Gut gebrüllt, Maus!
Wie kleine Mächte ihr Gewicht in die Waagschale werfen können
Es ist nicht leicht, klein zu sein. Schon gar nicht in der Weltpolitik. Wenn es gut läuft, darf man das Tafelsilber auftragen; weit öfter aber steht man selbst auf der Speisekarte. In Mittel- und Osteuropa kennt man diese Situation nur zu gut. Doch heute stehen die geostrategischen Chancen der Region besser denn je.
Die Situation kleiner Mächte lässt sich mit der Lage der Melier bei Thukydides vergleichen. Ähnlich wie die Bewohner der kleinen Kykladeninsel sind sie dazu verurteilt, in einer Welt zu überleben, in der „die Starken tun, was sie können, und die Schwachen erdulden, was sie müssen“. Nirgendwo wurde diese, nennen wir sie mal: „melische Zwangslage“ in der Vergangenheit stärker empfunden als unter den Staaten Mittel- und Osteuropas. Eingeklemmt zwischen Ost und West, blickt das Bündel von kleinen Mächten zwischen Ostsee und Schwarzem Meer auf eine lange Geschichte zurück, in der man strategisch abhängig, oft gar Opfer war. Wenn sie denn einmal kurzzeitig unabhängig waren, die Polen, Tschechen oder Ungarn, dann beraubten Größe und Geografie sie sinnvoller strategischer Optionen und ließen ihnen nichts anderes übrig, als von der Seitenlinie zuzuschauen, wie größere Nachbarn über ihr Schicksal entschieden.
Wenn man die jüngsten Schlagzeilen aus Europa liest, so scheint sich daran nicht so viel geändert zu haben. Wie ihre Vorgänger liegen die mittel- und osteuropäischen EU-Mitglieder an der Schnittstelle einander überlappender und gelegentlich miteinander konkurrierender geopolitischer Einflusszonen. Wie in der Vergangenheit sind sie meist damit beschäftigt zu reagieren – auf russische Energiemanöver, Defizitwarnungen der EU, amerikanische Raketenabwehrpläne. Unter den politischen Beobachtern tendiert man daher dazu, sie als vorwiegend passive Kraft in der europäischen Politik zu betrachten – als Schachfiguren, hin- und hergeschoben von Mächten jenseits ihrer Kontrolle.
Aber die Dinge ändern sich – so scheint es zumindest. In den vergangenen Monaten haben die Regierungen in Mittel- und Osteuropa eine verblüffende Neigung zu unabhängigem strategischen Denken und Handeln gezeigt. Langsam, zögernd finden sie Methoden, Größe und Geografie zu ihrem Vorteil zu nutzen. Um Freund und Feind herauszufordern, beschreiten sie Wege, von denen ihre Vorgänger nur träumen konnten. Wie das winzige Herzogtum Groß Fenwick, das in Leonard Wibberleys Novelle von 1955 „Die Maus, die brüllte“ beschließt, Amerika anzugreifen, den Krieg zu verlieren und damit den Staatshaushalt zu sanieren, entdecken sie gerade, dass Schwäche überraschende Vorteile bringen kann. Wie (und: ob) sie diese Vorteile in den kommenden Jahren nutzen werden, könnte über das Gelingen des EU-Projekts mitentscheiden. Obwohl die Vereinigten Staaten bislang das Hauptobjekt ihres Trotzes waren, werden gerade sie von einem strategischen Erwachen Mittel- und Osteuropas mehr profitieren als verlieren.
Balancieren oder mitmarschieren
Wenn die Staaten Mittel- und Osteuropas Zeit gebraucht haben, ihre eigene Stimme zu entwickeln, so geschah das aus gutem Grund. Während dreier Jahrhunderte hat die Region zumeist lediglich als geografischer Ausdruck existiert – eine Art großer geopolitischer Kuchen, der zwischen Preußen, Österreich und Russland geteilt wurde; zwischen Nazis und Sowjets, zwischen Roosevelt und Stalin. Nur während kurzer Perioden – 1807, 1919, 1946 – haben die Mächte der Region über sich selbst bestimmt. Während dieser Zwischenspiele haben sie die Erfahrung gemacht, dass es vor allem zwei schwere geopolitische Hypotheken waren, die sie von den Großmächten trennten.
