Porträt

30. Okt. 2023

Guatemalas Hoffnungsträger

Der neue Präsident Bernardo Arévalo siegte mit einer aus Antikorruptionsprotesten entstandenen Bürgerbewegung. Er gilt als ausgleichender, kluger Reformer. Die mafiöse Elite versucht ihn mit allen Mitteln zu torpedieren.

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Bild: Guatemalas gewählter Präsident Bernardo Aréval
Er verspricht keine Almosen, sondern das Recht auf würdevolle Arbeit. Den Staat will er in den Dienst des Volkes stellen: Guatemalas gewählter Präsident Bernardo Arévalo.
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Dreimal in den vergangenen 100 Jahren hat Guatemala einen demokratischen Frühling erlebt. An allen war ein Arévalo maßgeblich beteiligt. Zwei Versuche scheiterten und mündeten in einen brutalen autoritären Rückschlag. Nun bekommt ein neuer Arévalo mit dem Vornamen Bernardo eine neue Chance. Im August wurde der 65-jährige Soziologe zum Präsidenten gewählt, im Januar 2024 tritt er sein Amt an. Sein sehr hoher Sieg gegen die vom Staatsapparat und der Wirtschaftselite massiv unterstützte Konkurrentin war beeindruckend. Doch hat er auch das Rüstzeug, einen bis aufs Knochenmark korrumpierten Staat umzukrempeln?



Zwei Wochen vor der Stichwahl ist Arévalo unterwegs im indigenen Hinterland – kein einfaches Pflaster für einen Akademiker wie ihn. Manche Dörfer haben keine asphaltierten Straßen, keinen Strom und höchstens eine Grundschule. Der Gesundheitsposten ist häufig mit kubanischen Ärzten besetzt, weil kaum ein einhei-mischer Mediziner so fernab der Zivilisation leben will. Diese Gegenden sind traditionell Wahl-Hochburgen der Elite, denn die Mächtigen nutzen die Armut und die Loyalität der Indigenen für ihre Zwecke: Mit ein paar Säcken Düngemittel und Saatgut, ein paar hundert Quetzales, gepaart mit einschüchternden Worten zur „Dankbarkeit“ für den Geldgeber, sind Stimmen leicht zu kaufen.



Ein Stopp der Tour ist Huehuetenango, 217 Kilometer westlich von Guatemala-Stadt. Dort sitzt Bernardo Arévalo auf einem weißen Plastikstuhl auf der Bühne: ein kräftiger Mann mit grauem Bart und Professoren-brille. Er trägt Jeans, sportliche Halbschuhe und ein hochgekrempeltes hellblaues Hemd. Links und rechts am Bühnenrand stehen zwei Bodyguards mit kugelsicheren Faltplatten in der Hand und Knopf im Ohr. Es hat Morddrohungen gegeben, doch der Kandidat lässt sich nicht aus dem Konzept bringen. Ein paar Tage zuvor hatte er sich von seiner Familie überreden lassen und eine kugelsichere Unterziehweste gekauft.



Arévalo lauscht konzentriert den Worten der Friedens­aktivistin der Maya-Quiché, Manuela Alvarado. Als sie fertig ist und sich neben ihn setzt, ergreift er bewegt ihre Hand. Gemeinsam blicken sie auf die etwa 500 Menschen vor der Bühne, die ihnen zuhören: Bauern und Buchhalterinnen, Indigene und Studentinnen. Der Sieg liegt in der Luft, doch die beiden triumphieren nicht. Sie wirken eher nachdenklich, ergriffen von der Erwartung, die auf sie gerichtet ist.



Selten sagt Arévalo „ich“, meistens „wir“. Es geht in seiner Rede nicht um Umverteilung, sondern um Chancen. Er verspricht keine Almosen, sondern ein Recht auf würdevolle Arbeit. Den kooptierten Staat will er nicht umstürzen, sondern in den Dienst des Volkes stellen. Er ist ein Reformer, kein populistischer Volkstribun wie so viele andere lateinamerikanische Caudillos dieser Tage. Sechs Monate hat sein Team gebraucht, bis er den Soziologenjargon ablegte und lernte, kurze, eingängige Sätze zu verwenden.



