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31. Aug. 2018

Große Aufgaben, kleine Schritte

Der Weg für einen erfolgreichen Neuaufbau der Bundeswehr ist abgesteckt

Das Weißbuch von 2016 und die im Juli 2018 veröffentlichte neue Konzeption der Bundeswehr geben einen guten Rahmen vor, in dem sich der dringend notwendige Umbau der deutschen Streitkräfte vollziehen sollte. Dieses ehrgeizige Ziel ist aber nicht über Nacht zu erreichen. Langer Atem und die Bereitschaft zu Mehrausgaben sind gefragt.

Die Bundeswehr braucht heute vor allem dreierlei: Gestaltungsanspruch, Geld – und Geduld. Denn das Ungleichgewicht im Dreieck von Bedrohungsanalyse, militärischen Zielvorgaben und eingesetzten Mitteln besteht einfach schon zu lange, als dass es schnell austariert werden könnte. Einige der Weichenstellungen in der Vergangenheit gingen einfach zu sehr in die falsche Richtung, als dass sie mit einigen wenigen Entscheidungen korrigiert wären.

Mit dem im Juli 2016 veröffentlichten Weißbuch zur Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr und der daraus abgeleiteten Konzeption der Bundeswehr vom Juli 2018 liegen nun aber die politisch-militärischen Strategieelemente vor, um über die kommenden 10 bis 15 Jahre den Aufbau der Bundeswehr zu Streitkräften ins Auge zu fassen, die – zusammen mit Frankreich und Großbritannien – die zentralen Säulen europäischer Verteidigungsfähigkeit in NATO und EU bilden können.

Unsicherheit und Bedrohung

Das Weißbuch führt eine lange Reihe von Herausforderungen an, denen die deutsche Sicherheits- und Verteidigungspolitik begegnen muss. Sie reichen vom transnationalen Terrorismus über Risiken im Cyber- und Informationsraum zu zwischenstaatlichen Konflikten; von den Gefahren fragiler Staatlichkeit über die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen und Gefährdungen der Versorgungs- und Handelslinien bis hin zu Migration und Pandemien. Als Instrument dieser Sicherheitspolitik hat die Bundeswehr in allen diesen Feldern potenzielle Aufgaben wahrzunehmen. Diese unterscheiden sich aber natürlich stark voneinander, was Intensität, Reichweite und Ausprägung angeht. Die Analyse im Weißbuch legt nahe, dass vor allem das nunmehr stärker wahrgenommene Risiko einer zwischenstaatlichen kriegerischen Auseinandersetzung betont werden sollte.

Zwei Kerngedanken, die sich aus der Bedrohungsanalyse ableiten, sind dabei wichtiger als die genaue Priorisierung der langen Liste von Problemen. Erstens ist Russland nicht länger Deutschlands oder Europas strategischer Partner. Vielmehr kommt das Land in diesem Kontext als Rivale beziehungsweise als strategische Herausforderung für die europäische Sicherheit vor. Ein militärischer Konflikt mit Russland, zeitlich und räumlich wohl begrenzt, aber militärisch dennoch hoch intensiv, ist möglich, was die dringende Notwendigkeit von Landes- und Bündnisverteidigung betont.1 Zweitens weist die Vielschichtigkeit der Bedrohungslage auf das Merkmal der Unvorhersehbarkeit hin, das ironischerweise eine der wenigen Konstanten im Sicherheitsumfeld der vergangenen Jahre ist.

Diese beiden Einsichten prägen die Beschlüsse und Kommuniqués jedes NATO-Gipfeltreffens seit 2014, auch von 2018. Sie finden sich aber auch in der Globalen Strategie der Europäischen Union, die 2016 verabschiedet wurde, und sie haben im Sommer 2018 Einzug in die revidierte Fähigkeitsplanung der EU gehalten.

Jederzeit anpassungsfähig

Für die Konzeption der Bundeswehr leitet sich daraus ab, dass die deutschen Streitkräfte in der Lage sein müssen, „sich jederzeit an veränderte Anforderungen anpassen zu können“. Dazu müssen sie „über die in Qualität und Quantität erforderlichen Fähigkeiten [verfügen], … um jederzeit die anspruchsvollsten Aufgaben in der erforderlichen Reaktionszeit und zeitlichen Bindung voll umfänglich wahrnehmen zu können“. Das ist wiederum nur möglich, wenn die Truppe voll ausgerüstet und ausgebildet ist: „Die Grundaufstellung der Bundeswehr … [verlangt] die unmittelbare Verfügbarkeit der zur jeweiligen Aufgabenwahrnehmung erforderlichen materiellen Ausstattung … in allen militärischen Truppenteilen.“2

Die Konzeption kehrt damit zu einer Grundeinsicht der Verteidigungsplanung zurück, dass man nie so falsch liegen sollte, dass man nicht mehr reaktionsfähig ist, wenn sich das sicherheitspolitische Umfeld ändert. Dies schien sowohl unter SPD- als auch unter CDU-Verteidigungsministern in der Vergangenheit zeitweise ausgeblendet worden zu sein. Daraus ergibt sich: Auch wenn Aufgaben wie Landes- und Bündnisverteidigung gleichberechtigt neben Krisenmanagement und subsidiären Hilfsleistungen im Inland stehen, ist letztendlich die Landes- und Bündnisverteidigung strukturbegründend.

