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01. März 2019

Guter Rat ist rar

Das außenpolitische Expertentum ist in der Krise. Um wieder relevant zu werden, könnte es helfen, ein paar Grundannahmen zu überprüfen

Wenn es nach der Zahl der verfügbaren Expertinnen und Experten ginge, müsste die deutsche Bundesregierung außenpolitisch so gut beraten sein wie noch nie zuvor. Seit Jahren wächst die Zahl der Thinktanks in Berlin ebenso wie deren Budgets und Personalstärke. Vor zehn Jahren wurden 175 solcher Denkfabriken gezählt, im vergangenen Jahr schon 225. Diese Zahlen des maßgeblichen Indexes der University of Pennsylvania dokumentieren einen beachtlichen Zuwachs um fast 30 Prozent. Dass die deutsche Außenpolitik im vergangenen Jahrzehnt um rund ein Drittel klüger geworden sei, wird man dennoch nicht behaupten.

Das Wachstum hat schlicht mit der größeren Bedeutung Deutschlands in Europa und der Welt zu tun. Wer Einfluss auf die Ausrichtung der europäischen Außenpolitik nehmen will, eröffnet heute nicht mehr nur ein Büro in Brüssel, sondern auch (vielleicht sogar zuerst) in Berlin. In der deutschen Hauptstadt ist so ein lebendiger Mischwald der Expertise entstanden, mit Gewächsen verschiedenster Größe und Ausrichtung – von großen regierungsnahen Institutionen, die Beratung zu beinahe jedem weltpolitischen Thema liefern können, über die Parteistiftungen mit ihren zahlreichen Auslandsbüros bis hin zu kleinen Initiativen aus der Zivilgesellschaft, die für eine einzige Frage oder Perspektive kämpfen. Und dann ist da noch, wie böse Zungen sagen, der vielleicht größte Think­tank der Welt, das Auswärtige Amt mit seinen Tausenden welterfahrenen Beamtinnen und Beamten.

Nur: Was bedeutet heute gute Beratung? Sie hängt nicht von der Größe der Institution ab. Die erstaunlichste Wirkung der vergangenen Jahre hat einer der kleinsten und jüngsten Thinktanks in Berlin erzielt. Wie es dazu kam, verrät einiges über die außenpolitische Lage. Eine winzige Gruppe mit dem bombastischen Namen „Europäische Stabilitätsinitiative“ (ESI) wies der Bundesregierung den Weg aus der Migrationskrise des Jahres 2015. Gerald Knaus mit seinem Team von kaum mehr als einem Dutzend Mitarbeitern formulierte – ohne offiziellen Auftrag – die Grundzüge des EU-Türkei-Abkommens. Frech nannten die Leute der ESI ihr Konzept den „Merkel-Plan“. Der Balkan- und Türkei-Kenner Knaus ging von folgenden Prämissen aus: Das Sterben im Mittelmeer musste aufhören; die Türkei brauchte Hilfe bei der Bewältigung der Flüchtlingsströme; Griechenland musste entlastet werden; die Stabilität Südosteuropas ist für Deutschland unverzichtbar; die Türkei kann vielleicht nicht EU-Mitglied werden, muss aber bei Europa gehalten werden; Deutschland kann nicht alle Flüchtlinge aufnehmen; eine „ungarische Lösung“ durch Zäune allein wiederum würde Griechenland kollabieren lassen.

Also musste die Türkei finanzielle Anreize zur Unterbindung des Menschenschmuggels und zur Verbesserung der Lage der Flüchtlinge bekommen. Griechenland würde Neuankömmlinge ab einem Stichtag in die Türkei zurückbringen. Der Anreiz zur Einschiffung fiele weg, das Ertrinken würde aufhören. Deutschland, glaubte Knaus, müsse dabei vorangehen, auch um Gegnern eines integrierten Europas wie Viktor Orbán nicht die (Schein-)Lösung zu überlassen.

Warum kam der Vorschlag nicht aus den etablierten Thinktanks? Knaus hatte sich getraut, jenseits der ausgetretenen Denkwege zu wandeln: Deutsche Führung und europäische Einigung war in dieser Frage möglich. Selbst mit der widerborstigen Türkei konnte man verhandeln. Und Migration war kein Naturereignis, das sich politischer Steuerung entzog.
 

