IP

01. Mai 2009

„Gorbatschow war ein Glücksfall“

Helmut Schmidt über die Bonner Republik zwischen Nachrüstung und Entspannung

Helmut Schmidt im Interview über den NATO-Doppelbeschluss, die deutsche Entspannungspolitik gegenüber der Sowjetunion, Gorbatschows Rolle im Wiedervereinigungsprozess und die geostrategischen Veränderungen, die sich für Deutschland und Europa aus der Wiedervereinigung ergaben.

IP: Herr Schmidt, Sie haben im Spätsommer 1979 vor dem Kanzleramt ein Kunstwerk Henry Moores errichten lassen, eine voluminöse zweiteilige Skulptur. Seither wurde viel in dieses Werk hineingedeutet: So ist in der jüngsten Biografie über Sie zu lesen, die Skulptur stehe für die damaligen Prinzipien der Bundesrepublik, nämlich außenpolitische Zurückhaltung und innenpolitische Integration. Gerhard Schröder wiederum erkannte darin ein Symbol der damaligen Bonner „Konsenspolitik“ und wollte die Skulptur nicht mit nach Berlin nehmen. Wofür stand das Werk denn?

Schmidt: Die Geschichte dieses Kunstwerks ist viel harmloser als da nachträglich hineininterpretiert wird. Der Platz vor dem Kanzleramt war scheußlich und das Bauwerk auch nicht gerade attraktiv. Als Moore den Platz sah, sagte er, da kann man keine Skulptur aufstellen, auch wenn er uns am Ende doch seine „Large two forms“ zur Verfügung gestellt hat. Ich habe sie privat – nicht öffentlich – als Symbol für die geteilte Nation aufgefasst: Beide Hälften der Skulptur passten zusammen, standen nebeneinander, waren aber nicht miteinander verbunden.

IP: Zehn Jahre später wurde diese Symbolik bereits vom Gang der Geschichte eingeholt. Hätten Sie 1982, nach dem Ende Ihrer Regierungszeit, damit gerechnet, dass es so schnell zu einem Zerfall der Blöcke und damit der deutschen Wiedervereinigung kommen würde?

Schmidt: Man konnte 1982 diesen Zerfall nicht vorhersehen, da waren noch die alten Herren im Kreml am Ruder, Gorbatschow kam ja erst Mitte der achtziger Jahre an die Macht. Aber dass sich eines Tages die Mächtekonstellation in Europa ändern würde, das habe ich immer erwartet, allerdings erst für das 21. Jahrhundert.

IP: Damals war der Kalte Krieg in vollem Gang, der von Ihnen forcierte NATO-Doppelbeschluss spaltete die Bundesrepublik. Ihr Festhalten an der Nachrüstung setzte Sie massiven Anfeindungen aus, die Demonstration im Bonner Hofgarten im Herbst 1981 stand für die Geburt der Friedensbewegung. Im Nachhinein hat Ihnen die Geschichte dennoch Recht gegeben.

Schmidt: Ja, das kann man so sagen.

IP: Es gibt sogar Stimmen, die den Doppelbeschluss als Voraussetzung der Wiedervereinigung betrachten.

Schmidt: Diese Übertreibung würde ich mir nicht zu eigen machen.

IP: Zwang die Nachrüstung des Westens mit Pershing-II-Raketen die Sowjetunion dazu, sich den gescheiterten Abrüstungsverhandlungen wieder zu öffnen?

Schmidt: Ja, aber das habe ich von Anfang an erwartet.

IP: Warum war der Beschluss in der deutschen Öffentlichkeit so umstritten?

Schmidt: Weil die Menschen sich emotional haben aufpeitschen lassen, von Pazifisten und friedensbewegten Gemütern. Zwischen meiner damaligen Regierung und der CDU/CSU-Opposition war der Doppelbeschluss jedoch unumstritten.

IP: Trotz Massendemonstrationen ließen Sie sich nicht von Ihrem Kurs abbringen. Hatte es den Sowjets imponiert, dass Sie eine harte Haltung zeigten?

