Internationale Presse

01. Juli 2012

Helden, Legenden, Feindbilder

Polen diskutiert über Russland, über Filme – und über die Vergangenheit

Es ist eine Begegnung zweier polnischen Legenden: Oscarpreisträger Andrzej Wajda dreht einen Film über Friedensnobelpreisträger Lech Wałesa. Anfang Juni wurden die Dreharbeiten abgeschlossen, schon Ende des Jahres soll der Film in die polnischen Kinos kommen.

Bei dem Projekt handelt es sich nicht um die erste Begegnung der beiden Legenden am Filmset. 1981 trat Wałesa in Wajdas „Der Mann aus Eisen“ auf, einem Spielfilm über die antikommunistische Opposition, der im selben Jahr in Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeichnet wurde. Unmittelbar nach Ausbruch der Streiks in der Danziger Werft im August 1980 war Wajda mit anderen Künstlern und Intellektuellen wie Tadeusz Mazowiecki und Bronisław Geremek nach Danzig gereist, um die streikenden Arbeiter in ihrem Kampf um mehr Freiheit im Sowjetblock zu unterstützen. Aus diesem Bündnis von Arbeitern, Künstlern und Intellektuellen erwuchs die Gewerkschaftsbewegung Solidarnos´c´. Ihre Geburt leitete den Prozess des Zusammenbruchs des Sowjetimperiums ein.

Filme als Erinnerungsorte

Polens Medien begleiten Wajdas Filmprojekt seit Monaten. Alle renommierten Zeitungen haben Berichte vom Filmset sowie Interviews mit Wajda und dem Drehbuchautor Janusz Głowacki, einem in New York und Warschau lebenden Schriftsteller, veröffentlicht. Es gibt viele Gründe für das große mediale Interesse: Wajdas in den vergangenen 50 Jahren gedrehten Filme wie „Asche und Diamant“, „Der Kanal“, „Der Mann aus Marmor“, „Danton“ oder „Korczak“ bilden nicht nur ein Panorama polnischer (und europäischer) Geschichte, sie schaffen auch Projektionsflächen für die kollektive Identität der Polen. Wie kaum einem anderen Künstler ist es Wajda gelungen, Widersprüchliches zu verbinden: eine kritische, mythenzerstörende Sicht auf die Geschichte einzunehmen und gleichzeitig mit seinen Filmen Erinnerungs-orte zu schaffen, die über die politischen Gräben hinweg die Nation zusammenführen.

All diese Qualitäten vereint der Regisseur perfekt in seinem jüngsten Film „Katyn“. Wajda verarbeitet in diesem Film den Stalinschen Massenmord an Tausenden polnischen Offizieren im Frühjahr 1940. Er wollte den Opfern, unter ihnen sein Vater, ein filmisches Denkmal setzen und dabei vor allem außerhalb Polens Grenzen an dieses Verbrechen erinnern. Dabei vermittelt sein Film ein differenziertes Geschichtsbild, in dem Russen nicht nur als Täter, sondern auch als Opfer auftreten – ein Film, der zur Aussöhnung zwischen Polen und Russen beitragen will.

Ein weiterer Grund für das rege Interesse der polnischen Medien an dem Wałesa-Projekt hängt damit zusammen, dass Polens Eliten in wachsendem Maße darüber besorgt sind, dass der Freiheitskampf der Solidarnosc und der Runde Tisch 1989 in Warschau aus dem Gedächtnis vieler Europäer verschwunden sind und der Zusammenbruch des Sowjetblocks lediglich mit dem Fall der Berliner Mauer assoziiert wird. In der Massenkultur, vor allem im Medium Film, sehen viele Polen die Chance, internationales Interesse für Polens Rolle in der europäischen Geschichte zu wecken.

Wajdas Filmprojekt stößt auch noch aus einem anderen Grund auf besondere Aufmerksamkeit östlich der Oder: Wałesas Ehefrau Danuta steht seit Dezember vergangenen Jahres im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses in Polen. Kurz vor Weihnachten erschienen ihre Memoiren „Träume und Geheimnisse“. Kaum jemand rechnete damit, dass das Buch auf großes Interesse stoßen würde. Doch Danuta Wałesas Erinnerungen wurden zu einem Megabestseller. Über 300 000 Exemplare wurden innerhalb weniger Wochen verkauft.