Der Sohn eines Expräsidenten ist kein Zögling der guatemaltekischen Elite, in deren exklusiven Zirkeln er nie verkehrte. Eher eine Art Betriebsunfall für das gut geölte System der privilegierten Strippenzieher. So wie es einst sein Vater Juan José Arévalo war, von 1945 bis 1951 der erste demokratische Präsident des Landes, der bis heute wegen seiner Sozialreformen verehrt wird. Bernardo, der zweitjüngste Sohn, tritt nun in diese Fußstapfen.



David gegen Goliath

Nicht einmal die Familie, die eng zusammenhält, hatte mit seinem Erfolg gerechnet. Vor der ersten Runde der Wahl im Juni wiesen Umfragen nur eine einstellige Zustimmungsrate aus. Guatemalas Wählerschaft versank in tiefer Apathie und Frust über eine korrupte, unfähige Elite, gegen die kein Kraut gewachsen schien. Kandidaten, die dem Status quo hätten gefährlich werden können, wurden unter Vorwänden von einer willfährigen Justiz aus dem Rennen genommen. Arévalo durfte als vermeintlicher Statist weiter mitspielen im demokratischen Theater.



In der ersten Runde siegte die Enthaltung, gefolgt von der ehemaligen First Lady Sandra Torres, die seit über einem Jahrzehnt in der guatemaltekischen Politik mitmischt, und Arévalo. Dessen Einzug in die Stich-wahl elektrisierte das Land, besonders die Jugend. Die Semilla-­Bewegung verzichtete auf Wahlkampffinanzierung von den Großunternehmern, Freiwillige kompensierten das fehlende Geld mit Kreativität. Sie mach-ten mit Memes und KI-Videos Werbung für „Tio (­Onkel) Bernie“. Parteimitglieder hängten die wenigen Plakate alle paar Tage um, filmten sich dabei, publizierten es in sozialen Medien und gingen viral. Das war neu, kreativ und nährte das Narrativ von David, der gegen die Goliath-Korruption kämpft. Die Elite versuchte, Arévalo als im Ausland geborenen Kommunisten zu brandmarken. Das war ein Flop: Plötzlich begannen viele Menschen, sich für ihn zu interessieren. Erstmals entdeckten sie in der Politik ein Vehikel für Veränderungen.



Der Mann, der dieser Hoffnung ein Gesicht gab, wollte eigentlich gar nicht Präsidentschaftskandidat werden, sondern lieber Jüngeren den Vortritt lassen. Doch mit seiner ausgleichenden Art und scharfem Intellekt hatte er die Parteibasis für sich eingenommen, die ihn aufstellte.

Geboren wurde Bernardo Arévalo 1958 in Uruguay während des langen Exils seines Vaters nach dem Militärputsch. Seine Kindheit verbrachte er in Uruguay, Venezuela, Chile und Mexiko; im Alter von 15 Jahren kehrte er nach Guatemala zurück und machte Abitur. Er promovierte in Philosophie und Sozial­anthropologie an Universitäten in Israel, Spanien und den Niederlanden. Von 1994 bis 1995 war der zuvorkommende Kosmopolit stellvertretender Außenminister, danach Botschafter Guatemalas in Spanien. Von dort ging er nach Genf und arbeitete für die Organisation Interpeace; 2013 kehrte er in seine Heimat zurück.



Zwei Jahre später gingen die Guatemalteken zu Zehntausenden auf die Straße, um gegen die korrupte politische Elite zu protestieren. Anlass waren damals die Ermittlungen der UN-Kommission gegen Straffreiheit (CICIG) gegen Präsident Otto Pérez und seine Vizepräsidentin. Beiden wurde vorgeworfen, ein korruptes System im Zollwesen installiert zu haben, von dem Importeure profitierten, aber auch viele darin verwickelte Staatsdiener bis hin zum Präsidenten.



