierte und inzwischen wiederum mit der Volkspartei die Regierung stellt.2 Einen ähnlichen Triumph bei den jüngsten Parlamentswahlen erreichten die Rechtspopulisten in Norwegen und Dänemark mit 15 bzw. 12 Prozent. Selbst eine eindeutig rechtsextrem ausgerichtete Partei wie der „Front National“ konnte in Frankreich eineinhalb Jahrzehnte lang stabile Wähleranteile in einer vergleichbaren Größenordnung verbuchen.
Ursachen
Mit einigen Jahren Verzögerung hat die Politikwissenschaft in den neunziger Jahren begonnen, sich mit den rechtspopulistischen Erscheinungen intensiv zu beschäftigen. Dabei besteht Übereinstimmung, dass es sich um ein „multifaktorielles“ Phänomen handelt, das nicht auf eine einzelne Ursache zurückgeführt werden kann. Die in der Literatur angebotenen Erklärungen lassen sich – in zugegebener Vereinfachung – zu vier Ursachenkomplexen zusammenfassen:
–Gesellschaftlicher Wandel. Damit sind langfristige Veränderungen der Sozialstruktur und der Wertvorstellungen gemeint. Die verschiedenen parteibildenden Konflikte können auf zwei Grundtypen reduziert werden, nämlich verteilungs- und wertbezogene Konflikte.
–Institutionelle Rahmenbedingungen des politischen Systems. Hierzu zählen die politischen Traditionen eines Landes (politische Kultur), das Wahlsystem und das Ausmaß an Parteienstaatlichkeit. Die institutionellen Faktoren sind ebenfalls längerfristiger Natur. Sie bestimmen zum einen die Zugangschancen neuer Wettbewerber zum Parteiensystem, zum andern können sie selber ein Adressat des Protests sein (politischer Populismus).
–Politische Gelegenheitsstrukturen. Hier handelt es sich um kurzfristig wirksame situative Faktoren wie die Regierungskonstellation, die inhaltliche Positionierung der etablierten Parteien oder das Verhalten der Medien.
–Die Fähigkeit der rechtspopulistischen Akteure, die sich ihnen bietenden Gelegenheiten zu nutzen. Auch diese Eigenschaft wirkt eher kurzfristig. Sie hängt von den charismatischen Eigenschaften des Parteiführers, der Programmbasis und dem organisatorischen Zusammenhalt der Partei ab.
Wie lässt sich die relative Erfolglosigkeit des Rechtspopulismus in Deutschland im Lichte dieser Faktoren erklären? Eine vergleichsweise geringe Rolle spielen die gesellschaftlichen Voraussetzungen. Die Politikwissenschaft betrachtet den Zulauf der neuen Rechtsparteien als ein Protestphänomen, das auf die desintegrativen Wirkungen der heutigen Modernisierungsprozesse zurückzuführen sei. Anders als der Begriff des „Modernisierungsverlierers“ suggeriert, liegen dem Protest dabei nicht primär materielle Entbehrungen zugrunde. Schenkt man den Wahlanalysen Glauben, befinden sich die rechten Wähler wirtschaftlich keineswegs am untersten Rand der Gesellschaft. Stattdessen rührt ihre Misere aus empfundenen Verlustängsten, dem Gefühl, zu den benachteiligten und abstiegsbedrohten Gruppen zu gehören. Im Kern geht es also um ein tiefer liegendes, soziokulturelles Problem, das mit den Folgen der gesellschaftlichen Individualisierung zu tun hat. Zum Hauptkristallisationspunkt der Angst werden dabei die Fremden.
