IP

01. Sep 2005

Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit

„Failed states“ werden zum zentralen Problem der Weltpolitik

In rund zwei Dritteln der heutigen Staatenwelt ist das staatliche Gewaltmonopol nur noch eingeschränkt durchsetzbar, neue Regierungsformen entstehen. Das hat schwerwiegende Konsequenzen für die internationale Politik: Zurzeit orientieren sich Hilfsmaßnahmen zur (Wieder-)Herstellung von Staat-lichkeit fast vollständig am Idealbild des demokratischen Wohlfahrtsstaats westlicher Prägung. Doch was wäre, wenn der moderne Nationalstaat weltweit zur Ausnahme würde?

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts steht die Welt vor einer Reihe großer Herausforderungen. Humanitäre Katastrophen, Pandemien wie HIV/AIDS und die Bekämpfung von Hunger und Unterentwicklung sind nicht mehr „nur“ isolierte Probleme der so genannten Dritten Welt, sondern betreffen Sicherheit und Wohlfahrt der entwickelten Welt unmittelbar. Das gleiche gilt für die Klimaerwärmung und andere globale Umweltprobleme. Gleichzeitig steht die Welt vor neuen Sicherheitsbedrohungen, die von transnationalen TerrorNetzwerken und der Weiterverbreitung von Massenvernichtungsmitteln ausgehen. Bürgerkriege und Gewaltmärkte in den Krisenregionen der Welt – von Afrika südlich der Sahara über den Mittleren Osten, die Peripherie Russlands, Teile Asiens und Lateinamerikas – bedrohen nicht nur die Stabilität der jeweiligen Regionen, sondern die internationale Sicherheit insgesamt.

Nicht verursacht, aber verstärkt wird diese globale Problematik durch etwas, das man „begrenzte Staatlichkeit“ nennen könnte. Damit sind Länder gemeint, deren Regierungen nur teilweise oder gar nicht über die Kontrolle der Gewaltmittel nach innen und außen – also ein legitimes Gewaltmonopol – verfügen und die nicht oder nur zum Teil in der Lage sind, politische Entscheidungen der Zentralregierung auch durchzusetzen. Mit anderen Worten: Räumen begrenzter Staatlichkeit fehlt es zumindest teilweise an „effektiver Gebietsherrschaft“ als Minimalcharakteristikum moderner Staatlichkeit.

Dabei genügt ein kurzer Blick in die Tageszeitungen: Afghanistan, Kolumbien, Kongo, Sudan – „begrenzte Staatlichkeit“ ist zu einem allgegenwärtigen Bestandteil der globalen Politik geworden. Die Fragen, wie unter diesen Bedingungen regiert wird und welchen Beitrag die internationale Gemeinschaft dazu erbringen kann, sind zentrale Themen der Weltpolitik geworden. Und dass solche Räume uns direkt betreffen, haben die Terroranschläge in London mit ihren Verbindungen nach Pakistan im Juli wieder deutlich gemacht.

Dabei geht es nicht nur, wie die Beispiele suggerieren, um zerfallene und zerfallende Staaten, gewaltoffene Räume also, bei denen weder das Gewaltmonopol noch die Fähigkeit staatlicher Akteure zur effektiven Durchsetzung politischer Entscheidungen vorhanden sind. Zerfallene Staaten wie etwa der Sudan zeichnen sich zwar gegenüber multinationalen Unternehmen wie DaimlerChrysler oder General Electric dadurch aus, dass bei ihnen immer noch „Staat“ drauf steht, und sei es nur als mehr oder weniger fiktive Zuschreibung seitens der Staatengemeinschaft (siehe dazu auch den Beitrag von Christoph Zürcher in diesem Heft). Aber im Innern dieser Staaten finden wir nur noch rudimentäre Elemente von Staatlichkeit. Allerdings machen zerfallen(d)e Staaten nur einen kleinen Teil der Räume begrenzter Staatlichkeit aus, mit denen es die Weltpolitik heute zu tun hat. Auch bei den meisten Entwicklungs und Übergangsgesellschaften handelt es sich um Räume begrenzter Staatlichkeit in dem Sinne, dass hier das staatliche Gewaltmonopol und die Fähigkeit zur Rechtsdurchsetzung häufig nur eingeschränkt gegeben sind, und zwar zumeist aufgrund fehlender politischer und administrativer Kapazitäten. Brasilien und Mexiko auf der einen Seite und Somalia sowie der Sudan auf der anderen Seite bilden somit die Endpunkte eines Kontinuums von Räumen begrenzter Staatlichkeit ab.