Schmidt: Darüber kann man nur spekulieren. Die damalige Haltung des Politbüros war: Wir haben die SS-20-Raketen, und der Westen hat nichts Gleichwertiges. Was sollen wir also darüber verhandeln? Diese Haltung hatte sich dann aufgeweicht, als die Sowjets sehen mussten, dass die Nachrüstung auch tatsächlich vollzogen wurde.

IP: Sie hatten damals Sorge, dass Europa durch die Mittelstreckenraketen der Sowjets erpresst werden könnte…

Schmidt: Nicht Europa, sondern Deutschland. Europa hätte vielleicht auch erpresst werden können, aber meine Sorge galt insbesondere deren Möglichkeit, die Deutschen zu ängstigen und sie zu nötigen.

IP: Daher wollten Sie die Amerikaner davon überzeugen, auch die Mittelstreckenraketen in die damaligen SALT-II-Verhandlungen zwischen Amerikanern und Sowjets einzubeziehen. Das hatte aber zunächst nicht geklappt.

Schmidt: Gegenüber dem amerikanischen Präsidenten Gerald Ford hatte das durchaus geklappt. Aber sein Nachfolger Jimmy Carter sah das anders und dessen Nachfolger, Ronald Reagan, zunächst auch.

IP: Was war Ihr damaliger Eindruck von Reagan, im Vergleich zu Carter, mit dem Sie ja zum Ende seiner Amtszeit stark aneinander gerieten?

Schmidt: Nicht nur am Ende. Es gab einen deutlichen Unterschied zwischen den beiden. Reagan war sehr viel stärker vom Kalten Krieg geprägt als Carter, aber Carter war insofern schwierig, als er mehrmals in entscheidenden Dingen seine Meinung geändert hat. Reagan war stur, aber er war berechenbar. Carter war nur schwer berechenbar.

IP: War denn sein Gegenüber Breschnew in Moskau berechenbar?

Schmidt: Als Person ja. Aber es war nicht ganz eindeutig, wer damals in Moskau die Entscheidungen traf. Erst nachträglich habe ich erfahren, dass die SS-20-Rüstung nicht im Politbüro der Kommunistischen Partei beschlossen worden ist, sondern zwischen der militärischen Führung einerseits und Breschnew andererseits.

IP: Hatten Sie damals die Befürchtung, dass es tatsächlich zu einem Militärschlag der Sowjets kommen könnte?

Schmidt: Das letztere weniger, aber ich habe die inneren Schwierigkeiten der Sowjetunion und des Warschauer Paktes sehr deutlich gesehen und mit der Möglichkeit gerechnet, dass mit Hilfe dieser SS-20-Raketen eine spätere sowjetische Regierung Deutschland in Bedrängnis bringen würde. Und ich war nicht sicher, wie die Amerikaner in solch einer Lage reagieren würden.

IP: Warum hegten Sie Zweifel?

Schmidt: Ich hatte ja miterlebt, wie sie auf die Berlin-Blockade nicht reagiert haben, ich hatte miterlebt, wie sie auf den Bau der Mauer nicht reagierten, und ich habe miterlebt, wie sich in der kubanischen Raketenkrise die Amerikaner mit Herrn Chruschtschow verständigten.

IP: Die Nötigungsgefahr bestand also?

Schmidt: Ja, und ich wusste nicht, wie die deutsche öffentliche Meinung darauf reagieren würde und auch nicht, wie die amerikanische öffentliche Meinung darauf reagieren würde.

IP: Wie hätte denn eine Nötigung durch die Sowjets konkret aussehen können?

Schmidt: Sie hätte sich zum Beispiel auf das Unterlassen des weiteren Ausbaus der Bundeswehr beziehen können, auf ökonomische Hilfe für die DDR, auf ökonomische Hilfe für andere Staaten in Osteuropa. Für manche Leute in Russland, welche die Welt nicht kannten, war die Vorstellung von 80 Millionen Deutschen unheimlich. Und es kam hinzu, dass die Russen ökonomisch zurückblieben. Der wirtschaftliche Zustand der Sowjetunion in den achtziger Jahren war bejammernswert und mindestens einige der dortigen Führer begriffen das.

IP: Nicht zuletzt Gorbatschow.