Ist diese Diagnose richtig, so trifft sie auf Deutschland sicher nicht weniger zu als auf andere westliche Länder, die unter den Folgen der Modernisierungsprozesse leiden. Mit Verweis auf die „Nachfrageseite“ kann man die Schwäche des Rechtspopulismus also kaum erklären. In der ostdeutschen Teilgesellschaft, wo durch die Umstände und das Tempo des Systemwechsels ganze Bevölkerungsschichten in Anomie gefallen sind, dürfte das Potenzial für eine Partei oder Bewegung von rechts sogar überdurchschnittlich hoch sein. Die Virulenz der gesellschaftlichen Faktoren wird auch durch das Ausmaß der rechtsextremen Gewalt belegt, das in Deutschland höher ist als in anderen Ländern.
Der Vergleich innerhalb Europas deutet auf eine Austauschbarkeit beider Protestformen hin. Dort wo die Rechtsparteien stark sind – wie in Dänemark oder Frankreich – verfügen die fremdenfeindlichen Positionen über eine offizielle Stimme, die sich auf die öffentliche Debatte enttabuisierend auswirkt und die Gewaltbereitschaft zu begrenzen scheint. In Deutschland werden sie dagegen unter der Decke gehalten und gerade so in die dumpferen Kanäle der Gewalt und des Sektierertums abgedrängt.
Politische Faktoren
Damit wendet sich der Blick zu den politischen Faktoren. Hier verweist der internationale Vergleich zunächst auf ungünstige institutionelle und politisch-kulturelle Rahmenbedingungen. So sorgt z.B. der Föderalismus dafür, dass die bundesdeutschen Wähler ihrem Unmut nicht unbedingt bei den Bundestagswahlen Luft zu machen brauchen. Stattdessen können sie auf die als unwichtiger empfundenen Landtags- oder Europa-Wahlen ausweichen, deren Korrektivfunktion so über die tatsächliche Stärke der Rechtsparteien hinwegtäuscht. Auch die Fünf-Prozent-Klausel hat die Zugangschancen der neuen Herausforderer zum Parteiensystem beschnitten. Die institutionellen Barrieren sind allerdings eher ein Symptom als der wahre Grund der Mobilisierungsschwäche: Selbst bei niedrigeren Schwellen würden die Newcomer in der deutschen Öffentlichkeit einen schweren Stand haben.
Das eigentliche Problem liegt in der politischen Kultur: Weil der Populismus hier zu Lande in einem historisch vorbelasteten Umfeld agieren muss, entwickeln die Medien ihm gegenüber Berührungsängste, die einen unbefangenen Umgang verbieten und Rechtsparteien der ständigen Gefahr aussetzen, in die Nähe zum Nationalsozialismus gerückt zu werden. Dieses Risiko dürfte auch mit wachsendem zeitlichen Abstand zur Vergangenheit erhalten bleiben.
Ein zweites entscheidendes Erfolgshindernis hängt mit der Stigmatisierung zusammen: die Unfähigkeit der Parteien, sich als politische Kraft zu etablieren. Bezeichnend für die Durchsetzungsschwäche des neuen Populismus ist seine organisatorische Zersplitterung. Während es in anderen Ländern gelungen ist, verschiedene Stränge des populistischen Protests zu einer gemeinsamen Organisation zusammenzuführen, verlaufen diese Stränge in Deutschland in Gestalt mehrerer Parteien nebeneinander, die sich ihre Stimmen dadurch gegenseitig wegnehmen.
Die Uneinigkeit hat sowohl zufällige als auch strukturelle Ursachen. Zu den zufälligen Faktoren gehört das Fehlen einer überzeugenden Führerfigur. Ein Blick auf die Nachbarstaaten zeigt, dass sich Entstehung und Durchbruch des neuen Rechtspopulismus ausnahmslos mit der Leistung einzelner Führungspersönlichkeiten – Bossi, Berlusconi, Fortuyn, Le Pen, Haider – verbinden, deren charismatische Eigenschaften ihren deutschen Gegenstücken offenbar meist abgehen.