Die Folgen dieser Einsicht sind weitreichend: Die neue Konzeption der Bundeswehr bedeutet eine Abkehr von der Mängelverwaltung des dynamischen Verfügbarkeitsmanagements und ähnlicher Ansätze, die die Bundeswehr letztendlich ausgehöhlt haben. Wenn dieser neue Aufbau aber ernst genommen werden soll, dann bedeutet er: 100-prozentige Ausrüstung überall und immer. So heißt es auch in dem Bericht des Bundesverteidigungsministeriums zu Rüstungsangelegenheiten vom März 2018: „[D]ie der Aufgabe geschuldete schnelle Reaktionsfähigkeit erlaubt keine Lücken in der Ausstattung unserer Verbände und Einheiten.“3

„Erheblicher Änderungsbedarf“

Die gegenwärtigen Ausrüstungs- und Ausbildungslücken der Bundeswehr, ihre Probleme, einsatzbereite Verbände zu generieren und genügend geeignetes Personal zu rekrutieren und dann zu binden, sind hinreichend bekannt. Sie wurden sowohl mehrfach von Politik und Medien diskutiert als auch von politikberatenden Forschungsinstituten detailreich aufbereitet. Zusammen mit der Bedrohungslage ergibt sich daraus eine Situation, die Abteilungsleiter Planung des Verteidigungsministeriums, Generalleutnant Erhard Bühler, mit der Formulierung „erheblicher Änderungsbedarf für die Bundeswehr in allen nur möglichen zeitlichen und inhaltlichen Facetten“ umschrieben hat.4

Die Bundesregierung verknüpft ihre nationalen Zielvorgaben eng mit dem Verteidigungsplanungsprozess der NATO beziehungsweise leitet Fähigkeits­ziele, sofern möglich, direkt daraus ab. Im Atlantischen Bündnis steht Deutschland weiterhin unter einem gewissen Druck. Denn es ist eines der wenigen europäischen Länder, bei dem eine wesentliche Verbesserung der Fähigkeitslage – so sie erreicht werden würde – auch positive Auswirkungen auf die Gesamtfähigkeitslage in der NATO hätte (siehe dazu auch den Beitrag von Svenja Sinjen, S. 22 f.). Ein hochrangiger Offizier eines großen NATO-Mitgliedstaats führte Ende 2017 auf einer Konferenz 22 Fähigkeitsfelder an, auf denen größere Anstrengungen der europäischen Alliierten wünschenswert seien. In 20 von diesen 22 Feldern wurde Deutschland als einer der möglichen Leistungserbringer angeführt.

Wesentliche Parameter und Planungsannahmen sind bekannt, wie zum Beispiel das Vorhaben, das Heer bis 2032 so weit aufzubauen, dass drei Divisionen mit acht bis zehn voll einsatzfähigen gepanzerten Kampfbrigaden innerhalb von maximal 90 Tagen für die Bündnisverteidigung zur Verfügung stehen. Im Moment sind es zwei Divisionen mit insgesamt sechs Brigaden. Bereits jetzt und bis in die erste Hälfte des kommenden Jahrzehnts hinein müssen die bestehenden Strukturen so weit modernisiert und die Einheiten so weit ausgestattet werden, dass Deutschland die bereits in der NATO zugesagten Führungsaufgaben in der Very High Readiness Joint Task Force und der NATO Response Force wahrnehmen kann.

Für die Marine entsteht weniger Bedarf, ihre Grundstruktur anzupassen, als vielmehr dafür zu sorgen, dass die vorgesehenen 15 Schiffe und Boote für den Kampf über und unter Wasser verfügbar sind und alternde Typen durch neue ersetzt werden. Anders ist es bei der Luftwaffe: Sie soll künftig in der Lage sein, einen multinationalen Verband zu führen, der täglich 350 Kampfeinsätze fliegt, von denen Deutschland ungefähr 260 übernehmen würde. Die Zahl von Kampfeinsätzen, die an einem Tag pro Flugzeug durchgeführt werden kann, ist abhängig von einer Vielzahl von Parametern. Auswertungen und Berechnungen des International Institute for Strategic Studies (IISS) von Kampfeinsätzen der vergangenen 25 Jahre legen allerdings nahe, dass es sehr schwierig wird, bei einem Einsatz, der länger als sieben Tage dauert, eine Rate von mehr als 1,5 pro Tag durchzuhalten. Das würde also bedeuten, dass die Luftwaffe mehr als 170 Flugzeuge bereitstellen müsste, um diese Zielvorgabe erfüllen zu können. Zum Vergleich: Laut dem „Bericht zur materiellen Einsatzbereitschaft der Hauptwaffensysteme der Bundeswehr“ (Februar 2018) standen vergangenes Jahr im Schnitt 39 Eurofighter (von einem Bestand von insgesamt ca. 130) und 26 Tornados (Bestand ca. 90) zur Verfügung.

