Im milden Kurdistan
Die nordirakische Provinz ist stabil – und ein interessanter Wirtschaftspartner
Eine lupenreine Demokratie ist die autonome Region Kurdistan-Irak noch nicht. Dennoch: Die Zeit der Kriege und Konflikte scheint vorbei; die Provinz ist relativ stabil, zu verzeichnen ist ein stetiger Prozess der Demokratisierung und des wirtschaftlichen Aufschwungs – nicht zuletzt dank der Türkei. Jetzt sollte sich auch Europa engagieren.
Wer an den Irak denkt, hat Bilder von Krieg und Terror vor Augen. Aber tatsächlich fand der letzte größere Anschlag in der autonomen Region Kurdistan-Irak im Norden des Landes im März 2008 statt. In deren Hauptstadt Erbil hat sich das Alltagsleben für die über eine Million Einwohner weitgehend normalisiert. Es werden neue Straßen, Tunnel, Brücken, Hotels, Restaurants, Shoppingcenter und Wohnsiedlungen gebaut – zumeist von türkischen Unternehmen. Gerade wurde ein moderner internationaler Flughafen in Betrieb genommen: Dank Air Berlin und Lufthansa ist Erbil aus Deutschland in gerade einmal viereinhalb Stunden zu erreichen.
Dennoch sind deutsche Firmen nur wenig präsent. Bis auf wenige Ausnahmen hat die deutsche und europäische Wirtschaft den kurdischen Norden des Irak noch nicht entdeckt. Aus Sicherheitsgründen untersagen große Unternehmen ihren Mitarbeitern oft grundsätzlich Reisen in den Nordirak. Sie scheuen Kosten für Wachdienste und Eskorten, die längst nicht mehr benötigt werden – und überlassen so den sich rasant entwickelnden Markt den Türken und Asiaten.
Diese Unkenntnis der tatsächlichen Lage im Land gefährdet die wirtschaftliche Kooperation mit Kurdistan. So machte der kurdische Premierminister im Februar 2011 zwar großen Eindruck auf die Teilnehmer des Weltwirtschaftsforums in Davos, woraufhin spontan und enthusiastisch eine hochrangige Konferenz in Erbil angekündigt wurde. Doch aufgrund der Sicherheitsstatuten wurde diese gleich wieder auf unbestimmte Zeit verschoben. Solche Reaktionen mögen angesichts der bewegten Geschichte der Kurden und des erst wenige Jahre zurückliegenden Irak-Kriegs verständlich sein. Doch sie verkennen den Stabilitätsgewinn des Nordirak, der dem kurdischen Volk erstmals in seiner Geschichte die Chance auf Eigenständigkeit bietet.
Leidvolle Lehren aus dem Genozid
Wenige Völker auf der Welt haben so unter Kriegen, Vertreibungen und Teilungen gelitten wie die Kurden. Ihre mit Bodenschätzen gesegnete Region hat stets Begehrlichkeiten der Nachbarn geweckt. Nach Ende des Ersten Weltkriegs wurde das Volk gegen seinen Willen auf die Türkei, Syrien, den Iran und Irak aufgeteilt. In den achtziger Jahren wurde dieses Territorium Schauplatz des Krieges zwischen dem Iran und Irak. Die Kurden suchten ihr Heil gegen Bagdads Armee und die Unterdrückung durch Saddam Hussein im Guerillakrieg. In der so genannten Anfal-Operation 1987/88 zerstörten Saddams Truppen unter systematischem Einsatz von Giftgas hunderte kurdischer Ortschaften, etwa 180 000 Menschen wurden verschleppt oder getötet. Am 16. März 1988 wurde die kurdische Stadt Halabdscha von irakischen Bombern mit chemischen Waffen angegriffen, 5000 Menschen starben einen qualvollen Tod, Zehntausende wurden verletzt, Frauen vergewaltigt oder in afrikanische Bordelle verschleppt. Die gewachsenen dörflichen Strukturen wurden zerschlagen, die Landwirtschaft zerstört.
Das an fruchtbaren Feldern, Wäldern, Flüssen und Seen reiche Land hat sich bis heute nicht davon erholt. Kaum verwunderlich also, dass die Kurden den Einmarsch der Amerikaner und ihrer Verbündeten in Bagdad bis heute als Befreiung empfinden. Es ist ein verbreiteter Irrtum, dass vor der Intervention Frieden im Irak geherrscht habe. Und wer heute allzu leichtfertig Saddams Pläne mit Massenvernichtungswaffen als US-Propaganda abtut, sollte nicht vergessen, dass dieser sie ohne Skrupel bereits gegen die eigene Bevölkerung eingesetzt hatte.
Die Aufarbeitung und Dokumentation des Leidens der Kurden beginnt erst langsam. Die als „kurdischer Holocaust“ empfundene, brutale ethnische Säuberung durch Saddam Hussein hat eine enorme Bedeutung für die Identitätsbildung und den Selbstbehauptungswillen der Kurden. Als eine der aus den damaligen Gräueltaten gezogenen Konsequenzen hat sich Erbil durch die neue irakische Verfassung den Unterhalt einer kurdischen Armee, der Peschmerga, garantieren lassen.