Wenn aber die meisten Entwicklungs und Transformationsgesellschaften und alle zerfallen(d)en Staaten zu „Räumen begrenzter Staatlichkeit“ gehören, dann handelt es sich schätzungsweise um zwei Drittel der heutigen Staatenwelt. Dies wiederum hat schwerwiegende Konsequenzen für die internationale Politik. Denn die Welt als Staatenwelt beruht auf der kontrafaktischen Fiktion, dass sie von modernen Nationalstaaten bevölkert ist, die über ein funktionierendes Gewaltmonopol nach innen und außen verfügen und an deren Fähigkeit zur Rechtsdurchsetzung keine Zweifel bestehen. Auch das Völkerrecht beruht auf der Fiktion souveräner Nationalstaaten, die Souveränitätszuschreibung seitens der Staatengemeinschaft geht von der Annahme aus, man habe es mit funktionierenden Staaten im Sinne „effektiver Gebietsherrschaft“ zu tun. Das Verbot der Einmischung in die inneren Angelegenheiten beruht u.a. auf der Vorstellung, dass souveräne Nationalstaaten sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern können (vgl. den Beitrag von Stephen D. Krasner in diesem Heft). Ironischerweise sind es gerade viele Staaten der Dritten Welt, die zu den Räumen begrenzter Staatlichkeit gehören, aber zugleich auf ihre nationalen Souveränitätsrechte gegen äußere Einmischung pochen.

Nationalstaaten – eine historische Ausnahme?

Könnte es angesichts der vielfältigen Räume begrenzter Staatlichkeit sein, dass sich der moderne, entwickelte und souveräne Nationalstaat letztlich als historische Ausnahme erweist? Denn auch in Europa, von wo aus moderne Nationalstaatlichkeit ihren Ausgangspunkt nahm, hat sie sich eigentlich erst im 19. Jahrhundert durchgesetzt im Sinne der endgültigen Etablierung des Gewaltmonopols nach innen und außen. Die Globalisierung von Staatlichkeit als dominanter Organisationsform des zeitgenössischen internationalen Systems fand sogar erst in den 1960er Jahren mit der Entkolonialisierung statt. Erleben wir heute – kaum 50 Jahre später – bereits wieder den Anfang vom Ende moderner Staatlichkeit? Oder wird sich schließlich der moderne demokratische Rechts und Interventionsstaat weltweit durchsetzen? Letzteres ist zumindest das Leitbild, das allen entwicklungspolitischen und Demokratieförderungsprogrammen zugrunde liegt – von den Vereinten Nationen über die Weltbank und die USA bis hin zur Europäischen Union und ihren Mitgliedsstaaten. Deren „Good governance“Programme orientieren sich allesamt an der modernisierungstheoretischen Zielperspektive, dass Entwicklungs und Transformationsgesellschaften allmählich von der Logik moderner demokratischer Rechtsstaatlichkeit eingeholt werden (vgl. zu dieser Problematik auch den Beitrag von Gunnar Folke Schuppert in diesem Heft). Zwar hat sich heute eine etwas andere Variante der Modernisierungstheorie politisch durchgesetzt als diejenige, die in den 1960er Jahren en vogue war. Damals argumentierten Entwicklungstheoretiker wie Dankwart Rustow oder Samuel Huntington, Voraussetzung der Modernisierung seien Wirtschaftswachstum und Öffnung gegenüber den Weltmärkten, was dann schließlich zu Säkularisierung und Demokratisierung führen würde. Heute hat sich bei den nationalen und internationalen Entwicklungsorganisationen die Vorstellung durchgesetzt, dass Demokratisierung, der Aufbau rechtsstaatlicher Institutionen und die wirtschaftliche Liberalisierung gleichzeitig erfolgen müssten, um Modernisierung zu erreichen. Hinzu kommt „statebuilding“, wenn man es mit zerfallenen Staaten zu tun hat. Aber die Zielperspektive dieser Maßnahmen ist immer die gleiche: der entwickelte demokratische Rechts und Interventionsstaat westlicher Prägung, der gleichsam als „Modernisierungspaket“ zu institutionalisieren ist.