Der Erfolg des Buches ist beachtlich, denn es enthält keine wirklichen Sensationen. Es ist eine Beschreibung polnischer Zeitgeschichte aus der Perspektive einer Frau, die acht Kinder in schwierigen Zeiten aufgezogen hat, einer Frau, die jede Entscheidung ihres Mannes mitgetragen hat und mit dem Verlust familiärer Intimität einen hohen Preis für das politische Engagement Lech Wałesas bezahlt hat. Das Buch hat viele Polen berührt. Die Danziger Tageszeitung Dziennik Baltycki hat Danuta Wałesa Ende Mai 2012 zur „Persönlichkeit des Jahres 2011“ gewählt, die renommierte Krakauer Wochenzeitung Tygodnik Powszechny hat sie Ende Mai 2012 mit ihrer Medaille des Heiligen Georg ausgezeichnet und damit in den Rang einer gesellschaftlichen Autorität erhoben (Tygodnik Powszechny, 27. Mai).

Tiefe Gräben

Hat Wajdas „Katyn“-Epos dazu beigetragen, die polnische Gesellschaft zu einen, so wird sein „Wałesa“-Projekt wohl eher polarisieren und Proteste vor allem der nationalen Rechten mobilisieren, denn für das Lager der Kaczynski-Partei PiS ist Wałesa eine Reizfigur. Viele Deutsche sehen in Wałesa auch heute noch einen katholischen Traditionalisten mit Marienbild am Sakko, einen zum autoritären Führungsstil neigenden, populistischen Politiker. Sie übersehen dabei, welch weiten Weg Wałesa gerade im vergangenen Jahrzehnt gegangen ist. Er hat massiv die Politik der Polarisierung unter den Kaczynskis kritisiert, den nationalistischen Katholizismus des Senders Radio Maryja bekämpft und hat im Laufe seiner ausgedehnten Reisen beträchtlich an staatsmännischem Profil gewonnen.

Das nationalistische Lager bekämpft Wałesa vor allem mit dem Vorwurf, in den siebziger Jahren mit dem kommunistischen Regime zusammengearbeitet zu haben. Seriöse polnische Historiker wie Andrzej Friszke und führende Solidarnosc-Vertreter wie Bogdan Borusewicz, Zbigniew Bujak oder Władysław Frasyniuk betrachten diese These als Verzerrung der Geschichte oder gar als eine Art Rufmord, doch das hindert nationalkonservative Publizisten und Historiker nicht daran, die Lesart von der Nähe Wałesas zur Geheimpolizei aufrechtzuerhalten.

Die PiS-nahe Wochenzeitung Uwazam Rze (14. Mai) wirft Wajda vor, mit seinem Film Geschichtsfälschung zu betreiben. Das Werk trage Züge einer Hagiografie; bedeutende Persönlichkeiten der Solidarnosc-Geschichte wie Anna Walentynowicz seien von Wajda und seinem Drehbuchautor zu Randfiguren degradiert worden. Wajda selbst habe, so der Vorwurf, während des Kommunismus mit dem Regime zusammengearbeitet und zeige daher allzu großes Verständnis für die „Schattenseiten“ in der Biografie Wałesas. Der Beitrag zeigt, wie polarisiert das politische und kulturelle Klima in Polen ist und wie tief der Graben ist, der zwischen dem Lager von Tusks Bürgerplattform und Kaczynskis PiS klafft.

Kultur des Hasses

Die negative Entwicklung des politischen Klimas in Polen schildert der ehemalige Solidarnosc-Aktivist Jan Litynski in der Tageszeitung Gazeta Wyborcza (9.–10. Juni). Die Lehren von Johannes Paul II. und die Kultur des Dialogs der Solidarnosc hätten zwar, so Litynski, die Grundlage für eine neue politische Kultur der Zusammenarbeit und der Empathie geschaffen, doch leider habe sich in Polen in den vergangenen Jahren eine Kultur des Hasses, gegenseitiger Vorwürfe und des hemmungslosen politischen Kampfes etabliert.