Beratung ohne Durchblickertum

In Zeiten des Umbruchs, um ein wahres Klischee zu bemühen, kann Beratung nicht vom Standpunkt der Allwissenheit, nicht im Ton des Durchblickertums erfolgen. Sie muss die Verunsicherung über Deutschlands Rolle in der Welt aufnehmen. Es geht darum, den Raum des außenpolitisch Denk- und Machbaren zu erweitern und die Grundannahmen der deutschen Außenpolitik zu überprüfen.

Erste Ansätze sind da – ein paar Beispiele: Beim German Marshall Fund of the United States (GMF) ist eine Debatte darüber entbrannt, dass man das transatlantische Verhältnis über die Trump-Jahre retten kann, indem Deutschland, so GMF-Vizepräsident Thomas Kleine-Brockhoff, selber „mehr Westen produziert“, anstatt nur auf Amerika zu warten. In der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) hat unter dem Russland­-Experten Stefan Meister ein nüchtern-realistischer Blick auf Moskau Einzug gehalten, der sich vom Ostpolitik-Paradigma löst und Putins harte antiwestliche Machtpolitik klar in den Blick nimmt. Die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) unterzieht die französisch-deutsche Ambition, „europäische Souveränität“ zu erreichen, einer kritischen Prüfung und forscht über Diplomatie in postdiplomatischen Zeiten. Das Berliner Mercator Institute for China Studies (MERICS) beleuchtet die Gefahren einer allzu großen Abhängigkeit der deutschen Industrie vom chinesischen Markt, statt nur Wachstums­chancen zu feiern.

Solches Denken ins Offene hinein findet jedoch immer noch viel zu selten statt. Allzu oft treten Experten als Stimme der mittleren Vernunft ­ihrer ­jeweiligen Szene auf, was sich am Gebrauch bestimmter Buzzwords zeigt: Nahost­-Experten halten die „Zweistaatenlösung“ hoch, ungeachtet jeder neuen Siedlung; Transatlantiker beschwören die „Wertegemeinschaft“, die der amerikanische Präsident täglich mit Füßen tritt; Frankreich-Exegeten fordern unbeirrt einen Neustart des „deutsch-französischen Motors“, der lange schon kaputt ist; und es hat viele Jahre destruktiver Putin’scher Politik gebraucht, um zumindest einigen Russland-Experten Phrasen wie „Modernisierungspartnerschaft“ auszutreiben.
 

Die Versuchung des Mainstreams

Vielleicht wäre überhaupt ein außenpolitisches Phrasenregister hilfreich – für Politikberater wie auch für Leitartikler in den Zeitungen. Ganz oben in die Liste würde die „liberale Weltordnung“ gehören (Englisch als „­liberal international order“ oder LIO bekannt). Sie wird heut­zutage so häufig beschworen, dass man denken könnte, jahrzehntelang habe zum Wohle der gesamten Menschheit eine freiheitliche Weltordnung geherrscht, bis sie aus heiterem Himmel von Donald Trump in die Tonne getreten wurde. Mantrahaft wird wiederholt, es gelte nun, diese „regelbasierte Ordnung“ (gibt es denn auch Ordnung ohne Regeln?) zu verteidigen. Ich bekenne: Ich habe selber in diesen Chor mit ­eingestimmt.

Dabei müsste man doch zunächst einmal verstehen, was diese Ordnung mit dem Kalten Krieg und der amerikanischen Vorherrschaft zu tun hatte; warum sie für weite Teile der Welt weder Freiheit noch Regelhaftigkeit brachte; dass die Regeln vielerorts auch als etwas Oktroyiertes empfunden wurden; und dass die Ordnung einen Keim ihrer gegenwärtigen Zersetzung schon lange in sich trug, bevor sich ihre Gegner zusammenzurotten begannen. Dann erst sollte man sich der Frage zuwenden, was die Bundesregierung dazu beitragen könnte, um das zu retten, was am Versprechen einer LIO trotz allem bewahrenswert scheint.