Diese hervorragend ausgebildete und jederzeit kampffähige Truppe besteht aus 180 000 Mann – bei gerade einmal vier Millionen Einwohnern der Region Kurdistan-Irak. Darüber hinaus verfügen die meisten Kurden über Waffen, die daheim im Schrank gelagert bei einer eventuellen Bedrohung schnell einsetzbar sind. Sollte es zum Konflikt kommen, lassen sich die kurdischen Milizen schnell aufstocken. Die Botschaft ist klar: Halabdscha darf sich niemals wiederholen.
Aufbauleistung mit Modellcharakter
Die neue Verfassung des befreiten Irak billigt den Kurden weitgehende Autonomie zu. Unter Führung des Regionalpräsidenten Masud Barsani, dem Sohn des legendären Kurdenführers Mustafa Barsani, schöpft die kurdische Regierung die Möglichkeiten dieser Autonomie fast bis zur eigenen Staatlichkeit aus, ohne sich illoyal gegenüber der irakischen Zentralregierung zu verhalten. Im Gegenteil: Auf dem Parteitag der Kurdisch-Demokratischen Partei (KDP) am 11. Dezember 2010 in Erbil war die gesamte sunnitische und schiitische Führung des Irak vertreten – von Nuri al-Maliki über Iyad Alawi bis zu Amar al-Hakim. Dies beweist, wie viel Respekt den Kurden für ihre Aufbauleistung entgegengebracht wird. Deutlich wurde auch die Hoffnung, dass sich die hier gewonnene Sicherheit und Dynamik früher oder später auf das ganze Land übertragen. Selbst der amerikanische Generalkonsul in Erbil befand, dass die Kurden in dieser Zeit „die besten Iraki“ seien.
Trotz allen Fortschritts ist die Liste der wünschenswerten Reformen noch immer lang: Gewaltenteilung, Gleichberechtigung der Frauen, Pressefreiheit, Korruptionsbekämpfung. So hat sich in Suleymania, der zweitgrößten Stadt der kurdischen Region, eine Oppositionsbewegung (Goran) gebildet, die bei den letzten Wahlen zum kurdischen Regionalparlament immerhin 25 von 100 Mandaten gewann. Goran opponiert vor allem gegen den starken Mann in Suleymania, Dschalal Talabani, Vorsitzender der Partei Unabhängiges Kurdistan (PUK) und gleichzeitig Präsident des Gesamtirak. Die Opposition nutzt die Zeit des Aufruhrs in der arabischen Welt, um auch in Kurdistan zu demonstrieren.
Der Unmut des Volkes richtet sich hier jedoch vor allem gegen konkrete Alltagsnöte, etwa die teilweise noch immer schlechte Energie- und Wasserversorgung sowie die mangelnden Bildungs- und Berufschancen. So bestätigen die Demonstrationen das Gesamtbild eher als es zu trüben: Im kurdischen Nordirak herrscht ein relativ hohes Maß an Stabilität und Freiheit. Es ist noch lange keine Westminster-Demokratie, die patriarchalischen Strukturen und Clans sind noch immer sehr stark, aber sie öffnen sich behutsam Reformen. Der eklatante Unterschied zu den Nachbarn liegt vor allem darin, dass die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen von internationalen Beobachtern als demokratisch anerkannt wurden.
Mehr als Autonomie?
Trotz der im Ganzen positiven Entwicklungen im Norden bleibt die Architektur des irakischen Staates auf absehbare Zeit volatil und beschränkt somit die Handlungsfreiheit der kurdischen Regionalregierung. Darf Erbil eigenständig und ohne Zustimmung Bagdads über die eigenen Bodenschätze, insbesondere die reichen Öl- und Gasvorkommen, verfügen? Darf Kurdistan Bohrlizenzen an internationale Gas- oder Ölfirmen vergeben? In diesen zentralen Fragen zeichnet sich seit Jahresbeginn ein Kompromiss ab. Dennoch werden Unternehmen, die sich in Erbil um Lizenzen bewerben, bestraft: In Bagdad oder Basra haben sie dann kaum eine Chance.
Auch weitere grundsätzliche Fragen sind noch ungeklärt: Werden die Peschmerga langfristig loyal zum irakischen Staat stehen oder sich unter Umständen zu einem Kristallisationspunkt gesamtkurdischer Unabhängigkeitsbestrebungen entwickeln? Könnte gerade der sichtbare Erfolg der kurdischen Regionalregierung unter den Barsanis großkurdische Träume dies- und jenseits der irakischen Grenzen hervorrufen? Alle kurdischen Führer in Erbil bestreiten solche Ziele entschieden. Kurdistan entwickele sich im Rahmen der bestehenden Verhältnisse gut, man habe als „zweite irakische Nation“ Gewicht in Bagdad und respektiere den Wunsch der internationalen Staatengemeinschaft bezüglich der Integrität des Irak in den bestehenden Grenzen. Ohne Zweifel weiß die Führung in Erbil, dass großkurdische Vereinigungspläne nicht nur alle Nachbarn auf den Plan rufen, sondern auch die Aufbauleistung der vergangenen Jahre gefährden würde. Inzwischen sind sich auch Barsani und sein früherer kurdischer Gegenspieler Talabani über die wesentlichen Ziele für die Region einig: Ausgleich mit den Nachbarn, Loyalität gegenüber Bagdad und eine enge Bindung an die Türkei, Europa und die USA.