In gewisser Hinsicht geht es der Bundeswehr wie anderen Streitkräften in Europa auch. Sie benötigt bedeutende Finanzmittel, um entlang von drei Pfaden investieren zu können. Dies gilt erst recht, wenn Deutschland wirklich das „Rückgrat europäischer Sicherheit“ werden soll.5

Dazu muss erstens die Einsatzbereitschaft wieder aufgebaut werden. Dies erfordert unter anderem mehr Geld für Ersatzteile, Materialerhaltung, Übungen und Ausbildung sowie Logistik. Zweitens ist eine Modernisierung beziehungsweise Neubeschaffung wesentlicher Waffensysteme in allen Teilstreitkräften nötig. Drittens soll auch die Personalstärke der Bundeswehr wieder wachsen. Der Investitionsbedarf wurde von Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen 2016 mit 130 Milliarden Euro für den Zeitraum bis 2030 beziffert. Wenn man die international allgemein übliche Definition von Verteidigungsinvestitionen als Beschaffungskosten plus solche für Forschung, Entwicklung und Erprobung (FEE) zugrunde legt, dann gab das Bundesverteidigungsministerium im Jahr 2017 in diesem Bereich rund 5,25 Milliarden Euro aus. Es liegt auf der Hand, dass die Bundeswehr mit diesem langsamen Tempo dem eigenen Handlungsanspruch nicht gerecht werden kann (siehe dazu auch den Beitrag von Christian Mölling, Thorben Schütz und Alicia von Voss, S. 19 ff.).

Insgesamt zeigt sich, dass Deutschland – gemessen an den Aufgaben und den zu ihrer Erfüllung notwendigen Fähigkeiten – nicht genug Geld für die Verteidigung ausgibt. Zu Beginn der Finanzkrise von 2008 waren es 29,3 Milliarden Euro, was ungefähr 1,14 Prozent des Bruttoinlandsprodukts entsprach. Zehn Jahre später, im Jahr 2017, waren es dann 37 Milliarden Euro oder 1,13 Prozent des BIP. Inflationsbereinigt lagen die Verteidigungsausgaben 2017 damit bei 110 Prozent ihres Wertes von 2008. Wenn man allerdings berücksichtigt, dass die Inflationsrate im Verteidigungsbereich aufgrund von steigenden Technologiekosten gemeinhin wesentlich höher liegt als die der Gesamtwirtschaft, dürfte der Effekt über diese Dekade eher negativ sein (diese Berechnungen basieren auf der Datenbank Military Balance Plus des IISS).

Deutsche Bank Research hat berechnet, dass Deutschland im Jahr 2024 rund 80,5 Milliarden Euro für Verteidigung ausgeben müsste, wenn die Bundesregierung das 2-Prozent-Ziel der NATO, dem es sich 2014 verpflichtet hat, umsetzen wollte. Dazu wäre eine jährliche Steigerungsrate des Verteidigungshaushalts von etwa 12 Prozent notwendig. Eine derartige Geschwindigkeit legt die Bundesregierung aber bisher lediglich in einzelnen Jahren vor, wie zum Beispiel ein Blick in die neueste Mittelfristige Finanzplanung des Bundes und die Haushaltsdaten für 2018 und 2019 zeigen.

Wichtig ist aber bei allen Rechenspielen vor allem, dass finanzielle Mehranstrengungen auf der Bedrohungsanalyse der Bundesregierung und dem deutschen Handlungsanspruch beruhen. Es geht weder darum, blind Forderungen von US-Präsident Donald Trump nach „mehr Geld“ zu erfüllen, noch handelt es sich um unbegründete Aufrüstungsschritte. Der Weg zur Wiederherstellung der vollen Einsatzbereitschaft der Bundeswehr ist mittlerweile recht gut abgesteckt. Er ist lang und teuer. Und er ist notwendig.

Dr. Bastian Giegerich ist Director of Defence and Military Analysis beim International Institute for Strategic Studies (IISS) in London.

  • 1Siehe hierzu Rainer Meyer zum Felde: Abschreckung und Dialogbereitschaft – der Paradigmenwechsel der NATO seit 2014, Sirius 2/2018, S. 101–117, besonders S. 102–104.
  • 2Bundesministerium der Verteidigung: Konzeption der Bundeswehr, Berlin, 20.7.2018. Zitate auf den Seiten 4, 36 und 72.
  • 3Bundesministerium der Verteidigung: Bericht des BMVg zu Rüstungsangelegenheiten, ­Berlin, 2.3.2018, S. 4.
  • 4Bühler, zitiert in Johannes Leithäuser und Marco Seliger: Bis zu den Sternen, FAZ, 19.4.2017.
  • 5Rainer L. Glatz und Martin Zapfe: Ambitionierte Rahmennation: Deutschland in der Nato. Die Fähigkeitsplanung der Bundeswehr und das „Framework Nations Concept“. SWP Aktuell 62, 2017, S. 1.
Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, September-Oktober, 2018, S. 14 - 18

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