Glücklich geschieden
Die Trennung war unfreiwillig. Aber danach wurde Singapur zum Erfolgsmodell
Noch vor einem halben Jahrhundert galt die ehemalige britische Kolonie als so unregierbar, dass sie von Malaysia kurzerhand aus dem gemeinsamen Staatenbund verstoßen wurde. 50 Jahre später ist Singapur, der einzige Staat, der je durch den Rauswurf aus einem anderen Land entstanden ist, der wohl wirtschaftsfreundlichste Standort der Welt.
Bei Nacht sind Megacities malerisch. Graue Hochhausburgen verwandeln sich dann in glitzernde Lichtermeere; erdrückende Bevölkerungsdichte wird zum ästhetischen Erlebnis. Aus gutem Grund sind nächtliche Skylines beliebte Postkartenmotive.
Doch wohl nur eine Metropole hat für ihre Beleuchtung jährlich einen mehrstündigen Live-Sendeplatz mit rund 450 Millionen Fernsehzuschauern: Singapur. Jeden September findet in dem Inselstaat das einzige Nachtrennen der Formel 1 statt, ausgetragen auf einem eigens dafür errichteten Stadtparcours, vorbei an spektakulär illuminierten Wolkenkratzerkonturen, futuristischer Architektur und einem 165 Meter hohen Riesenrad.
Der PS-Zirkus, teils aus Steuergeldern finanziert, ist geschicktes Standortmarketing. Denn Tourismus ist für die Stadt ein wichtiger Wirtschaftszweig, und wer sich für schnelle Autos interessiert, dürfte auch für das Werbeversprechen von Singapurs pulsierendem Nachtleben empfänglich sein. Egal, welches Auto an diesem Abend das Rennen macht – Singapur gewinnt auf jeden Fall.
Beste Handelsbedingungen
Die Fähigkeit, sich immer neue Märkte zu erschließen – häufig aus dem Nichts – hat Singapur zu der Wirtschaftsmetropole gemacht, die es heute ist. Der Stadtstaat, kleiner als die Insel Rügen, ist nicht nur ein beliebtes Touristenziel, in das jährlich mehr als 15 Millionen Besucher kommen. Singapur ist auch Finanzzentrum, Handelsknotenpunkt, Luftfahrtdrehkreuz, Wissenschaftshochburg, Messestandort – und nicht zuletzt Städtebaupionier, denn die Fünf-Millionen-Einwohner-Stadt ist eine der wenigen Megacities, die sich auch bei Tag nicht zu verstecken braucht.
Und das, obwohl die ehemalige britische Kolonie noch vor einem halben Jahrhundert als so unregierbar galt, dass sie von Malaysia kurzerhand aus dem gemeinsamen Staatenbund verstoßen wurde. Im Nachhinein keine kluge Entscheidung, wie diverse Rankings zeigen: Auf der Liste der Länder mit dem höchsten Bruttoinlandsprodukt pro Kopf liegt Singapur heute auf Rang sechs. Den gleichen Platz belegt die Stadt auf dem Where-to-be-born-Index des Economist, der Länder danach bewertet, wo ein Neugeborenes die besten Chancen auf ein friedliches, gesundes und wohlhabendes Leben hat.
Laut Weltbank bietet Singapur seit Jahren das geschäftsfreundlichste Umfeld der Welt. Das World Economic Forum attestiert der Stadt den besten Schutz von geistigem Eigentum und die besten Handelsbedingungen. Auf dem Globalisierungsindex von Foreign Policy liegt Singapur ebenfalls auf Platz eins. Im „Corruption Perception Index“ von Transparency International genießt der Stadtstaat eine Spitzenposition. Und in der aktuellen Pisa-Studie belegten seine Schüler Rang zwei.
Nur formal eine Demokratie
Diese Erfolgsgeschichte, die Singapur 2015 zum 50. Jahrestag seiner unfreiwilligen Unabhängigkeit vommalaysischen Staatenbund mit großem Pomp feiern wird, ist die Geschichte kluger Politik – und sie hat Singapur zu einem Vorbild für viele andere Regierungen gemacht, nicht zuletzt solche, die gerne die wirtschaftlichen Kräfte ihres Landes entfesseln wollen, ohne dabei die politische Kontrolle zu verlieren. Singapur ist das Musterbeispiel einer funktionierenden Entwicklungsautokratie: wirtschaftlich ein Vorreiter, politisch ein quasi-monarchisches System.
Formal gesehen ist Singapur eine Demokratie. De facto herrscht seit 1959 die Familie Lee, mittlerweile in zweiter Generation. Premier Lee Hsien Loong ist der älteste Sohn des inzwischen 91-jährigen Staatsgründers Lee Kuan Yew, der nun den Titel „Minister Mentor“ trägt und noch immer als mächtigster Mann im Staat gilt. Für seine Anhänger ist er die moderne Form eines klugen Königs, der über sein Volk herrscht wie ein guter Vater. Kritiker sind verhaltener.