Ohne kritische Durchleuchtung solcher Axiome wird politische Beratung zur Ideologieproduktion. Was freilich, wenn man sich den historischen Kontext ansieht, in dem die „strategische Community“ entstand, eine ständige ­Gefahr ist. Mitte der 1950er beziehungsweise Anfang der 1960er Jahre wurden in Westdeutschland die Grundsteine zu den bis heute wichtigsten Think­tanks Deutschlands gelegt – zur DGAP und zur SWP. Die Inspiration kam teils aus London (Chatham House), vor allem aber aus der Washingtoner Szene: Die amerikanischen Freunde hatten beklagt, keine deutschen Ansprechpartner im „vorpolitischen Raum“ zu haben. Also ging man daran, in Deutschland entsprechende Institutionen zu schaffen.
 

Das Washingtoner „Playbook“ als Problem

Um die Massachusetts Avenue in der amerikanischen Hauptstadt war ein ­Expertennetzwerk zwischen Regierung, Lobbygruppen, akademischer Elite und – nicht zu vergessen – Geheimdiensten entstanden. Dieses Netz begründete, steuerte und beriet die US-Außenpolitik in den Jahrzehnten ihres scheinbar unbegrenzten Bedeutungswachstums. Es war dem eigenen Anspruch nach sowohl Instrument der amerikanischen Vorherrschaft als auch Mittel zur Korrektur ihrer schlimmsten Fehlsteuerungen.

Die außenpolitischen Berater waren von Beginn an ein charakteristischer Teil der US-Hegemonie nach dem Zweiten Weltkrieg. Sie bilden bis heute eine parteiübergreifende Elite mit hohem Sendungsbewusstsein, die das Regelwerk – oder „Playbook“ – für die weltweiten Herausforderungen der Führungsmacht zu schreiben beansprucht. Ihre Institute können nach jedem Wechsel im Weißen Haus und im US-Außenministerium einen Rekrutierungspool an hoch qualifizierten Experten zur Verfügung stellen.

Die deutsche Szene von heute hinkt der amerikanischen immer noch hinterher; nicht nur, was die Zahlen angeht (in den USA gibt es 1800 Think­tanks), sondern auch, was die Durchlässigkeit zwischen Regierung, Politik und Beratung angeht. Die Trennung zwischen Expertise und Exekutive ist hierzulande immer noch stark. Zwar findet man ein paar Diplomaten auf Fortbildungs- und Vertiefungsmission, gewissermaßen geparkt im vorpolitischen Raum. Selten jedoch sind Thinktanker, die auf die andere Seite wechseln und zeitweilig zum Diplomaten werden, wie der SWP-Chef Volker Perthes auf seiner Syrien-Mission. Die politischen Stiftungen sind im Wesentlichen in einer Richtung permeabel: Sie dienen als Abklingbecken für verdiente Spitzenkräfte der Parteien auf dem Weg ins politische Off.

Weil Regierungswechsel hierzulande nicht zum Austausch Tausender Spitzenbeamter führen, erübrigt sich die Funktion amerikanischer Thinktanks, Überwinterungsreservoirs für temporär ausgeschiedene, führende Ministeriumsmitarbeiter bereitzustellen. Schon dadurch gibt es allen Verflechtungen zum Trotz hierzulande immer noch eine größere Machtferne der Experten.

Diese Machtferne wird in Deutschland immer wieder beklagt. Angesichts der massiven Beratungsfehler des amerikanischen Außenpolitik-Establishments könnte man darin auch eine Tugend sehen. Der dortige Thinktank-Komplex befindet sich nach drei gescheiterten Kriegen, die er mit vorbereitet hat – ­in Afghanistan, im Irak, in Libyen – in einer tiefen Krise. Nicht erst Donald Trumps Elitenverachtung (wie mancher Beteiligte suggeriert) hat dieses Problem ­geschaffen.

Trumps Vorgänger Barack Obama – unverdächtig jedes Anti-Intellektualismus – rebellierte bereits gegen den Konsens der Experten, gegen das Washingtoner Playbook des Foreign-Policy-Thinktank-Komplexes. Obamas Entscheidung, seine eigene rote Linie in Sachen Giftgaseinsatz zu verwischen und nicht in Syrien einzugreifen, so gestand er Jeffrey Goldberg in The Atlantic, war ein Bruch mit den Beratern, die ihm einen Angriff aus Gründen der „Glaubwürdigkeit“ empfohlen hatten.
 

