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01. Nov. 2007

Goldene Regel der Gegenseitigkeit

Was Asien zum weltweiten interkulturellen System beitragen kann

Wird Asien Europa auch in Bezug auf die kulturelle Integration einholen können? Viele Europäer bezweifeln das. Doch Asien verfügt nicht nur über ein stabiles gemeinsames ethisches Fundament. Es hat auch, zum Teil lange vor Europa, eine Reihe von moralischen Prinzipien entwickelt, die heute als Elemente eines gemeinsamen Weltethos dienen können

Wenn es gilt, Prognosen über die asisatischen Integrationsbemühungen aufzustellen, so lautet die in Europa verbreitete Ansicht etwa folgendermaßen: Wohl sei auch weiterhin mit einem Austausch von Gütern, Informationen, Dienstleistungen und Kapital zwischen den asiatischen Nationen zu rechnen, also mit dem, was man technisch eine funktionale Integration nennt. Diese Art der Integration ist ja in der Tat durch die ASEAN mächtig vorangetrieben worden, und die Organisation hat auch einiges dazu beigetragen, den Antagonismus zwischen China und Japan zu überwinden. In jüngster Zeit hat dieser Prozess im Rahmen der East Asian Community (EAC) neue Impulse erhalten, insbesondere durch die Einladung von Ländern wie Indien, Australien und Neuseeland (ASEAN+3-Formation). Ein gewaltiger Wirtschaftsraum.

Aber, so wenden viele Europäer ein, all das lasse noch immer einen ernsthaften asiatischen Gemeinschaftsgeist vermissen, namentlich zwischen den Großen Drei China, Japan und Indien. Asien verfüge eben über keine gemeinsame Kultur, wie sie für Europa durch die jüdisch-christliche Tradition und die Aufklärung begründet sei. Doch Europäer werden heute einräumen müssen: Diese gemeinsame europäische Kultur hat sich in den vergangenen Jahren vor allem durch die „Divide et impera“-Strategie der Bush-Regierung, unterstützt vom so genannten „neuen Europa“, als brüchig erwiesen. Wie die unmenschlichen Terrorangriffe des 11. September der Glaubwürdigkeit des Islam schwer geschadet haben, so haben dem Christentum und der westlichen Wertegemeinschaft die auf Lügen aufgebaute Invasion des Irak und die polarisierende Innenpolitik durch einen sich betont christlich gebenden US-Präsidenten geschadet. Heute wird deshalb verschiedentlich eine Rückbesinnung auf die ethischen Fundamente der europäischen Kultur, Politik und Wirtschaft angemahnt.

Interkulturelle Traditionen

Und sollte da Asien nicht etwas Analoges zustande bringen? Gibt es keine gemeinsamen ethischen Konstanten für diesen großen Raum mit seinen so unterschiedlichen Kulturen? Hier müssen weniger informierte Europäer doch auf einige kulturelle und interkulturelle Entwicklungen aufmerksam gemacht werden, die Asien bis heute bestimmen und auf ein gemeinsames ethisches Fundament hinweisen:

  1. Asien hat in mancherlei Hinsicht längere Erfahrungen mit interkulturellen Beziehungen als Europa. So hat sich der Buddhismus schon im 3. Jahrhundert v. Chr. von Indien kommend friedlich nach Sri Lanka und über weite Teile Südostasiens ausgebreitet, im 1. Jahrhundert n. Chr. über die Seidenstraße nach Zentralasien und China und schließlich von dort aus Jahrhunderte später auch nach Korea und Japan
  2. Gerade das homogene Japan ist ein Beispiel dafür, wie in Asien drei verschiedene Religionen – Shinto, Konfuzianismus und Buddhismus – friedlich nebeneinander bestehen und sich vielfach vermischen können.
  3. Selbst der Islam – im Nahen Osten, in Indien, Nordafrika und Europa zumeist im Gefolge militärischer Eroberungen verbreitet – hat sich in Südostasien auf eher friedliche Weise, durch Händler, Gelehrte und Mystiker ausgebreitet.
  4. Europäische Humanisten wissen oft nicht, dass es in China schon rund fünf Jahrhunderte vor Christi Geburt einen ethisch orientierten Humanismus gab, der Geschichte gemacht hat. Der Begriff des „Ren“, unseres „Humanum“, ist ein ganz und gar zentraler Begriff der chinesischen Tradition. Vom chinesischen Weisen Konfuzius stammt die erste Formulierung der Goldenen Regel der Gegenseitigkeit: „Was du selbst nicht wünschst, das tue auch nicht anderen Menschen an“ (Gespräche 15,23). Der Begriff des Humanum und die Goldene Regel haben sich durch die chinesischen Schriftzeichen im ganzen riesigen sinisierten Raum verbreitet, der von Zentralasien bis nach Taiwan und von Korea bis nach Singapur reicht.
  5. Diese Goldene Regel findet sich aber ebenso auch in der indischen Tradition. Im Jainismus: „Gleichgültig gegenüber weltlichen Dingen sollte der Mensch wandeln und alle Geschöpfe in der Welt behandeln, wie er selbst behandelt sein möchte“ (Sutrakritanga I.11.33). Im Buddhismus: „Ein Zustand, der nicht angenehm oder erfreulich für mich ist, soll es auch nicht für ihn sein; und ein Zustand, der nicht angenehm oder erfreulich für mich ist, wie kann ich ihn einem anderen zumuten?“ (Samyutta Nikaya V, 353.35–354.2). Und im Hinduismus: „Man sollte sich gegenüber anderen nicht in einer Weise benehmen, die für einen selbst unangenehm ist; das ist das Wesen der Moral“ (Mahabharata XIII.114.8).
  6. Schließlich findet sich diese Goldene Regel in den abrahamischen Religionen prophetischen Charakters: Bei Rabbi Hillel (60 v. Chr.): „Tue nicht anderen, was du nicht willst, dass sie dir tun“ (Sabbat 31a). Positiv formuliert von Jesus von Nazareth: „Alles, was ihr wollt, dass euch die Menschen tun, das tut auch ihr ihnen ebenso“ (Mt 7,12; Lk 6,31). Aber auch im Islam: „Keiner von euch ist ein Gläubiger, solange er nicht seinem Bruder wünscht, was er sich selber wünscht“ (40 Hadithe von an-Nawawi 13).
  7. Doch nicht nur das grundlegende Humanitätsprinzip und die Goldene Regel der Gegenseitigkeit finden sich in den drei großen kulturellen Stromsystemen der Erde. Auch vier konkrete ethische Regeln stehen schon bei Patanjali, dem Gründer des Yoga, im buddhistischen Kanon, in der chinesischen Tradition und natürlich auch in den drei prophetischen Religionen: „nicht morden“, „nicht stehlen“, „nicht falsches Zeugnis ablegen“, „Sexualität nicht missbrauchen“. Diese transkulturellen ethischen Regeln sind Asien und dem Westen gemeinsam und bilden die Strukturelemente eines gemeinsamen Menschheitsethos, nennen wir es nun Global Ethic oder Weltethos. 

Geist der Gemeinsamkeit

Das „Projekt Weltethos“ unterscheidet sich insofern von der westlichen Menschenrechtsbewegung, als dabei nicht versucht wird, die Menschenrechte einfach vom westlichen Naturrechtsdenken her über die Welt zu verbreiten. Es geht vielmehr darum, die Werte, Maßstäbe und Haltungen der jeder Kultur eigenen ethisch-religiösen Traditionen aufzunehmen, um sie für die Menschenpflichten und -rechte fruchtbar zu machen. Auch die „Erklärung zum Weltethos“ des Parlaments der Weltreligionen (Chicago 1993) kam ja zustande, indem man versuchte, aus den je eigenen Traditionen der  großen Religionen das herauszuschälen, was allen Religionen gemeinsam ist und auch von nichtreligiösen Menschen mitgetragen werden kann. Durch das gemeinsame Fundament von Menschenpflichten und Menschenrechten in der jeweiligen Tradition relativiert sich die Frontstellung „asiatische versus westliche Werte“.

Wenn sich Asien also auf seinen transkulturellen ethischen Kern besinnt und eine gemeinsame Friedenspolitik betreibt (Stichwort: „Peaceful development“), so kann es einen ganz neuen Geist der Gemeinsamkeit entwickeln, der mit Soft Power arbeitet statt mit militärischer Gewalt und der statt Feinden nur noch Partner und Konkurrenten kennt. Auf diese Weise könnte Asien mit dem Westen durch regionale Gemeinschaftsbildung gleichziehen und zum Aufbau der in jüngster Zeit erschütterten neuen Weltordnung beitragen.

Prof. Dr. HANS KÜNG, geb. 1928, ist emeritierter Professor für Katholische Theologie an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen und Präsident der Stiftung Weltethos.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 11, November 2007, S.68 - 71.

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