Dies verweist auf den anderen, strukturellen Faktor: das Funktionieren der Organisation. Weil sich die charismatischen Erfolgsbedingungen im Laufe der Zeit verbrauchen, droht die Attraktivität populistischer Parteien irgendwann nachzulassen und ihr interner Zusammenhalt zu schwinden. Wie das Beispiel des Front National gezeigt hat, können selbst erfolgreiche Parteien an Rivalitäten und Richtungskämpfen zerbrechen, wenn die Voraussetzungen eines geregelten Konfliktaustrags nicht mehr gegeben sind. Bei den deutschen Rechtsparteien kommt erschwerend hinzu, dass sie eine unwiderstehliche Sogwirkung auf Gruppierungen und subkulturelle Milieus im rechtsextremen Lager ausüben. Selbst gemäßigte Vertreter des Rechtspopulismus sind nicht davor gefeit, durch rechtsextreme Personen und Gruppen unterwandert zu werden, die auf diese Weise aus der politischen Isolierung heraustreten wollen. Auch hier tut der „Schatten Hitlers“ also weiterhin seine Wirkung.
Bleibt als letztes die Frage nach den politischen Gelegenheiten. Hier ist das Bild auf merkwürdige Weise gespalten. Nimmt man allein die Regierungskonstellation, dann hätten sich die Mobilisierungschancen der Rechtsparteien in der Ära Helmut Kohl eigentlich verbessern müssen. Ihr mäßiges Abschneiden scheint also darauf hinzudeuten, dass die von den Herausforderern thematisierten Probleme in der Bundesrepublik entweder keine große Rolle spielten oder von den Altparteien gut abgedeckt wurden.
Der internationale Vergleich zeigt, dass der neue Rechtspopulismus seine Unterstützung vorrangig aus drei Themen bezieht: Parteienherrschaft, Wohlfahrtsstaat und Migration. Den größten Zuspruch verzeichnen dabei diejenigen Parteien, die – wie die österreichische FPÖ – aus allen Themen gleichzeitig Kapital schlagen und sie zu einer dauerhaften Gewinnerformel verbinden. Die deutschen Vertreter des Populismus waren und sind davon weit entfernt.
Auch die mit der Migration verbundenen Probleme sind in Deutschland nicht zu einem permanenten Erfolgsgaranten der neuen Rechtsparteien geworden – anders als in Frankreich, Belgien (Flandern), Norwegen oder Dänemark.3 Obwohl Deutschland im europäischen Vergleich einen der höchsten ausländischen Bevölkerungsanteile aufweist, konnte die offizielle Regierungspolitik lange Zeit auf der Vorstellung – Kritiker würden sagen: Fiktion – beharren, wonach die Bundesrepublik kein Einwanderungsland sei und jeglicher Form des Multikulturalismus eine Absage erteilen. Durch das Festhalten an einem restriktiven Grundverständnis der Integration vergrößerten CDU und CSU während ihrer Regierungszeit zwar das eigentliche Problem. Gerade damit gelang es ihnen aber, das Aufkommen einer ausländerpolitischen Grundsatzdebatte zu verhindern, die den fremdenfeindlichen Kräften womöglich Auftrieb hätte verschaffen können.
Misserfolg Schills
Das sensationelle Wahlergebnis der Schill-Partei bei der Hamburger Bürgerschaftswahl hat gezeigt, dass die Erfolglosigkeit des Rechtspopulismus in Deutschland nicht von Dauer bleiben muss. Die neu gegründete Partei konnte triumphieren, weil sie einen Großteil der zuvor als Restriktionen genannten Bedingungen erfüllte: erstens gab es für sie in Hamburg durch das Kriminalitätsthema eine optimale politische Gelegenheitsstruktur, zweitens war ihr Gründer als früherer Amtsrichter im bürgerlichen Lager salonfähig, so dass man ihn also nicht ohne weiteres als Rechtsextremisten in die Ecke stellen konnte, und drittens verfügte Ronald Schill über genügend Ausstrahlungskraft und populistische Begabung, um die Nähe zum umworbenen Volk herzustellen.