Schmidt: Er hatte es begriffen und hat in einem bodenlosen Idealismus versucht, viele Dinge auf einmal in Ordnung zu bringen, aber das ging ganz schief. Da war der Chinese Deng Xiaoping, der vor einem ähnlichen Problem stand, sehr viel klüger.

IP: Hätte es ohne Gorbatschow keine Wiedervereinigung gegeben?

Schmidt: Das kann man so nicht sagen, jedenfalls hat er wegen der Schwäche zuhause mitgemacht. Wenn jemand anderes noch im Amt gewesen wäre, Herr Andropow oder Herr Tschernenko oder Herr Ustinow, der damalige Verteidigungsminister, dann weiß man nicht, wie die reagiert hätten. Möglicherweise hätte es dann auch keine Perestroika gegeben, mit Sicherheit kein Glasnost.

IP: Gorbatschow setzte wieder auf Entspannung, während Reagan jenseits des Atlantiks Amerika hochrüstete. Wann änderte sich diese Haltung?

Schmidt: Beim Treffen von Reagan und Gorbatschow in Reykjawik 1987. Reagan hatte damals, vielleicht sogar, ohne es bewusst zu wollen, tatsächlich eine wesentliche Veränderung der amerikanischen Position gegenüber der Sowjetunion vollzogen. Ich habe mich darüber später mit Gorbatschow, als er schon Privatmann war, unterhalten. Und Gorbatschow hat mir seine Version dieses Treffens in Reykjawik geschildert. Ich habe ihn dabei unterbrochen und eingeworfen, dass Reagan doch gar nicht habe verstehen können, worüber sie redeten. Und Gorbatschow hat geantwortet: „Das stimmt, aber sein Außenminister Shultz war dabei und der wusste genau, worum es geht.“

IP: Reagan war zuverlässig, hatte aber keine Ahnung von globaler Politik?

Schmidt: Ja, noch weniger Ahnung als George W. Bush.

IP: Und sein Auftritt in Berlin 1987, bei dem er Gorbatschow aufforderte, die Mauer niederzureißen: War das bloße Schauspielerei oder auch ernst gemeint?

Schmidt: Es war beides zugleich.

IP: Zu Beginn der achtziger Jahre stammte von Ihnen das Diktum: „Amerika ist unser wichtigster, Frankreich unser engster Verbündeter.“ Wie eng waren die Beziehungen zu Paris?

Schmidt: Das gute Zusammenspiel zwischen dem Präsidenten Giscard D’Estaing und mir setzte sich fort zwischen Mitterrand und mir und zwischen Mitterrand und Kohl.

IP: Wie lautete damals der Grundsatz deutscher Außenpolitik?

Schmidt: Europäische Integration und das Bündnis mit den Amerikanern. Aber gleichzeitig auch: Entspannung gegenüber der Sowjetunion und ihrer damals ungeheuren Macht.

IP: Wie groß war der politische Handlungsspielraum, den Sie als Kanzler dieser Bundesrepublik hatten?

Schmidt: Immerhin war er so groß, dass ich durch meine Opposition gegenüber Carter den Doppelbeschluss überhaupt erst herbeigeführt habe.

IP: In enger Abstimmung mit den Franzosen und Briten?

Schmidt: Ja, mit den Engländern, aber vor allem mit den Franzosen. IP: Die Versöhnung mit Frankreich war eines der Kernprojekte westdeutscher Politik. Gleichzeitig hat Ihre Partei seit den siebziger Jahren mit der Ostpolitik auf eine schrittweise Annäherung mit den osteuropäischen Nachbarn gesetzt. Wie wirkte sich der polnische Befreiungskampf der Solidarnosc und das im Herbst 1981 verhängte Kriegsrecht auf Ihre Politik aus?

Schmidt: Es hat die Ostpolitik nicht beeinträchtigt, zumal wir den Polen mit einer millionenfachen Paket-aktion geholfen haben. IP: Der Generalstreik in Polen hatte auch Auswirkungen auf das Verhältnis der Bundesrepublik zur DDR. Sie haben 1981 am Werbellinsee Erich Honecker zu Ihrem ersten und einzigen Staatsbesuch getroffen. Mit wem hatten Sie es da zu tun?