Arévalo war einer der Strippenzieher dieser Proteste, die als zweiter demokratischer Frühling in die Medien eingingen. Dank massiven Drucks auf die Parlamentarier wurde Pérez und seiner Vizepräsidentin die Immunität aberkannt: Sie landeten vor Gericht und anschließend im Gefängnis. Erstmals wurden Mächtige für ihre Straftaten zur Verantwortung gezogen. Doch bei den Wahlen 2015 ritt ein Komiker namens Jimmy Morales die Empörungswelle und wurde Präsident. Als politischer Außenseiter und ohne entsprechende Basis wurde Morales bald von der Elite eingehegt. 2019 warf er die CICIG aus dem Land und Dutzende von ihr ausgebildete Antikorruptionsrichter und Staatsanwälte gleich mit. An ihrer Stelle wurden loyale Befehlsempfänger gesetzt. Der zweite Frühling hatte ein abruptes Ende gefunden.



Ein demokratischer Aufbruch

Doch der Esprit der Proteste überlebte. 2017 wurde Semilla gegründet, eine zwischen sozial- und christde-mokratisch angesiedelte Partei, die sich vor allem der Korruptionsbekämpfung verschrieb. Es war eine Mittelschichtspartei, getragen von Akademikerinnen und Aktivisten; Arévalo war einer der Gründer. 2019 zogen die ersten sieben Abgeordneten für Semilla in den Kongress ein, darunter Arévalo, der zum Fraktionsvorsitzenden gewählt wurde.

Sie waren nur eine Minderheit im Kongress, aber ein Sandkorn im Getriebe. Sie brachten progressive Ge-setzentwürfe ein – etwa für fairen Wettbewerb in einer von Monopolen verzerrten Wirtschaft. Immer wieder stellten sie Abgeordnete zur Rede, die korrupte Praktiken unterstützten. In flotten Tiktok- Videos informierten sie über ihre Arbeit.



Nun steht Arévalo vor der Mammutaufgabe, dem dritten demokratischen Frühling Guatemalas ein solides Fundament zu geben. „Ich bin nicht mein Vater, aber ich bin auf demselben Weg unterwegs“, versprach er. Es dürfte ein Hürdenlauf werden. Denn bereits jetzt laufen mehrere Prozesse, die auf eine Annullierung der Partei und eine Inhaftierung Arévalos abzielen. Der Haushalt ist unterfinanziert, und im neuen Kongress stellt Semilla nur 23 der 160 Mitglieder. Viele Bürgermeister stehen im Sold der Drogenmafia. Der Staatsapparat ist kooptiert und darauf getrimmt, Gelder aus dem Staatshaushalt in private Taschen umzulenken. Guatemala ist deshalb eines der rückständigsten Länder Lateinamerikas; mehr als die Hälfte der Bevölkerung ist arm, knapp ein Drittel unterernährt, 18 Prozent sind Analphabeten.



Eine wichtige Stütze dürfte Arévalos zweite Frau Lucrecia werden, eine angesehene Ärztin. Sie ist stets an seiner Seite und passt auf, dass er genügend Pausen bekommt. Die beiden haben sechs Kinder, drei aus ihrerersten Ehe, drei aus seiner. Arévalos älteste Tochter ist lesbisch und lebt in Mexiko. Vor einiger Zeit heiratete sie dort ihre Lebensgefährtin, der Vater führte sie zum Standesamt; das Video kursierte in sozialen Netzwerken. Weil die guatemaltekische Gesellschaft sehr konservativ ist, versuchten Arévalos Gegner ihm daraus einen Strick zu drehen. Doch der parierte geschickt: Es sei doch selbstverständlich, dass ein Vater seine Tochter an einem so wichtigen Tag begleite.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, November/Dezember 2023, S. 9-11

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Sandra Weiss  ist Politologin und ehemalige Diplomatin. Sie arbeitet seit 1999 als freie Korrespondentin in Lateinamerika, u.a. für die ZEIT, NZZ am Sonntag, Geo, Tagesspiegel, den Schweizer Rundfunk und die Deutsche Welle.

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