Ihre hochfliegenden Hoffnungen auf eine Bundesausdehnung musste die Partei jedoch bald begraben. Bei der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt im Mai 2002 scheiterte sie an der Fünf-Prozent-Hürde und verpasste so den für eine erfolgreiche Bundestagswahlkampagne dringend benötigten Wiederholungserfolg. Vor diesem Hintergrund erwies sich die Entscheidung, bei der Bundestagswahl im September anzutreten, als fatal. Sie erfolgte gegen den Rat von Schill, dessen Warnungen an der Basis allerdings kein Gehör fanden. Das schwache Wahlergebnis gab dem Parteigründer Recht: Die Schill-Partei fiel mit 0,8Prozent der Zweitstimmen auf das Niveau einer Splitterpartei zurück.4 Schill verlor daraufhin das Interesse an einer weiteren Expansion.
Das Schicksal der „Statt-Partei“ hätte Schill eine Warnung sein müssen. Auch sie hatte die Bundesausdehnung im Überschwang ihres Hamburger Wahlerfolgs viel zu eilig in Angriff genommen und sich damit die Probleme aufgeladen, unter denen dann auch die Schill-Partei litt: Trittbrettfahrer aus dem rechtsextremen Lager, mangelnde Professionalität in der politischen Arbeit und innerparteiliche Streitigkeiten. Letzteres ging soweit, dass Schill der eigenen Partei in aller Öffentlichkeit ein „Querulantenproblem“ attestierte. Das öffentliche Bild der neuen Gruppierung verschlechterte sich dadurch rapide.
Dasselbe gilt für die Wahrnehmung der Regierungsrolle. Die Entzauberung des Politikers Schill wurde beschleunigt durch zahlreiche Pannen und Affären, die der frisch gebackene Innensenator zu Beginn seiner Amtszeit anhäufte – von Filzvorwürfen in der Personalpolitik bis hin zu ihm unterstellten Kontakten ins halbseidene Milieu. Sie erschütterten seinImage als Saubermann gerade unter den bürgerlichen Wählern und trugen dazu bei, dass die eben erst gegründete Partei ihren Kredit (auch bei der Presse) in Rekordzeit verspielte.
Selbst wenn sie ihre Regierungsrolle in der Hansestadt besser ausgefüllt und die organisatorischen Probleme bei der Ausweitung halbwegs in den Griff bekommen hätte, wäre ein bundespolitischer Durchbruch der Schill-Partei im Jahre 2002 einer Sensation gleichgekommen. Der Erfolg in Hamburg basierte auf einer spezifischen örtlichen Situation, die auf andere Länder und den Bund nicht ohne weiteres übertragbar war. Für die monothematische Ausrichtung des Wahlkampfs spielte es gewiss eine Rolle, dass hinter dem Kriminalitätsproblem ein tiefer verwurzeltes Unsicherheits- und Entfremdungsgefühl stand, das die Wähler für die Parolen der Schill-Partei empfänglich machte.
Um über Hamburg hinaus erfolgreich zu sein, hätte Schill die Partei auf eine breitere Grundlage stellen müssen. Dem standen zwei wesentliche Hemmnisse entgegen. Zum einen sorgte die Regierungskonstellation im Bund dafür, dass potenzielle Mobilisierungsthemen wie Arbeitslosigkeit und Zuwanderung in den Händen der regulären Opposition gut aufgehoben waren. Für die rechte Konkurrenz standen sie damit nur begrenzt zur Verfügung. Zum andern mangelte es dem Herausforderer an einem ideologischen Fundus, auf dem ein Themenwahlkampf programmatisch hätte aufbauen können.
FDP auf Rechtskurs?
Die Rede vom elektoralen Niedergang der Sozialdemokratie ist seit Ralf Dahrendorf gängige Münze. Ein nüchterner Blick auf die Zahlen zeigt jedoch, dass sich die Gewichte zwischen den bürgerlichen und sozialdemokratischen Parteien in den letzten Jahrzehnten nur wenig verschoben haben. Betrachtet man den langfristigen Trend, stehen die Sozialdemokraten sogar besser da als ihre christdemokratischen Kontrahenten, deren Stimmenanteile in Ländern wie Belgien, Holland oder Italien seit den fünfziger Jahren praktisch halbiert wurden.