Die Legitimationskrise des Expertentums

Die Diskreditierung des außenpolitischen Establishments und seiner Rezepte hat also nicht mit dem Populisten Trump begonnen. Obama war stolz darauf, sich dem Expertenkonsens entzogen zu haben. Wenn aber zwei geradezu verfeindete Präsidenten sich in dieser Hinsicht gleich verhalten, spricht es dafür, dass die Krise der Expertise strukturelle Gründe hat. Der Niedergang des außenpolitischen Establishments in den USA ist auch für Deutschland von Bedeutung. Er zeigt auf, welche Fehlentwicklungen man möglichst vermeiden sollte. Und aufgrund der internationalen Vernetzung der Experten betrifft er die deutsche Szene auch ganz direkt.

Die Legitimationskrise des Expertentums ist ein internationales Phänomen. Die Welt der Berater steht genau wie andere Institutionen (Parteien, Parlament, Regierung, Gewerkschaften, Universitäten, Stiftungen, Medien) unter einem nie gekannten Rechtfertigungsdruck. Die Fragen sind berechtigt: Wessen Interessen vertreten die Experten? Von welchem Standpunkt aus beobachten sie eigentlich? Wie gewinnen sie ihr Wissen? Wie frei, wie objektiv können sie sein?

Verbreitete Verschwörungstheorien über die dunkle Macht der ­Berater-Netzwerke geben falsche Antworten darauf. Man denke nur an die Open Society Foundations (OSF) des Milliardärs George Soros und die zahlreichen Thinktanks, die sich von den OSF fördern lassen. Gegen sie läuft seit Jahren eine globale Hasskampagne mit antisemitischem Einschlag. Linke Kritiker beschuldigen das Netzwerk, es wolle die Welt endgültig dem kapitalistischen Markt ausliefern, rechte Kritiker sehen eine Art globale „Schattenregierung“ am Werk, die sich der Subversion der nationalen Souveränität verschrieben habe. Zersetzung traditioneller Werte, Förderung illegaler Migration, Unterstützung von „Farbrevolutionen“ – all dessen werden die Open Society Foundations von autoritären Regimen beschuldigt. Die Stiftung musste im vergangenen Jahr ihren Sitz von Budapest nach Berlin verlegen, weil ihr in Ungarn das Leben schwer gemacht wurde.

Zweifel an außenpolitischen Netzwerken werden auch von interessierter Seite lanciert. Ich selbst wurde nach einigen kritischen Artikeln zur deutschen Russland-Politik zur besten Sendezeit im russischen Fernsehen als amerikanischer Einflussagent denunziert. Mein Vergehen: Ich war im Jahr 2000 als Fellow des German Marshall Fund (GMF) in den USA gewesen. Diese im ­Internet frei zugängliche Information nutzte der Chefpropagandist des Kreml, Sergej Kisseljow, in seiner abendlichen Nachrichtensendung auf Rossija 1, um mich vor dem Logo des GMF als amerikanisch gesteuerten Feind Russlands hinzustellen.

Trotz solcher Hetze ist es richtig, dass politische Beratung sich heute stärker rechtfertigen muss: Weil die Bedeutung der Berliner Entscheidungen für Europa und die Welt steigt, wächst auch der Legitimationsdruck auf jene, die sie mit vorbereiten.
 

Deutsche Glaubenssysteme in Trümmern

Die deutsche Außenpolitik wird heute nicht mehr nur von Gegnern herausgefordert, sondern mehr noch von ihrem wichtigsten Verbündeten. Das hat sich nirgends so deutlich gezeigt wie bei der Ablehnung der wohl bedeutendsten Errungenschaft (auch) der deutschen Diplomatie seit der Wiedervereinigung durch die von Trump geführte US-Regierung. Das Abkommen über das iranische Atomprogramm wurde 2018 also von eben jenem Alliierten torpediert, der es zuvor jahrelang mit ausgehandelt hatte. Das ist nicht bloß ein Dissens in der Sache, wie er schon öfter zwischen Berlin und Washington vorkam. Beim Streit um das Iran-Abkommen geht es um eine Grundannahme der deutschen Außenpolitik: dass es diplomatische Lösungen für national nicht bewältigbare Probleme (analog etwa zu Klima- oder Handelsfragen) geben kann; dass man Erfolge sogar zusammen mit Gegnern und „Frenemies“ (Russland, ­China) sowie zum Nutzen unbeteiligter Dritter (Israel) erzielen kann; dass also Win-win-win-­Situationen möglich sind.