Schmidt: Mit einem Mann, der an seinen Kommunismus glaubte und in Wirklichkeit die ökonomische Leistungsfähigkeit der DDR nicht richtig einschätzen konnte. Er glaubte in vollem Ernst, dass die DDR der siebtwichtigste Industriestaat der Welt sei. Honecker war ein ökonomischer Dilettant. IP: Was versprachen Sie sich von dem Besuch? Die weitere Normalisierung der Beziehungen Bonns mit Ostberlin?

Schmidt: Richtig. Außerdem einige Erleichterungen im Verkehr und dergleichen. Das ist auch eingetreten.

IP: Haben Sie damals damit gerechnet, dass die DDR so schnell wirtschaftlich darnieder gehen würde?

Schmidt: Nein. Ich habe aber in den achtziger Jahren beobachtet, dass sie in zunehmendem Maße von westlicher Kapitalzufuhr abhängig geworden war.

IP: Sie spielen auf die Westkredite an?

Schmidt: Nicht nur darauf, auch auf das Herauskaufen von Menschen aus ihren Gefängnissen und die Erhöhung des so genannten Swings, der Defizite, welche die DDR im bilateralen Zahlungsverkehr mit der Bundesrepublik erwirtschaftete. All das verschärfte sich in den achtziger Jahren deutlich.

IP: Schon vor der Revolution von 1989 gab es im Westen die Sorge vor einem wiedervereinigten, starken Deutschland. Wie wirkte sich das auf den Einigungsprozess aus?

Schmidt: Diese Sorgen hat es praktisch überall gegeben, vielleicht mit der Ausnahme Österreichs. Das zeigte sich im Winter von 1989 auf 1990, als fast alle westeuropäischen Regierungen gegenüber der Möglichkeit einer deutschen Wiedervereinigung in Opposition standen. Die Besorgnis vor der Wiederauferstehung einer deutschen Großmacht hat letzten Endes der amerikanische Präsident George Bush sen. überwunden, gemeinsam mit dem zuhause entscheidend geschwächten Michail Gorbatschow.

IP: Welche Rolle spielte Helmut Kohl bei der Wiedervereinigung?

Schmidt: Die Chance zur Wiedervereinigung ist Kohl in den Schoß gefallen, aber er hat sie tatkräftig genutzt, so Ende November mit seinem Zehn-Punkte-Plan. Kohl hat damals noch von einer Föderation gesprochen, nicht von einem gemeinsamen Staat. Aber er hat der Sache enormen Auftrieb gegeben und hat Bush sen. überzeugen können. 

IP: Das billigen Sie ihm zu?

Schmidt: Aber ja. Und er war klug genug, sich auf das Verlangen der Franzosen einzulassen, die D-Mark, die sich zu einer europaweit dominierenden Währung durchgesetzt hatte, durch den Euro zu ersetzen. Ein Entschluss, der dann 1992 umgesetzt wurde.

IP: Ohne Verzicht auf die D-Mark keine Wiedervereinigung?

Schmidt: Wahrscheinlich, aus französischer Sicht.

IP: Und aus britischer?

Schmidt: Denen war das egal. 

IP: Wären Sie damals noch Bundeskanzler gewesen, hätten Sie etwas grundsätzlich anders gemacht?

Schmidt: Die ökonomische innerdeutsche Vereinigung hätte ich anders gemacht; eine gemeinsame europäische Währung strebte ich ja bereits seit den siebziger Jahren an, zusammen mit meinem Freund Giscard D’Estaing.

IP: Hat Ihnen nicht das Herz geblutet, die Zeit der Wende nicht selber mitgestalten zu können?

Schmidt: Nein, ich war damals restlos glücklich, ich hatte keine ehrgeizigen Pläne mehr, ich war 70 Jahre alt.

IP: Schaut man auf die Bonner und die jetzige Berliner Republik: Deutschland war damals eine Mittelmacht – und heute?

Schmidt: Ebenso.

IP: Geostrategisch hat sich trotz Wiedervereinigung nichts geändert?

Schmidt: Doch. Deutschland war damals strategisch bedroht durch die Sowjetunion, dies ist weggefallen. Das hat aber nicht dazu geführt, dass Deutschland deswegen eine Großmacht geworden ist.