Die eigentlich bemerkenswerten Veränderungen liefen innerhalb des rechten Lagers ab. In dem Maße, in dem die Christdemokraten schwächelten, konnten ihre bürgerlichen Konkurrenten zulegen. In einigen Fällen kam dies insbesondere den liberalen Vertretern zugute, die sich nun konsequenterweise nach rechts ausrichteten. In anderen Fällen profitierte ein neuartiger Parteientyp, der in den meisten europäischen Ländern etwa zeitgleich, nämlich Mitte der achtziger Jahre, entstanden war und in seiner wirtschaftspolitischen Programmatik ebenfalls liberale Züge aufwies: der Rechtspopulismus.
Auch dieser Trend ging an Deutschland scheinbar spurlos vorüber. Anders als in den Nachbarländern blieb die FDP hier im Getto der Einstelligkeit bis zuletzt gefangen. Zwar konnten die Liberalen als Oppositionspartei nach 1998 in der Wählergunst wieder zulegen, doch verdankten sie das in erster Linie einer durch die Parteispendenaffäre ins Straucheln geratenen Union und nicht eigenem Zutun. Vor diesem Hintergrund erhielten diejenigen in der Partei Auftrieb, die der FDP empfahlen, sich durch eine strategische Neupositionierung verstärkt für neue Wählerschichten zu öffnen. Am lautesten vertreten wurde diese Position von Jürgen Möllemann, der als Chef des mitgliederstärksten Landesverbands zugleich stellvertretender Bundesvorsitzender war.
Mit einem konsequent geführten Medienwahlkampf hatte Möllemann im Mai 2000 bei der nordrhein-westfälischen Landtagswahl für seine Partei ein unerwartet gutes Ergebnis eingefahren. Mit diesem Erfolg im Rücken konnte er die Ablösung des ungeliebten Bundesvorsitzenden Wolfgang Gerhardt betreiben und den neuen Parteichef Guido Westerwelle auf das von ihm konzipierte „Projekt 18“ verpflichten, das aus der FDP eine liberale Volkspartei machen sollte. Westerwelle war für die Neuausrichtung empfänglich, wollte diese aber im Wesentlichen auf eine Popularisierung der Wähleransprache begrenzt wissen. Eine programmatische Öffnung nach rechts hatte der Vorsitzende nicht im Sinn; deshalb vermied er es, die Debatte über die ideologischen Implikationen des Projekts 18 innerhalb der Partei zu führen.
Auch Möllemann hielt sich, was diese Implikationen anging, zunächst bedeckt. Der Verdacht, er wolle die Grundachse der Liberalen nach rechts verschieben, kam erst im Frühjahr 2002 auf, als sich die Partei für den bevorstehenden Bundestagswahlkampf rüstete. Möllemann hatte Michel Friedman, Mitglied des Zentralrats der Juden in Deutschland, in mehreren Interviews scharf angegriffen und dabei den Eindruck erweckt, er würde mit antisemitischen Klischees spielen. Kritiker werteten dies als gezielten Versuch, die FDP nach dem Vorbild der österreichischen FPÖ auf einen rechtspopulistischen Kurs zu führen. Sie fühlten sich in diesem Verdacht durch die Person von Möllemanns Wahlkampfberater, Fritz Goergen, bestärkt, der aus Österreich stammte und die Bedingungen von Haiders Aufstieg vor Ort gründlich studiert hatte.