Was aber, wenn wir es weltpolitisch dauerhaft mit Räumen begrenzter Staatlichkeit zu tun hätten? Was wäre, wenn westliche entwickelte Demokratien nur eine mögliche Ausprägungsform guter politischer Ordnung darstellten, aber beileibe nicht die einzige? Es könnte ja sein, dass die anfangs erwähnten weltweiten Herausforderungen die Folge eines Trends von Globalisierung und Transnationalisierung „von oben“ bei gleichzeitiger Aushöhlung klassischer Staatlichkeit „von unten“ sind, dass wir also das Ende moderner Staatlichkeit erleben. Aber selbst wenn man so weit nicht gehen will: Welche politischen Konsequenzen ergeben sich für die internationale Ordnung, das Völkerrecht und die Weltpolitik, wenn wir es dauerhaft und nicht nur übergangsweise mit Räumen begrenzter Staatlichkeit zu tun haben?

Damit ist die Problematik des Regierens – von Governance – in Räumen begrenzter Staatlichkeit angedeutet: Wie und unter welchen Bedingungen kann in Räumen begrenzter Staatlichkeit regiert werden, und welche Probleme entstehen dabei?

Herrschaft, Sicherheit, Wohlfahrt

Um sich der Beantwortung dieser Frage anzunähern, könnte es zunächst einmal helfen, sich der GovernanceLeistungen moderner Nationalstaaten zu vergewissern. Der moderne Nationalstaat stellt erstens eine Herrschaftsordnung dar, ein System von politischen und sozialen Institutionen, die der Herstellung und Durchsetzung von autoritativen Entscheidungen dienten. Heute gehören Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu den allgemein akzeptierten normativen Vorgaben dieser Herrschaftsordnung. Zweitens hatte der moderne Nationalstaat die Aufgabe, die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger nach innen zu gewährleisten. Dem diente das Gewaltmonopol. Schließlich gehört drittens die Bereitstellung öffentlicher Güter zu den klassischen Staatsaufgaben, von der Herstellung ökonomischer Stabilität, der Gewährleistung eines Mindestmaßes an sozialer Absicherung bis zur öffentlichen Gesundheit, Bildung und – heute – des Erhalts der natürlichen Umwelt. Kurz: Der moderne Nationalstaat erbrachte und erbringt GovernanceLeistungen in den Bereichen Herrschaft, Sicherheit und Wohlfahrt.

Governance – hier verstanden als die Gesamtheit der vielfältigen kollektiven Regelungsformen gesellschaftlicher Sachverhalte – in Räumen begrenzter Staatlichkeit bedeutet nun in normativer Hinsicht, genau diese Leistungen zu erbringen, ohne dass die „effektive Gebietsherrschaft“ als ein Kernelement von Staatlichkeit vollständig gegeben wäre. Unter diesen Umständen ist zu vermuten, dass sich in Räumen begrenzter Staatlichkeit politische Regelungsformen herausbilden, die in der sozialwissenschaftlichen GovernanceDiskussion als „neue Formen des Regierens“ diskutiert werden.

