Go West, Amerika?!
Die Regierung Obama richtet sich auf Amerikas pazifisches Jahrhundert ein
November 2011 bei einer sicherheitspolitischen Konferenz im kanadischen Halifax: Anne-Marie Slaughter, Politikwissenschaftlerin an der Universität Princeton, ergreift das Publikumsmikrofon und rügt die Herren auf dem Podium für ihren „unablässigen Fokus auf Asien“. Ständig höre sie in wirtschafts- und sicherheitspolitischen Diskussionen den immergleichen Slogan vom Aufstieg Chinas und der wachsenden Bedeutung der asiatisch-pazifischen Region. Kaum je aber verliere man ein Wort über die Tatsache, dass der Nordatlantik – Nordamerika und Europa – auf absehbare Zeit der größte Wirtschaftsraum der Welt bleibe, gestützt vom erfolgreichsten politisch-militärischen Bündnis der Menschheitsgeschichte und von unverbrüchlichen kulturellen Bindungen. Die Entwicklungen in Asien solle der Westen als Chance zur weiteren Verwirklichung seiner Ideale und Interessen begreifen, nicht als Totenglöckchen der alten Ordnung. Verdienten Transatlantikern rutscht an dieser Stelle die Hand zum Applaus aus. Von Seiten der asiatischen Delegation meint man ein Kichern zu vernehmen.
Slaughter weiß, wovon sie spricht, sie war zwei Jahre Leiterin des Planungsstabs in Hillary Clintons Außenministerium. Und sie weiß auch, dass sie mit ihrem Appell zum Transatlantizismus gegen den Zeitgeist spricht. Den verdeutlichte ihre ehemalige Chefin, die in einem Essay für die November-Ausgabe von Foreign Policy „America’s Pacific Century“ ausrief (siehe auch S. 62–69 in dieser Ausgabe). Der Aufsatz, Teil einer PR-Strategie, eingerahmt von Präsident Barack Obamas Auftritt beim Asiatisch-Pazifischen Wirtschaftsforum und Clintons Reise nach Korea und Myanmar, darf als maßgebliche Verschriftlichung der gedachten amerikanischen Rolle in der Region gelten – und die kommt nicht bescheiden daher: Die Zukunft der Geopolitik, so Clinton, wird sich in Asien entscheiden, und die USA sollen im Mittelpunkt des Geschehens stehen.
Amerikas Beschäftigung mit Asien lässt sich in drei strategische Komponenten unterteilen: den machtpolitischen Aufstieg Chinas zu managen, den Krisenherd Afghanistan/Pakistan einigermaßen unter Kontrolle zu halten und die Stärke des von wirtschaftlichen Krisen und politischen Blockaden gebeutelten eigenen Landes wieder herzustellen.
Der Aufstieg Chinas beschäftigt die US-Strategen seit über zehn Jahren. Es geht um eine welthistorische Wegmarke: Wird es im internationalen System, das seit über zwei Jahrzehnten durch Amerikas Macht geprägt ist, wieder eine bipolare Konstellation geben, diesmal mit westlichen und sinischen Einflusszonen? Und wie lässt sich der prognostizierte Stabwechsel an der Spitze der Staatenhierarchie friedlich gestalten? Andrew Nathan zeigt in seinem Essay in Foreign Affairs (August) zu den neuen Büchern von Henry Kissinger und Aaron Friedberg, dass die Ratschläge an Washington zwischen acquiescence, containment und confrontation schwanken – der Fügung ins Unabänderliche, der Eindämmung Chinas und der Bekämpfung des chinesischen Aufstiegs.
Nach einer langen Phase der Unschlüssigkeit hat sich Obama anscheinend für eine Strategie der „Eindämmung Plus“ entschieden. Einem zuletzt kecker auftretenden China setzt er die Bekräftigung der amerikanischen Präsenz in der Region entgegen. Das kommt in Clintons Aufsatz ebenso zum Ausdruck wie im Auftritt des Präsidenten beim APEC-Gipfel, wo er gegen chinesische Territorialansprüchen im Südchinesischen Meer klaren Einspruch formulierte – und gleich für eine transpazifische Freihandelszone unter Ausschluss der Volksrepublik warb. Zudem setzt Obama dem chinesischen Führungsanspruch in der Region Grenzen, indem er Amerikas bilaterale Verteidigungsbündnisse aufwertet – besonders augenfällig bei seinem Besuch in Australien, wo er die Stationierung von bis zu 2500 zusätzlichen amerikanischen Soldaten verkündete. Allerdings wird diese vorsichtige Eindämmungspolitik mit Bekenntnissen zur amerikanisch-chinesischen Zusammenarbeit dekoriert. Niemand soll Obama den Vorwurf machen können, er schüre den Konflikt im Sinne einer self-fulfilling prophecy.