Der Verdacht auf Rechtspopulismus geht freilich aus zwei Gründen an der Sache vorbei. Der erste Grund betrifft die Vorgeschichte der als antisemitisch gebrandmarkten Interviewäußerungen, denen eine massive Kritik Möllemanns an der israelischen Besatzungspolitik in Palästina vorausgegangen war, auf die sich die Reaktion Friedmans bezog. Möllemann war in dieser Angelegenheit ein Überzeugungstäter, der aus seinem proarabischen Standpunkt in der Nahost-Frage nie einen Hehl gemacht hatte. Die Attacken auf Friedman entsprangen insofern nicht einer langfristig vorgeplanten politischen Strategie, sondern hatten eher spontanen Charakter und waren ein Produkt des kolloquialen Redestils Möllemanns. Der zweite Grund bezieht sich auf die mit den inkriminierten Aussagen angeblich verbundenen Absichten: Wenn Möllemann tatsächlich eine rechtspopulistische Kursänderung der FDP verfolgt hätte, war der Antisemitismus dafür das denkbar ungeeignetste Thema. Populisten müssen, wenn sie in der Bundesrepublik Erfolg haben wollen, einer Stigmatisierung als rechtsextrem unter allen Umständen entgehen.
Eine Erfolg versprechende rechtspopulistische Strategie hätte neben einer konsequenten Anti-Establishment-Orientierung vor allem die Thematisierung des Zuwanderungsproblems erfordert, das in anderen Ländern längst zum wichtigsten Mobilisierungsthema der Rechtsaußenparteien avanciert ist. Für beides waren die Chancen in der FDP von Anfang an gering. Eine Anti-Establishment-Orientierung würde die notorische Regierungspartei FDP ihrem Wählerpublikum glaubwürdig nicht vermitteln können. Und für eine restriktive Politik in Sachen Einwanderung und Multikulturalismus gibt es innerhalb der Liberalen (auch bei Möllemann) keine ideologische Basis mehr, nachdem die Partei ihre nationalen Traditionen, die in den fünfziger Jahren noch eine wichtige Rolle spielten, weitgehend abgeschüttelt hat. Das ruhmlose Ende des „Projekts 18“ hat gezeigt, dass es in einer durch und durch bürgerlichen Partei wie der FDP, die zum Teil immer noch Züge einer Honoratiorenpartei trägt, nicht einmal möglich war, die Basis für eine gebremste populistische Strategie der Wähleransprache zu erwärmen. Insofern kam es für die Parteiführung um Guido Westerwelle gewiss nicht ungelegen, dass sie die Schuld am schwachen Bundestagswahlergebnis ganz auf Möllemann abladen konnte.
Falls Möllemann eine neue Partei ins Leben ruft, so wird diese Partei mit denselben organisatorischen Problemen zu kämpfen haben wie alle Neugründungsversuche vor ihr. Was seine Fähigkeit zur populistischen Wähleransprache angeht, ist Möllemann der Konkurrenz hier zu Lande zweifellos weit voraus. Eine neue Partei würde es ihm zudem erleichtern, eine Anti-Establishment-Strategie zu verfolgen, was in der bürgerlichen FDP – wie gesehen – nicht gelingen konnte (und darum auch nicht ernsthaft versucht wurde).
Ob es darüber hinaus thematische Gelegenheiten für eine „Möllemann-Partei“ geben würde, bleibt allerdings die Frage. Eine weitere liberale Partei neben der FDP macht wenig Sinn und könnte diese wohl kaum verdrängen. Eine rechtspopulistisch ausgerichtete Gruppierung stünde wiederum vor dem Problem, dass sie ihre restriktiven Positionen in Konkurrenz zur CDU/CSU vertreten müsste, die bisher noch alle Übergriffe von rechts erfolgreich abgewehrt hat.
Perspektiven
Ganz oben auf der Liste der potenziellen Mobilisierungsthemen des Populismus steht auch in der Bundesrepublik die Migration. Die bitteren Erfahrungen vergangener Wahlkämpfe haben die SPD gelehrt, dieses Thema als Regierungspartei mit äußerster Vorsicht zu behandeln. Um die Zustimmung der Union zum geplanten Zuwanderungsgesetz zu erreichen, war sie deshalb in der letzten Legislaturperiode zu weit reichenden Zugeständnissen bereit. Dass sich die christlichen Parteien einem Kompromiss am Ende verweigert haben, mag ihre Integrationsfähigkeit nach rechts einstweilen verbessern. Auf lange Sicht werden CDU und CSU jedoch nicht umhin kommen, sich auf die Realität einer faktischen Einwanderungsgesellschaft einzulassen und an deren Gestaltung konstruktiv mitzuwirken.