Zunächst einmal verfügten sie über weniger strategische Optionen. Während Europas Großmächte die Qual der Wahl aus einer Reihe von möglichen Allianzen hatten, umfasste die Speisekarte der Länder Mittel- und Osteuropas nur zwei Menüs. Hatten sie es mit einer revisionistischen Macht zu tun, konnten sie sich entweder dagegen erheben oder mitmachen. Zu schwach, um wie Bismarck die Widersacher gegeneinander auszuspielen, und zu exponiert, um sie wie die Briten zu ignorieren, hatten die Mittel- und Osteuropäer kaum eine andere Wahl als eine Seite auszuwählen und die Daumen zu drücken.
Zweitens hatten sie praktisch keine wirkliche Verhandlungsmacht gegenüber ihren Alliierten. Wo Großmächte Zugeständnisse von mächtigen Partnern aushandeln oder auch einmal „Nein“ sagen können, hielten die Staaten Mittel- und Osteuropas nur wenige Trümpfe in der Hand, um ihre Position in der Allianz zu verbessern. Sie waren schon glücklich, wenn sie überhaupt Alliierte hatten. Für ihre Partner waren diese kleinen geografisch exponierten Staaten Aktivposten in Sachen Sicherheit. Egal, was die Staaten Mittel- und Osteuropas unternahmen, es ging schief. In den dreißiger Jahren etwa spaltete sich die Region in zwei geopolitische Lager: Auf der einen Seite Länder wie Polen und die Tschechoslowakei, die ein Gegengewicht zum erstarkenden Deutschland bildeten, auf der anderen Seite Länder wie Ungarn, Bulgarien und Rumänien, die mit ihm gemeinsame Sache machten. Beide Alternativen endeten in Tragödien. Die „Balance-Mächte“ wurden Opfer der Nazi-Invasion und später Sowjet-Satelliten, die Mitläufer wurden Satelliten der Nazis und später Opfer einer sowjetischen Invasion. Wie die Melier „erduldeten sie, was sie mussten“.
Mächtige Maus
Allen hochfliegenden Erwartungen zum Trotz hat die Integration Mittel- und Osteuropas in die euro-atlantische Familie diese strategischen Dilemmata nicht vollkommen beseitigt. Die Hoffnungen auf eine postgeopolitische Zukunft in einem großen und freien Europa haben sich nur teilweise erfüllt. Drei unerwartete (und unwillkommene) strategische Entwicklungen, alle derzeit auf ihrem Höhepunkt, stehen im Weg: die Wiederauferstehung Russlands als Großmacht, die Verlangsamung des europäischen Integrationsprozesses und das Abflauen des amerikanischen Interesses an Europa.
Wieder einmal sind die Staaten Mittel- und Osteuropas umzingelt von größeren Mächten mit unterschiedlichen – und nicht immer miteinander kompatiblen – Plänen für die Region. Eine von ihnen, Russland, hat die Rolle der revisionistischen Macht übernommen. Die Reaktionen darauf ähneln in verblüffender Weise der in den dreißiger Jahren. Erneut hat sich die Region in zwei strategische Lager gespalten: die „Balance-Mächte“ – Polen, Tschechien, die baltischen Staaten und Rumänien –, die es vorziehen, der Drohung frontal zu begegnen, und die Mitläufer – Ungarn, Bulgarien, die Slowakei und Lettland –, die sich anpassen. Folglich sehen viele Beobachter die Staaten Mittel- und Osteuropas als dieselbe Art einer geopolitischen Kreatur an, die sie vorher waren – als Maus, die von der Seitenlinie aus zuschaut und darauf wartet, dass einer ihrer größeren Nachbarn sie in seine Einflusszone hineinzieht.