Der zweite Komplex, der Amerikas Aufmerksamkeit auf Asien lenkt, ist die Lage in Afghanistan und Pakistan. Dabei ist in den US-Medien immer häufiger von Pakistan die Rede, weniger von Afghanistan/AfPak. Abgesehen von den Kassandra-Rufen Jamie Flys und Gary Schmitts im Weekly Standard (12. Dezember), die vor dem Verlust der erreichten Stabilität warnen, wenn der Westen schon bis 2014 weitgehend aus Afghanistan abzieht, haben sich die USA mit dem Rückzug arrangiert. Das Land ist des Krieges müde, selbst die republikanischen Präsidentschaftskandidaten können sich zu kaum einer Pointe gegen Obamas womöglich fahrlässige Verabschiedung aus einem Krieg aufraffen, den er einst „notwendig“ und „richtig“ nannte.
Umso größer sind die Sorgen angesichts der Lage in Pakistan: In der Titelgeschichte des Atlantic Monthly (Dezember) legen Jeffrey Goldberg und Marc Ambinder dar, warum das Land Amerikas „Verbündeter aus der Hölle“ ist. Die „toxische“ Mischung aus instabilen, von Islamisten unterhöhlten staatlichen Strukturen, nur zweifelhaft gesicherten Atomwaffen, tief verwurzelter Feindschaft gegenüber dem Nachbarn Indien und dem Bestreben, die Stabilisierung und Westorientierung Afghanistans zu sabotieren, macht Pakistan aus Sicht amerikanischer Sicherheitspolitiker zur größten Bedrohung globaler Stabilität neben dem Iran. Sie haben aber noch keine schlüssige Strategie, wie mit dieser Bedrohung umzugehen ist. Der Balanceakt aus offizieller Partnerschaft und mehr oder minder geheim praktizierter Gegnerschaft wird kaum lange durchzuhalten sein, wenn sich die innenpolitische Lage in Pakistan weiter radikalisiert. Pakistan wird zu einem Problem von erheblicher regionaler Zer-störungskraft, das amerikanische Sicherheitspolitiker nach neuen Allianzen suchen lässt – und das ihre kontinentaleuropäischen Kollegen offenbar gar nicht auf dem Schirm haben.
Der dritte strategische Komplex, der die USA nach Asien schauen lässt, ist die desolate Lage daheim. So titelt Foreign Affairs (November/Dezember): „Is America Over?“ Als Kronzeugen werden George Packer, der die Auswirkungen der Krise am Beispiel des zerstörten gesellschaftlichen Zusammenhalts erläutert, sowie Joseph Parent und Paul MacDonald aufgeboten, die einer neo-isolationistischen Außenpolitik des „Retrenchment“ das Wort reden. „Come Home, America“ ist auch der Tenor Obamas und der meisten republikanischen Präsidentschaftskandidaten – Nation-building wird zuhause dringender benötigt als am anderen Ende der Welt.
Die Krise im Land verstärkt den Blick nach Westen aus zwei Gründen. Zum einen erzwingen die knappen Kassen eine Prioritätensetzung der außenpolitischen Aufgaben und Ziele. Das intensiviert die Fokussierung auf den asiatischen Raum, die durch die regionalen Entwicklungen bereits angelegt ist. Aus Sicht der Weltordnungsmacht geht es hier um mehr als in Europa, Afrika, Lateinamerika oder gar Nahost – der Preis ist höher, die Konkurrenz ernsthafter. Zum anderen erzeugt die wirtschaftliche Entwicklung der Region Respekt, aber auch Neid. „That Used To Be Us“ heißt das viel diskutierte neue Buch von Thomas Friedman und Michael Mandelbaum, und hier klingt an: Amerika fürchtet, die Grundlage seiner Vormachtstellung, seine Innovationskraft und Wirtschaftsstärke verloren zu haben. Vielleicht lässt sich vom Aufstieg Asiens etwas abschauen – oder wenigstens Profit daraus schlagen? Slaughter würde einwenden, dass Amerika in Asien allenfalls vergessene eigene Tugenden finden kann. So lässt sich mit Richard Hofstadter, der vor fast 50 Jahren den „paranoiden“ Stil der US-Politik diagnostizierte, über Amerikas Hinwendung nach Asien sagen: Amerika sieht im Anderen immer nur das Zerrbild des eigenen Ich.
Dr. PATRICK KELLER ist Koordinator für Außen- und Sicherheitspolitik der Konrad-Adenauer-Stiftung in Berlin.
Internationale Politik 1, Januar/ Februar 2012, S. 128-130