In der innenpolitischen Debatte ist zu Recht auf die weitgehenden Übereinstimmungen hingewiesen worden, die zwischen der Regierungsvorlage und dem Papier der so genannten Müller-Kommission bestehen, in dem die CDU ihre Vorstellungen von einer modernen Zuwanderungspolitik formuliert hat. Dass die Union hinter die dort gefundenen Einsichten wieder zurückfällt, ist angesichts des vorhandenen Problemdrucks in dieser Frage nur schwer vorstellbar. Gerade damit würde sie aber der rechten Konkurrenz ein Feld überlassen, das sich für die populistische Stimmungsmache wie kein anderes eignet.5
Ein nüchterner Blick auf die Nachbarstaaten zeigt, dass der Rechtspopulismus dort mittlerweile zur Grundausstattung der politischen Systeme gehört; in ihm offenbart der Parteienwettbewerb seine hässliche Kehrseite. Eine rechtspopulistische Kraft auf der nationalen Ebene würde die Bundesrepublik also lediglich der europäischen Normallage annähern. Wenn sie das Organisationsproblem löst und ihr eine überzeugende Führerfigur zuwächst, wäre es auch hier zu Lande denkbar, dass eine solche Partei Fuß fasst und mehr als nur singuläre Erfolge erzielt. Die Wahrscheinlichkeit, dass dieser Fall eintritt, mag zurzeit noch gering sein; dennoch sollte man sich rechtzeitig auf ihn einstellen.
Anmerkungen
1 Die FPÖ wurde als Nachfolgeorganisation des Verbands der Unabhängigen (VdÜ) im Jahre 1956 gegründet, die SVP war nach dem Ersten Weltkrieg als Abspaltung von der FdP entstanden.
2 Vgl. hierzu im Einzelnen den Beitrag von Charles E. Ritterband, S.23–28.
3 Vgl. hierzu den Beitrag von Steffen Angenendt, S. 3–12.
4 In ihrem „Stammland“ Hamburg konnte die Partei bei der Bundestagswahl 2002 nur noch 4,2Prozent der Stimmen erzielen, was gegenüber ihrem Bürgerschaftswahlergebnis einen Rückgang um 78,4 Prozent (!) bedeutete.
5 Dass auch Unionspolitiker die Brisanz des Zuwanderungsthemas bisweilen verkennen, lässt sich beispielhaft an den jüngsten integrationspolitischen Vorstößen der nordrhein-westfälischen CDU ablesen. Deren Vorsitzender Jürgen Rüttgers hatte im Februar 2003 den an sich bedenkenswerten Vorschlag gemacht, die Quote der ausländischen Kinder in den Schulklassen künftig zu regulieren. In der Praxis würde das bedeuten, dass die ausländischen Kinder mit dem Bus hin- und hergefahren werden müssten, um sie auf die Schulen gerecht zu verteilen. Ob Rüttgers sich über die Tragweite seines Vorschlags im Klaren war, ist fraglich. Es ist kaum anzunehmen, dass eine künstliche Erhöhung des ausländischen Schüleranteils in den besser situierten Wohngebieten von der dortigen deutschen Mehrheitsbevölkerung widerspruchslos hingenommen würde. In den USA, wo das „busing“ in den sechziger Jahren erfunden wurde, rief die erzwungene Integration den geballten Protest der betroffenen Eltern hervor. Damit wurde sie zu einem Geburtshelfer der so genannten Neuen Rechten, die sich fortan innerhalb der Republikanischen Partei formierte und die spätere Gegenrevolution der Reagan-Ära vorwegnahm.
Internationale Politik 4, April 2003, S. 13 - 22