Dieses Axiom deutscher Diplomatie stellen die USA im Zeichen von „America First“ infrage. Und das Ende des Iran-Abkommens ist womöglich nur ein erstes Beben kommender Erschütterungen: Bei der Klimadiplomatie und beim Freihandel zeigen sich jetzt schon deutliche Risse zwischen den Verbündeten; ebenso, noch existenzieller, in der NATO.

Der Schreck darüber reicht tief bei den Berliner Entscheidungsträgern, und die Verunsicherung über die Konsequenzen erfasst auch die Berater. Gut so, aber: Was tun? Einfach weitermachen geht nicht. Sich also vom Partner absetzen? Eigene Fähigkeiten stärken? Gar offen gegen ihn agieren? Ihn einzubinden versuchen? Allianzen gegen ihn schmieden? Mit befreundeten Mächten an Umgehungsmöglichkeiten basteln, die den amerikanischen Ausfall kompensieren („Allianz der Multilateralisten“)? Oder alles dies zugleich?

Ist die Bundesregierung in dieser existenziellen strategischen Frage gut beraten? Das wird man nicht behaupten können. Erst langsam löst sich in den traditionell transatlantisch geprägten Expertenkreisen Berlins die Schockstarre. Nach zwei Jahren Dauerattacke auf NATO, Freihandel und sämtliche ­liberalen Prinzipien wird Trump als Ergebnis eines Strukturwandels ernst genommen und nicht mehr als Freak-Ereignis verharmlost, nach dem man zum Status quo ante zurückkehren werde.

So bitter das ist, könnte es auch eine Chance sein, dass alle drei großen außenpolitischen Schulen hierzulande gerade vor den Trümmern ihrer Glaubenssysteme stehen: die Transatlantiker dank Trump, die Ostpolitiker dank Putin, die Europa-Integristen dank der europäischen Wirklichkeit.

Mehr innere Freiheit wagen

Wie also weiter? Zwei eher technisch-bürokratische Vorschläge zur Besserung kursieren: Deutschland brauche einen Nationalen Sicherheitsrat und (oder) es brauche einen außenpolitischen Expertenrat, ähnlich dem „Rat der Wirtschaftsweisen“. Beides mag in Grenzen hilfreich sein, um strategische Kommunikation zwischen Ressorts und durch die Hierarchieebenen hindurch zu erleichtern. Das amerikanische Beispiel des mächtigen National Security Council war zuletzt jedoch nicht sehr ermutigend.

Deutschland wird in Zukunft noch buntere, fragilere Koalitionsregierungen haben, die sich die außenpolitisch relevanten Ministerien – und welche sind das heute nicht? – aufteilen müssen. Das erschwert einen Konsens über „grand strategy“ zusätzlich. Aber es muss nicht durchweg von Nachteil sein, sondern kann auch eine Chance zur Selbstkorrektur in sich tragen. Allerdings: Was es nicht gibt, kann man auch nicht korrigieren. Washington leidet an der Fixierung auf sein Playbook, Berlin hat keines.

Ein pluralistisch besetzter Expertenrat könnte strategische Fragen ins öffentliche Bewusstsein rücken, die quer zu den Ressortgrenzen liegen: Warum der Klimawandel eine sicherheitspolitische Herausforderung ist; wie Migration und unsere Wirtschaftspolitik zusammenhängen; dass man Digitalisierung als Machtpolitik, Daten als Rohstoff und soziale Medien als Waffen dieses Jahrhunderts begreifen muss.

Aber neue strategische Strukturen allein werden nicht die Antwort auf die entscheidende Frage sein: Wie vermeidet man die Selbstverstärkereffekte und die Pfadabhängigkeit, durch die das Expertentum in die Krise gekommen ist? Durch die Anregung zum EU-Türkei-Abkommen hat ein bis dato unbekanntes Mini-Institut ohne großes Budget die Politik der Bundesregierung verändert und geholfen, eine europäische Krise zu lösen. Es geht also, mit Leidenschaft und innerer Freiheit.

Jörg Lau ist Außenpolitischer Koordinator im Ressort Politik der ZEIT.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, März-April 2019, S. 32-38

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