So weit die Theorie. Im kurdischen Siedlungsgebiet, aber außerhalb der Region Kurdistan-Irak, liegen die Städte Mosul, eine Hochburg Al-Kaidas, und Ninive, die historische Geburtsstätte des kurdischen Volkes. Auch auf die Stadt Kirkuk, das Herz Kurdistans, wird kein kurdischer Führer je verzichten, nicht nur wegen der umliegenden Ölfelder. Mittlerweile sind viele der von Saddam Hussein vertriebenen Kurden hierher zurückgekehrt. Sie berufen sich auf die irakische Verfassung, die seit 2007 eine Volkszählung für die von unterschiedlichen Volksgruppen bewohnte Stadt vorsieht und an deren Ausgang zugunsten einer kurdischen Mehrheit aus Sicht Erbils kein Zweifel besteht. Aus Sorge, dass das Ergebnis zu einer Eskalation der ohne Zweifel bestehenden Spannungen zwischen den Volksgruppen führen könnte, wurde die Volkszählung bis heute nicht durchgeführt. Auf dem Parteitag der KDP Ende 2010 versprach Barsani ein multiethnisches Kirkuk unter kurdischer Verwaltung. Er behandelt das Thema sensibel und ist sich der potenziellen Gefahr, die sich aus ethnischen Konflikten zwischen Kurden, Arabern und Turkmenen für die gerade gewonnene Stabilität der Region ergeben könnte, durchaus bewusst. Die beste Lösung für alle Seiten wäre wohl, wenn die sich aus dem Irak zurückziehenden Amerikaner bis auf Weiteres wenigstens hier präsent blieben.
Die Türkei handelt, Europa zögert
Eine dauerhafte Stabilität der Region liegt im Interesse der internationalen Staatengemeinschaft. Bisher zeigt jedoch lediglich die Türkei ernst zu nehmendes Engagement in Kurdistan. Die beiden Regierungen pflegen gute, fast herzliche Beziehungen, die Innenminister tauschen sich regelmäßig aus. Gemeinsame Terrorismusbekämpfung steht dabei ebenso im Vordergrund wie wirtschaftliche Investitionen. Die Türkei entwickelt sich mehr und mehr zu einem guten Hegemon für die Kurden. Ankara hat erkannt, dass Erbil keine großkurdischen Ambitionen hegt und dass es für die Türkei das Klügste ist, mit der kurdischen Regionalregierung in Frieden zu leben. Die seit langem verfolgte Strategie der Aussöhnung des türkischen Außenministers Ahmet Davutoglu scheint aufzugehen. Überall in der Region wächst der türkische Einfluss, er wird aber kaum noch als Bedrohung wahrgenommen.
Am 29. März 2011 besuchte der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan die Stadt Erbil. Gemeinsam mit Masud Barsani eröffnete er den neuen internationalen Flughafen von Erbil. Gleichzeitig wurde eine Abschaffung der Visumpflicht zwischen der Türkei und Kurdistan-Irak vereinbart.
Nun wäre es an der Europäischen Union und damit auch an Deutschland, der kurdischen Aufbauleistung im Nordirak vermehrt Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. Zwar gibt es in Erbil inzwischen einen deutschen Generalkonsul, ein deutsch-irakisches Wirtschaftsbüro und eine deutsche Schule. Die europäische Politik und Wirtschaft sollten jedoch mehr Interesse zeigen, die vielversprechenden Ansätze der Region konstruktiv begleiten und den Ausbau der kurdischen Demokratie aktiv unterstützen.
Im Nordirak leben ca. 120 000 Christen. In Ainkawa, dem Geschäftsviertel von Erbil, stehen christliche Kirchen stolz neben Moscheen. Das offenkundig funktionierende Zusammenleben unterschiedlicher Religionen in einem mehrheitlich von Muslimen bewohnten Staat könnte als Modell für andere islamisch geprägte Regionen dienen. In Europa werden alle diese enormen Leistungen bisher kaum wahrgenommen. Wohl sind die Errungenschaften der letzten Jahre noch fragil. Mit einer partnerschaftlichen Unterstützung aus Deutschland und Europa könnten sie jedoch der Ausgangspunkt für eine Befriedung des gesamten Irak werden.
Prof. Dr. FRIEDBERT PFLÜGER ist Direktor des EUCERS am King’s College London sowie Mitinhaber der KGE Business Alliances GmbH in Berlin/Erbil.
Internationale Politik 3, April 2011, S. 112-116