Damit ist erstens gemeint, dass nichtstaatliche Akteure direkt in die politische Steuerung einbezogen werden, z.B. im Rahmen von öffentlichprivaten Kooperationspartnerschaften (Public Private Partnerships). Zu solchen nichtstaatlichen Akteuren gehören Wirtschaftsunternehmen und Nichtregierungsorganisationen (NGOs) ebenso wie Familienclans und klientelistische Netzwerke – vor allem in Räumen begrenzter Staatlichkeit. Dabei geht es nicht um die klassische Beeinflussung von Politik durch nationale oder transnationale gesellschaftliche Akteure, ein Thema, das inzwischen auch für die internationalen Beziehungen umfassend erforscht worden ist. Vielmehr sind Formen des Mitregierens bzw. die Übernahme von Regierungsfunktionen durch nichtstaatliche Akteure gemeint. Wenn nichtstaatliche Akteure nicht nur staatliches Handeln beeinflussen, sondern mitregieren, dann führt dies zu hybriden Formen von Politik, eben den „neuen“ Formen von Governance.

Die „neuen“ Formen1 des Regierens zeichnen sich zweitens dadurch aus, dass sie weniger hierarchisch „von oben nach unten“ ausgerichtet sind, sondern vor allem über Mechanismen weicher Steuerung erfolgen. Während die Rechtsdurchsetzung klassischer Nationalstaaten autoritativ und notfalls mithilfe einer sanktionsbewehrten Zentralgewalt erfolgt, stehen Räumen begrenzter Staatlichkeit diese Instrumente hierarchischer Steuerung nur begrenzt oder gar nicht zur Verfügung. Um zentrale Entscheidungen durchzusetzen, sind Regierungen daher auf die Kooperation der Betroffenen angewiesen.

Formen weicher Steuerung reichen von Anreizsteuerung und „benchmarking“ über die Initiierung kommunikativer Lern und Überzeugungsprozesse bis hin zu diskursiver Strukturierung und symbolischer Orientierung. So sollen anstelle von Sanktionsdrohungen positive Anreize die KostenNutzenKalküle der Betroffenen beeinflussen und das sozial oder politisch erwünschte Verhalten induzieren. Durch „bargaining“ werden Vereinbarungen und Kompromisse aufgrund der gegebenen Interessen der Akteure horizontal ausgehandelt. Nichtmanipulative Kommunikations, Überzeugungs und Lernprozesse zielen demgegenüber darauf ab, dass die beteiligten Akteure ihre Interessen zur Disposition stellen und neue Normen und Regeln internalisieren. Schließlich gehören zur „weichen Steuerung“ all jene Mechanismen, die das Handlungsfeld der Akteure über den Zusammenhang von Macht und Wissen in Diskursen strukturieren oder die Steuerungsleistungen durch eine symbolische Orientierung der Adressaten erbringen.

Die „neuen“ Formen des Regierens unterscheiden sich somit von herkömmlichen Formen politischer Steuerung sowohl in Bezug auf die beteiligten Akteure als auch in Bezug auf die Art und Weise der Handlungskoordination (vgl. Tabelle).

Zu vermuten ist, dass sich in Räumen begrenzter Staatlichkeit Formen von Governance herausbilden, die nichthierarchische bzw. „weiche“ Formen der politischen Steuerung nutzen und auf vielfältigen Kooperationsformen zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren basieren. Die Schwäche von klassischer Staatlichkeit führt dazu, dass öffentlichprivate Kooperationen oder rein private GovernanceFormen von der Ausnahme zur Regel werden, weil sonst GovernanceLeistungen gar nicht erbracht werden können. Während Public Private Partnerships auch in den westlichen entwickelten Staaten gang und gäbe sind, hier allerdings staatliches Handeln eher ergänzen statt es zu ersetzen, werden GovernanceNetzwerke zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren in Räumen begrenzter Staatlichkeit vielfach zur Regelform des Regierens, die klassische Staatsfunktionen zunehmend ersetzen.