Aber jenseits der Schlagzeilen ändern sich die Dinge. Mag auch das Ende des Kalten Kriegs die „melische Zwangslage“ nicht in dem Grad, den viele sich erhofft hatten, verändert haben, so sind doch strukturelle Veränderungen zu beobachten, durch die sich die Lage der Staaten Mittel- und Osteuropas gegenüber externen Akteuren dramatisch verbessert hat. Eine davon ist geografischer Natur. Die Regierungen in Mittel- und Osteuropa beginnen zu begreifen, dass sie über eine Region herrschen, zu der alle drei großen euro-atlantischen Mächte dringend Zugang benötigen. Ohne Mittel- und Osteuropa fehlen Russland die Transitrouten, die nötig sind, um seine Machtposition gegenüber Westeuropa auszubauen. Ohne Mittel- und Osteuropa fehlt den Amerikanern die wichtigste europäische Basis für eine Raketenabwehr, die sie brauchen, um ihre Ostküste vor einem Atomangriff zu schützen. Und ohne Mittel- und Osteuropa kann die EU ihre östliche Flanke nicht konsolidieren und ein ernstzunehmender geopolitischer Spieler werden. Die geografische Lage, für Jahrhunderte die Achillesferse der Region, wird zum Vorteil.
Eine weitere wichtige Veränderung betrifft das Thema Sicherheit. Allem russischen Säbelrasseln in Energiefragen zum Trotz ist es doch unwahrscheinlich, dass Russland in naher Zukunft einmarschiert. Wenn aber doch, dann hätten die Mittel- und Osteuropäer jetzt etwas in Händen, das sie in den dreißiger Jahren nicht hatten: den Bündnisfall-Artikel V des NATO-Vertrags. Zum ersten Mal, solange man denken kann, ist Sicherheit für Mittel- und Osteuropa nicht mehr das alles beherrschende Thema.
All das verändert die strategische Landschaft in Mittel- und Osteuropa erheblich. Die Mächte der Region besitzen etwas, das ihre größeren Nachbarn brauchen, das sie sich aber nicht mehr gewaltsam nehmen können oder wollen. Das verschafft diesen Regionalmächten einen Einfluss, der noch vor 70 Jahren undenkbar war und der sie aus ihrer alten strategischen Zwangsjacke befreit.
Zunächst einmal stehen die Regierungen Mittel- und Osteuropas nicht mehr vor einer eindeutigen strategischen Entscheidung zwischen Balance-Macht und Mitläufertum. Jetzt sind sie in der Lage, sich nach allen Seiten abzusichern, gute Beziehungen mit allen drei großen Nachbarn aufrechtzuerhalten und attraktive strategische Optionen zu ergreifen, wenn sie sich bieten. Sie sind nicht mehr gezwungen, mächtigen Schutzherren hinterherzuhecheln: Die Großmächte kommen schon zu ihnen. Jede von ihnen verfügt über ein anderes -öffentliches Gut – Amerika Sicherheit, die EU Strukturfonds, Russland Energie –, das Mittel- und Osteuropa weder selbst besitzen noch von einem der anderen beiden bekommen könnten.
Derzeit sind die Regierungen Mittel- und Osteuropas nicht gezwungen, eine dauerhafte Entscheidung zwischen diesen drei Bewerbern zu treffen. Im Gegenteil, vieles spricht dafür, das gerade nicht zu machen. Sie können etwas tun, was für ihre Vorgänger undenkbar war: Sie können unverbindliche Diplomatie betreiben. Regierungen aus beiden strategischen Lagern, aber insbesondere die Mitläufer, experimentieren nun mit Methoden des „Absicherns“, also dem Wetten gegen ihre bevorzugte Strategie, indem sie in die entgegengesetzte Strategie investieren.
Die Slowakei etwa hat sich in Sachen Raketenabwehr und Kosovo eng mit Russland zusammengeschlossen und die EU-Pläne zur Energiediversifizierung sabotiert, dafür aber Truppen in den Süden Afghanistans geschickt und in regionale Energiediversifizierungspläne investiert. Ungarn hat sich den amerikanischen Bemühungen um einen NATO-Beitritt der Ukraine widersetzt und Russlands South-Stream-Pipeline gefördert, ist aber ein eifriger Fürsprecher des EU-Engagements in der Ukraine sowie des von der EU betriebenen und von Amerika unterstützten South-Stream-Konkurrenten Nabucco. Bulgarien, Russlands „trojanisches Pferd in der EU“, wie es ein russischer Minister einmal genannt hat, ist gleichzeitig stets bereit, US-Militärbasen zu beherbergen.