Waren es früher Themen wie Lustration – die Überprüfung von Personen des öffentlichen Lebens auf Zusammenarbeit mit dem kommunistischen Geheimdienst – oder Privatisierung, die die Gräben sichtbar gemacht hätten, so seien diese in den vergangenen zwei Jahren zusätzlich durch den Flugzeugabsturz von Smolensk vertieft worden.

Der Fanatismus lehne die demokratische Kultur ab, schreibt Litynski weiter, er zeichne ein schwarz-weißes Bild und wecke Leidenschaften, während die Demokratie grau sei und kühl. Fanatische Ideologen verstünden sich als Hüter des nationalen Stolzes, des Glaubens und der Wahrheit.

In seiner in der liberalen Wochenzeitung Wprost veröffentlichten Kolumne (11. Juni) beschäftigt sich Lech Wałesa mit der politischen Instrumentalisierung der Smolensker Katastrophe durch die PiS. Ein Teil der PiS-Anhängerschaft neigt zu der These, das Flugzeugunglück vom 10. April 2010, bei dem neben anderen Präsident Lech Kaczyn´ski ums Leben gekommen ist, sei ein von Moskau initiierter Anschlag gewesen.

Wałesa widerspricht dieser Verschwörungstheorie entschieden und wirft den PiS-Spitzenpolitikern vor, dass ihr Weltbild offenbar nicht ohne  äußeren Feind auskomme. Die Warnungen vor angeblichen Einflüssen Russlands und die Dämonisierung russischer Politik dienten der Rechten dazu, ihre aggressive Innenpolitik zu legitimieren, so Wałesa. Und das, obgleich die jüngsten Proteste russischer Bürger aus Sicht Wałesas durchaus die Hoffnung nähren, dass ein Prozess des Wandels in der Russischen Föderation eingeläutet wird.

Neue russische Revolution?

Mit den Chancen eines grundlegenden Wandels in Russland und, daran anknüpfend, mit der Frage, wie es um das polnische Russland-Bild bestellt ist, haben sich in den vergangenen Wochen viele Printmedien beschäftigt. In den Wochenzeitungen Przekroj (11. Juni) und Przeglad (10. Juni) erschienen parallel Gespräche mit Wiktor Jerofiejew, einem russischen Schriftsteller, der fließend Polnisch spricht.

Darin kritisiert Jerofiejew die polnische Tendenz, die eigene Verbundenheit mit dem Westen durch die strikte Abgrenzung von Russland zu definieren, und gleichzeitig zeichnet er ein kritisches Bild des Zustands des russischen Staates. Die Moskauer Machthaber wollten keinen Dialog mit den kritischen gesellschaftlichen Stimmen, wollten keine Schwäche zeigen. Das politische Klima in Russland radikalisiere sich und entwickle sich in Richtung einer Revolution. Diese Radikalisierung könne gar in einen neuen Bolschewismus münden.

Die meisten polnischen Medien neigen aber eher zu einer zurückhaltenden Analyse der Entwicklung in Russland, sie sehen in den Protesten gegen Wladimir Putin eher den Beginn einer langfristigen politischen Evolution denn eine nahende Revolution. So warnt die polnische Politologin Jadwiga Rogoz˙a in der englischsprachigen polnischen Zeitschrift New Eastern Europe (April–Juni) davor, die politische Situation in Russland mit den Entwicklungen in Mittel-europa oder in Nordafrika gleich-zusetzen. Russland werde einen spezifischen Weg des Wandels gehen. Grund zur Hoffnung biete die neue im vergangenen Jahrzehnt gewachsene Mittelschicht, die einen grundlegenden Wandel des von Putin etablierten Systems wolle und den Kern einer russischen Bürgergesellschaft bilden könne.

BASIL KERSKI ist Direktor des Europäischen Solidarnosc-Zentrums in Danzig und Chefredakteur des deutsch-polnischen Magazins DIALOG in Berlin.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli/ August 2012, S. 130-133

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