Ein weiteres Charakteristikum von Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit kommt hinzu: In den meisten Entwicklungs und Übergangsgesellschaften, aber erst recht in den zerfallen(d)en Staaten in den Krisenregionen sind die lokalen und nationalen Politiknetzwerke auf die Zusammenarbeit mit internationalen und transnationalen Akteuren angewiesen. Diese reichen von ausländischen Regierungen über internationale (zwischenstaatliche) Organisationen (z.B. die Vereinten Nationen und ihre Unterorganisationen) bis hin zu transnational operierenden nichtstaatlichen Akteuren wie multinationalen Unternehmen und NGOs. Dieses Mitregieren inter und transnationaler Akteure ergibt sich wieder funktional aus der Notwendigkeit, auch in Räumen „schwächelnder“ Staatlichkeit GovernanceLeistungen bereitstellen zu müssen. Dabei werden häufig Impulse für effektive und legitime Steuerung einschließlich der (Wieder)Herstellung von Staatlichkeit aus dem transnationalen Raum in Länder der Dritten Welt hineingetragen, beispielsweise von internationalen Organisationen oder multinationalen Unternehmen. Umgekehrt fordern vielfach nationale nichtstaatliche Akteure (z.B. Unternehmen oder NGOs) im Inneren dieser Länder bessere GovernanceStrukturen und erbitten dazu internationale Unterstützung, auch gegebenenfalls entgegen den Interessen von nationalen staatlichen Akteuren. Mit anderen Worten, das „Regieren in Mehrebenensystemen“, wie wir es aus der EU kennen, kennzeichnet auch die GovernanceProblematik in Räumen begrenzter Staatlichkeit.

Aber diese besonderen Formen von Governance, die sich in Räumen begrenzter Staatlichkeit herausbilden, bringen ihre eigenen Probleme mit sich. Erstens ist nicht ausgemacht, ob öffentlichprivate Kooperationspartnerschaften Teil der Lösung oder Teil des Problems darstellen. Beispielsweise handelt es sich bei neopatrimonialen Herrschaftsformen in weiten Teilen Afrikas, aber auch im südlichen Kaukasus, durchaus um Formen von Public Private Partnerships. Aber hier werden GovernanceLeistungen nur für einen kleinen Teil der Bevölkerung erbracht, nämlich für die Mitglieder klientelistischer Netzwerke. Schlimmstenfalls wird der „Reststaat“ privatisiert, werden seine Ressourcen und Institutionen zur privaten Bereicherung der Herrschenden und ihrer Klientel ausgeplündert.

Zweitens erweist sich die Verschränkung zwischen transnationalen und lokalen bzw. nationalen Ebenen oft als problematisch. Die Privatisierung und Kommerzialisierung von Sicherheit, die wir häufig in gewaltoffenen Räumen zerfallen(d)er Staatlichkeit beobachten, läuft darauf hinaus, dass sich transnationale Akteure in Zusammenarbeit mit lokalen Kriegsherren in Gewaltmärkten bereichern und dabei ein Interesse an der Aufrechterhaltung bürgerkriegsähnlicher Zustände entwickeln. Wenn dazu noch begehrte Rohstoffvorkommen in den entsprechenden Ländern kommen, lassen sich die Gewaltverhältnisse über die Gewinnbeteiligung an der Rohstoffausbeutung finanzieren und damit perpetuieren.

Selbst wohlgemeinte internationale Hilfen für die wirtschaftliche und politische Entwicklung und international gestützte Maßnahmen zum Institutionenaufbau und zum Aufbau politischadministrativer Kapazitäten können kontraproduktive Wirkungen entfalten. Sie können zu einem Phänomen führen, das man „DonorMelken“ nennt, d.h., die internationalen Hilfen werden zur Finanzierung und Aufrechterhaltung neopatrimonialer Herrschaft und ihrer klientelistischen Netzwerke verwendet statt zum Aufbau rechtsstaatlicher Strukturen. Verzichtet die internationale Gemeinschaft hingegen ganz auf externe Unterstützung oder beharrt allzu strikt auf politischer Konditionalität, dann befördert sie unter Umständen sogar das, was sie vermeiden will, nämlich den Staatszerfall. Einen Ausweg könnte das von der  amerikanischen Regierung initiierte Programm des „Millenium Challenge Account“ bieten: Hier müssen Regierungen schwacher Staaten der Dritten Welt zunächst gewisse Vorleistungen im Hinblick auf „good governance“ erbringen, bevor sie für amerikanische Entwicklungshilfe qualifiziert sind.