Spielräume für Spielverderber
Die Mittel- und Osteuropäer besitzen jetzt einen echten Spielraum für strategisches Verhandeln. Sie können eine Prämie für ihre Unterstützung aushandeln und Nein sagen, wenn der Preis nicht erreicht ist. In den Verhandlungen mit den USA über die Raketenabwehrpläne konnte Warschau stärkeren Druck auf Washington ausüben als es ein Staat aus der Region gegenüber einer Großmacht je konnte – gewiss stärkeren, als man ihn in den dreißiger Jahren gegenüber Paris oder London ausüben konnte. Ein solcher Druck ist nur möglich, weil die Polen wissen, dass sie selbst mit ihren vorwitzigsten Aktionen die amerikanischen Sicherheitsgarantien nicht aufs Spiel setzen werden. Ihre Überlegungen ähneln denen von Wibberleys Herzogtum Groß Fenwick, wo die politischen Führer kalkulierten, dass sie nichts zu verlieren und alles zu gewinnen hätten, wenn sie eine symbolische (und spaßhafte) „Invasion“ Amerikas unternähmen. Wenn Washington ihre Attacke ignoriert hätte, hätten sie nichts verloren, wenn nicht, hätten sie vielleicht ein bisschen Wiederaufbauhilfe erhalten.
Ein ähnlicher Grundgedanke bestimmt das Verhalten der Staaten Mittel- und Osteuropas in der EU. Da sie wissen, dass ihre Mitgliedschaft sicher ist, was immer geschieht, geben die Mittel- und Osteuropäer immer mal wieder den Spielverderber, um die EU-Politik zu behindern oder zu beeinflussen. Polen etwa hat einen Feldzug gegen die gesamte EU geführt, um die Verhandlungen in Sachen Stimmenverteilung lahmzulegen. Das kleine Litauen hat zweimal Übereinkünfte zwischen der EU und Russland verhindert. In den ersten drei Jahren ihrer Mitgliedschaft haben die Mittel- und Osteuropäer versucht, 15 Prozent aller Vorschläge der Kommission zu blockieren – allein die Polen beachtliche 17 Vorschläge, die Slowaken elf und die Letten zehn.
Heute erleben wir ein ganz anderes Mittel- und Osteuropa als das, welches in der Vergangenheit so oft durch die Politik der Großmächte in Geiselhaft genommen wurde. Obgleich immer noch klein und materiell schwach, verfügen die Staaten Mittel- und Osteuropas heute über neue Möglichkeiten der Einflussnahme, mit denen sie die strategischen Sackgassen der Vergangenheit umschiffen können. Mit diesem neuen Potenzial wachsen allerdings die Risiken.
Eines dieser Risiken ist das, was man als das „Kurzsichtige Maus-Syndrom“ bezeichnen könnte. Wenn den Eliten in Mittel- und Osteuropa ihr gewachsener Einfluss bewusst wird, werden sie ihn vielleicht einsetzen, um die Handvoll von Zielen zu erreichen, die ihnen am wichtigsten sind, während sie gleichzeitig mangelnde Größe als Entschuldigung dafür benutzen, das große Ganze zu ignorieren. Wie Robert Keohane über Taiwan schrieb: Sie fokussieren sich wohl „auf einen kleinen Kreis von lebensnotwendigen Interessen, ignorieren dabei aber praktisch alles andere. Die Auswirkungen ihrer Handlungen auf die Stabilität des internationalen Systems stellen sie gar nicht oder nur ungenügend in Rechnung.“
Ein zweites Risiko besteht darin, dass die ständigen Verhandlungen der Mittel- und Osteuropäer in billiges Gefeilsche ausarten könnten. Schon jetzt beschweren sich viele der maßgeblichen Akteure in Amerika und Europa über eine wachsende Tendenz in den mittel- und osteuropäischen Hauptstädten, stets das Maximum für sich herausholen zu wollen. Das könnte den Wunsch in den westeuropäischen Hauptstädten nach einem „Kerneuropa“ anheizen, das die Mittel- und Osteuropäer ausschließt, und es könnte den Stimmen in Washington Auftrieb verleihen, die aus Frust über Polens Gebaren in der Raketenabwehrdiskussion die Meinung vertreten, Amerika solle Mittel- und Osteuropa in wichtigen strategischen Fragen umgehen. Das wäre eine unglückliche Entwicklung. So schmerzlich diese neue Erfahrung für sie derzeit ist, Amerika und die EU werden wohl die Gewinner des strategischen Erwachens von Mittel- und Osteuropa sein. In dem Maße, in dem das US-Engagement in Europa zurückgeht, wird Amerika ähnlich gesinnte Partner in der EU brauchen. Auch der EU wird eher geholfen sein, wenn die Mitglieder an ihrer östlichen Flanke sich strategisch ihrer selbst bewusst werden – und auch etwas unternehmen –, als wenn sie aufgrund der alten Ängste paralysiert sind.