IP: Sie sagten, die Wiedervereinigung konnte es nur geben, weil den Nachbarn die Angst vor einem starken Deutschland genommen wurde. Sind damit die Befürchtungen aus der Welt?

Schmidt: Die Deutschen leben in der Mitte Europas, und das seit 1000 Jahren. Wir haben mehr unmittelbare Nachbarn als irgendein europäischer Staat. Diese Zentrallage mit so vielen Nachbarn hat Vor- und Nachteile: den Vorteil, dass wir kulturelle Einflüsse von vielen Nachbarn haben aufnehmen können. Und den Nachteil, dass immer dann, wenn die Deutschen schwach waren, andere in das Zentrum Europas vorgestoßen sind. So die Hunnen, die Ungarn, die Franzosen und so auch die Russen und die Amerikaner.

IP: Und wenn die Deutschen stark waren?

Schmidt: Dann sind sie vorgestoßen, schon im Mittelalter viele Male nach Italien, in beiden Weltkriegen nach Westen und nach Osten und unter Hitler sogar nach Norden, im Süden nach Afrika und im Osten bis in den Kaukasus. Diese Zentrallage ist wahrscheinlich der bei weitem wichtigste Grund dafür, dass die Deutschen sich in die Europäische Gemeinschaft integrieren müssen, heute genannt Europäische Union. Dieser Meinung bin ich seit mehr als 60 Jahren – seit 1948.

IP: Jede deutsche Politik steht seit 1945 im Schatten von Auschwitz. Eine wichtige Zäsur hinsichtlich der Verantwortung für die Verbrechen des Zweiten Weltkriegs stellte die Rede des damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker am 8. Mai 1985 dar. Wie haben Sie seine Rede aufgenommen?

Schmidt: Ich habe sie als eine notwendige Rede wahrgenommen. Das entscheidende Moment war, dass Weizsäcker den Deutschen gesagt hat, ihr müsst verstehen, dieser schreckliche Zweite Weltkrieg und die schreckliche Niederlage waren in Wirklichkeit eine Befreiung. Eine Befreiung zu einer offenen Gesellschaft, die wir tatsächlich dann seit 1945 und genauer seit 1949 entfaltet haben.

IP: Vor dem Hintergrund der Schrecken des Zweiten Weltkriegs stehen die letzten 60 Jahre für Deutschlands wohl glücklichste Epoche. Meinte es das Schicksal diesmal gut mit uns?

Schmidt: Diese 60 Jahre waren nicht von Anfang an eine glückliche Zeit. Das kann keiner behaupten.

IP: War denn nicht 1989 ein Glücksfall für die Bundesrepublik?

Schmidt: Das kann man so sagen. Eigentlich eine Reihe von Glücksfällen, also nicht nur der Fall der Mauer, sondern auch der Zwei-plus-Vier-Prozess im Frühjahr 1990 und dann schließlich die Vereinigung nach dem damaligen Artikel 23 des Grundgesetzes.  

IP: Ist Gorbatschow auch ein Glücksfall gewesen?

Schmidt: Für die Deutschen ja, für die Russen weniger.

IP: Ist die Bundesrepublik aus heutiger Sicht eine Erfolgsgeschichte?

Schmidt: Dass wir seit 1945 bis heute über 60 Jahre Frieden erlebt haben, das ist allerdings in der deutschen Geschichte einmalig, das hat es seit dem 30-jährigen Krieg für die Deutschen nie gegeben. Dass wir 60 Jahre inneren Frieden hatten, keinen Krieg zwischen Stämmen und Dynastien, dass wir eine friedliche innere Verfassung erlebt haben, trotz der zum Teil schlimmen Bedingungen, unter denen die Deutschen in der DDR leben mussten, das ist in der deutschen Geschichte einmalig. Man kann auch sagen: Die Tatsache, dass das Grundgesetz nun seit 60 Jahren in Kraft ist, gibt Anlass, sich darüber klar zu sein, dass es die beste Verfassung ist, die jemals in Deutschland gegolten hat.  