Ein drittes Problem von Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit hat sowohl theoretische als auch politischpraktische Implikationen. Einerseits sollten die „neuen“ Formen des Regierens mithilfe privater Akteure und „weicher“ Steuerung für Defizite hierarchischstaatlicher Rechtsdurchsetzung kompensieren und damit Staatsfunktionen ersetzen. Andererseits ist nicht ausgemacht, ob ein Minimum an (Rest)Staatlichkeit notwendig ist, damit solche GovernanceLeistungen über öffentlichprivate Kooperationspartnerschaften mit internationaler Beteiligung überhaupt erbracht werden können. Die diversen Datensätze zur GovernanceProblematik – etwa der Weltbank oder der BertelsmannStiftung – zeigen beispielsweise, dass zerfallene Staaten in allen drei Bereichen – Herrschaft, Sicherheit und Wohlfahrt – am unteren Ende der Skalen zu finden sind. Daraus könnte man schließen, dass ein Minimum an „effektiver Gebietsherrschaft“ notwendig ist, um überhaupt GovernanceLeistungen durch andere als staatliche Akteure erbringen zu können. In der westlichen GovernanceDiskussion wird dies als „Schatten der Hierarchie“ (Fritz W. Scharpf) bezeichnet. Können beispielsweise Sicherheitsfunktionen vollständig privatisiert werden, oder ist ein Minimum an staatlicher Gewaltkontrolle notwendig (vgl. den Beitrag von Christoph Zürcher)? Wenn Rechtsstaatlichkeit eine GovernanceRessource darstellt, indem sie Verlässlichkeit und Berechenbarkeit herstellt (vgl. den Beitrag von Gunnar Folke Schuppert), so ist bei der Suche nach funktionalen Äquivalenten zu fragen, ob Rechtsstaatlichkeit nicht auf ein Minimum staatlicher Rechtsdurchsetzungsfähigkeit angewiesen ist.

Die Antworten auf diese Fragen haben nicht nur wissenschaftlichtheoretische, sondern bedeutsame politischpraktische Implikationen. Zurzeit orientiert sich – wie erwähnt – die internationale Gemeinschaft bei ihren Hilfsmaßnahmen zur (Wieder)Herstellung von Staatlichkeit noch fast vollständig am Idealbild des entwickelten und demokratischen Wohlfahrtsstaats westlicher Prägung. Wenn wir es aber – wie in diesem Beitrag argumentiert – in Zukunft mit Räumen begrenzter Staatlichkeit als Regel statt als Ausnahmefall zu tun haben, dann wird diese Zielvorgabe problematisch, weil sie weder praktikabel noch normativ geboten ist. Wenn Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit in Zukunft systematisch auf die Mitwirkung nichtstaatlicher Akteure, auf nichthierarchische Steuerungsformen und die Beteiligung der internationalen Gemeinschaft angewiesen ist, dann kommt es vor allem darauf an, die Erfolgsbedingungen dieser „neuen“ GovernanceFormen zu bestimmen. Normatives Kriterium müsste sein, wie unter den Bedingungen begrenzter Staatlichkeit legitimdemokratisch und effektiv – d.h. an Problemlösungsfähigkeit orientiert – regiert werden kann, ohne dass hier ein bestimmtes – von westlichen Erfahrungen geprägtes – kulturelles Skript die Vorgabe bildete. Nur auf diese Weise könnte im Übrigen auch dem Verdacht begegnet werden, es gehe bei „good governance“ letztlich um eine neue Form des westlichen Imperialismus und Kolonialismus.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 9, September 2005, S. 6 - 12

Teilen

Mehr von den Autoren