Reifeprüfung
In jedem Fall ist es wichtig, das Selbstbewusstsein der Mittel- und Osteuropäer in die richtige Richtung zu kanalisieren. Das wird einige Anstrengungen seitens der Amerikaner und der EU erfordern; die Hauptverantwortung bleibt aber bei den Mittel- und Osteuropäern. In den kommenden Jahren wird man vor allem eines von ihnen erwarten: Reife. Die politischen Eliten in Warschau, Prag, Budapest und Bukarest müssen der Versuchung widerstehen, ihren neu entdeckten Einfluss für kurzfristige innenpolitische Zwecke zu missbrauchen. Gerade in den Beziehungen zu den USA sollten sich die Staaten der Region weniger darauf konzentrieren, billige Erfolge zu erringen, mit denen sie zuhause protzen können – wie etwa die Polen in Sachen Raketenabwehr –, als darauf, Unterstützung für wichtige strategische Ziele bei Themen zu bekommen, wo sich die langfristigen Interessen der Region mit denen Amerikas vereinbaren lassen, wie etwa die Energiesicherheit oder Weißrussland/Ukraine. Auf ähnliche Weise sollten sie in der EU ihren geballten Einfluss nicht der Obstruktion von Vorschlägen der Kommission widmen, sondern europäisches Handeln da vorantreiben, wo ein Konsens unter den Mittel- und Osteuropäern bereits annähernd existiert – in der Energiesicherheit, Nachbarschaftspolitik oder bei der globalen Demokratieagenda.
Wie es den Mittel- und Osteuropäern zukünftig ergeht, wird ein Indiz darstellen, welche Rolle kleine Mächte in der kommenden postunipolaren Weltordnung spielen können. Mit seinem absteigenden amerikanischen, sich abstrampelnden europäischen und wieder aufsteigenden russischen Pol ist das entstehende euro-atlantische Machtdreieck ein Mikrokosmos der multipolaren Ordnung, die uns erwartet. Wenn die Erfahrungen der Mittel- und Osteuropäer irgendeinen Anhaltspunkt liefern, dann haben kleine Mächte mehr Möglichkeiten, dieses neue System zu gestalten, als sie es früher hatten. Anders als unter den Gegebenheiten der Bipolarität, wo kleine Mächte Mäuse waren, die einem oder zwei Rattenfängern folgten, oder denen der Unipolarität, wo sie keine Rolle spielten, könnten sie unter den Bedingungen der Multipolarität die entscheidenden Stimmen sein, um deren Gunst sich die Großmächte balgen. Für die Mittel- und Osteuropäer bedeutet das eine Befreiung aus den alten Sicherheitsdilemmata, aber auch die Herausforderung, wie Spielmacher zu denken statt wie Spielsteine. Wenn sie das schaffen, werden sie vielleicht zum ersten Mal in der jüngeren Vergangenheit imstande sein, einen unabhängigen, dauerhaften und positiven Einfluss auf Europas Zukunft zu haben. Ein angemessen lautes Gebrüll für einige der am schlechtesten behandelten Mäuse aller Zeiten.
WESS MITCHELL, geb. 1977, ist Forschungsdirektor beim Center for European Policy Analysis in Washington, einem Institut, das sich schwerpunktmäßig mit Mittelosteuropa beschäftigt.
Internationale Politik 7-8, Juli/August 2008, S. 78 - 84