IP: Welchen Anteil hatte die deutsche Politik an diesem Erfolg? Wurden überhaupt Fehler gemacht?

Schmidt: Nein, es wurden zum Glück keine großen Fehler gemacht. Den deutschen Anteil an diesem Erfolg kann man sicher nicht in Prozent berechnen, er war sicher nicht gleich null, aber er war auch nicht 100 Prozent. Ohne den Willen der Franzosen, beginnend mit dem Schuman-Plan 1950, zur Integration Deutschlands in eine Europäische Gemeinschaft, ohne den Willen Charles de Gaulles zum Elysée-Vertrag, ohne den Willen Giscard D’Estaings und später Mitterrands und anderer europäischer Staatsmänner, Deutschland zu integrieren, wären diese 60 Jahre wesentlich ungünstiger verlaufen.

IP: In Ihrem jüngsten Buch „Außer Dienst“ schreiben Sie gleichwohl: „Wir Deutschen bleiben eine gefährdete Nation“, um dann zu fragen: „Wissen wir eigentlich, wer wir sind?“ Gibt die Epoche der letzten 60 Jahre darauf keine abschließende Antwort?

Schmidt: Es gibt keine abschließende Antwort, warum den Deutschen der Holocaust möglich gewesen ist.  

IP: Und die gefährdete Nation?

Schmidt: Aus beiden Gründen: Einmal, weil wir nicht so genau wissen, wer wir sind, zum anderen wegen der bereits beschriebenen Lage inmitten sehr vieler Nachbarn. In dem Augenblick, wo wir uns einbilden, wir seien etwas Besonderes oder etwas Großes oder eine besonders zahlreiche Nation, fangen die Nachteile unserer zentralen Lage wieder an, eine Rolle zu spielen.

IP: Wenn Sie auf Ihre Zeit als Kanzler der Bundesrepublik zurückblicken: Wie muss man regieren, damit man seinem Land maximal dienen kann?

Schmidt: Jedenfalls muss man die Geschichte seines eigenen Volkes und die seiner Nachbarn gut kennen um zu wissen, was möglich, was zumutbar ist und was nicht zumutbar ist.

IP: Haben Sie sich in dieser Hinsicht einmal geirrt? Denken wir an die Nachrüstungsdebatte, die Ihnen letztlich wohl mit das Amt gekostet hat?

Schmidt: Nein, da habe ich mich nicht geirrt.  

IP: Wohl aber in Ihrem damaligen Koalitionspartner FDP. Waren Sie zu generös und haben zu spät gehandelt, als die Liberalen längst den Wechsel zur Union durchgespielt hatten?

Schmidt: Ja, das kann man so sehen.

IP: Helmut Kohl kündigte nach Ihrer Abwahl sogleich die „geistig-moralische Wende“ an. Gab es die überhaupt?

Schmidt: Tatsächlich hat es keine Wende gegeben. Das von Ihnen zitierte Wort war eine gewaltige Selbstüberschätzung.

IP: Dennoch gab es etliche Menschen, die daran glaubten.

Schmidt: Kohl hat tatsächlich auf keinem Felde meine Politik geändert. Auch Genscher hat im Wesentlichen die Außenpolitik fortgesetzt, die er zu meiner Zeit bereits betrieben hat. Das ist wichtig.

IP: Für Sie als Kohls Vorgänger?

Schmidt: Nein, für die Beurteilung dieser 60 Jahre, von denen wir reden. Wir haben mit der Ausnahme von zwei schwachen Bundeskanzlern – Ludwig Erhard und Kurt Georg Kiesinger – eine erstaunliche Kontinuität der Regierungen erlebt, trotz des Wechsels der Parteien. Und dazu gehört eben auch, dass Schmidt nicht viel daran geändert hat, was Brandt vorher gemacht hat, und dass Kohl nicht viel daran geändert hat, was Schmidt gemacht hat. Sowohl die innen- als auch die außenpolitische Kontinuität der inzwischen acht deutschen Kanzler ist eine Erklärung für den Erfolg.

Das Interview führte Achim Rust.

HELMUT SCHMIDT war von 1974 bis 1982 Kanzler der Bundesrepublik Deutschland. Er ist heute Herausgeber der ZEIT.