Zu den Denkmälern, die Lee sich schon zu Lebzeiten gesetzt hat, gehört die Lee Kuan Yew School of Public Policy, ein moderner Institutskomplex inmitten von gut gepflegtem tropischem Grün. Die Studenten sind so multikulturell wie die Stadt (ethnische Gruppen in Singapur: Chinesen 74 Prozent, Malaysier 13 Prozent, Inder 9 Prozent). Die Lee Kuan Yew School gehört zu den weltweit führenden Adressen für angehende Spitzenbeamte, die lernen wollen, wie man Verwaltungsapparate effektiv aufstellt oder Staatsfinanzen sinnvoll strukturiert. Renommierter ist wohl nur die Kennedy School of Government in Harvard, doch die Namensgeber sind Staatsmänner sehr unterschiedlicher Natur: John F. Kennedy, knapp drei Jahre lang US-Präsident, war vor allem ein Mann großer Hoffnungen. Lee Kuan Yew hat dagegen in einem halben Jahrhundert aus einem verlassenen Außenposten des britischen Empires eine Weltstadt gemacht.
1963, im Jahr als Kennedy erschossen wurde, war der in England ausgebildete Jurist Lee bereits vier Jahre Premierminister und glaubte, sein wichtigstes Ziel erreicht zu haben: Die jüngst aus der britischen Kolonialherrschaft entlassene Insel wurde Teil von Malaysia. Doch der Zusammenschluss hielt nicht lange. Blutige Konflikte zwischen Singapurs ethnischen Gruppen veranlassten Malaysia, den neu gewonnenen Landesteil zwei Jahre später wieder abzustoßen. Für Lee eine herbe Niederlage: Er blieb zurück mit einer Insel, deren einzige nennenswerte Ressource ein tief gespaltenes, überwiegend schlecht ausgebildetes Volk war.
Was danach passierte, beschreibt Lee in zwei dicken Memoirenbänden mit den Titeln „From Third World to First“ und „The Singapore Story“. Darin erzählt der Patriarch, wie er die sozialen Spannungen löste, indem er Englisch zur verbindlichen Verkehrssprache und die unterschiedlichen ethnischen Gruppen zu Nachbarn machte. In den subventionierten Wohnanlagen, in denen die überwiegende Mehrheit der Singapurianer lebt, wurde ein bestimmter Anteil jeweils an die Angehörigen der verschiedenen Volksgruppen vergeben. Künftig kauften sie in den gleichen Supermärkten ein und schickten ihre Kinder auf gemeinsame Schulen.
Um die Wirtschaft anzukurbeln, entwickelten staatlich finanzierte Think-Tanks Geschäftsstrategien, mit denen Singapur einen Platz in Südostasien finden konnte. So wurde Singapur zum größten Frachthafen, zum Raffineriestandort, zum Bankenplatz. Damit der Verwaltungsapparat dabei nicht Bremsklotz, sondern effektiver Dienstleister wurde, schuf Lee ein System von Leistungsanreizen und machte seine Beamten zu den höchstbezahlten der Welt.
Vor allem aber investierte Lee in Bildung. Singapur baute Universitäten für zukunftsträchtige Disziplinen wie Ingenieurs- und Naturwissenschaften oder Wirtschaft. Hunderte Singapurer wurden mit staatlichen Stipendien ins Ausland geschickt.
Innerhalb weniger Jahrzehnte entwickelte sich in Singapur eines der härtesten, aber auch besten Ausbildungssysteme der Welt. Internationale Konzerne nahmen das Angebot gerne an, denn so sehr sie nach Asien strebten, so schwer war es, in der Region eine Basis zu finden, die sich für anspruchsvolle Fertigungsprozesse und Dienstleistungen eignete. Mehr als 6000 multinationale Unternehmen haben heute einen Sitz in Singapur.
Einer der Gründe, warum sie kommen, liegt im Süden der Insel auf einem grünen Hügel und sieht aus der Ferne aus wie eine Science-Fiction-Burg: Biopolis. In dem 200 000-Quadratmeter-Komplex, dessen Gebäude Namen wie Genome, Matrix, Chromos oder Nanos tragen, wird Medizin- und Biotechnik entwickelt, eine von neun Branchen, die Singapur für sich als Schlüsselindustrien identifiziert hat (weitere sind u.a. Feinchemie, Nanotechnologie, Elektronik, Informationstechnologie und Medien).
In der staatlich finanzierten Wissensfabrik bietet die Regierung ausländischen Investoren harte und weiche Infrastruktur. Sie finanziert Labore und teure Technologie und fördert den Aufbau eines Pools an kompetenten Mitarbeitern, sowohl von eigenen Universitäten als auch aus dem Ausland. Im Idealfall werden Technologien und Patente der staatlichen Institute gemeinsam mit internationalen Unternehmen zur Marktreife gebracht. Dass Singapur als das Land mit dem besten Schutz von geistigem Eigentum gilt, schafft bei den Konzernen Vertrauen. Für die Stadt geht die Strategie auf: Gab es zur Jahrtausendwende noch so gut wie keine biomedizinische Industrie in Singapur, so beschäftigt die Branche inzwischen rund 20 000 Mitarbeiter und erwirtschaftet etwa 6 Prozent des Bruttoinlandprodukts.
Ein anderes Forschungscluster ist das einige Kilometer entfernte „Waterhub“, an dem Singapur sich als Standort für Wassertechnologie etablieren will. Dass die Versorgung mit sauberem Trinkwasser weltweit eine Zukunftsherausforderung ist, gerade für Megacities, weiß die Stadt aus eigener Erfahrung. Schon in den neunziger Jahren prüfte die Regierung neue Methoden und baute eine der weltweit ersten großen Wiederaufbereitungsanlagen, in der aus Abwasser wieder Trinkwasser gewonnen wird. In der Öffentlichkeit ist diese technische Revolution allerdings so umstritten, dass Singapurs Versorgungsbetrieb das gereinigte Wasser nur für Industriezwecke verwendet.
Im „Waterhub“ lässt die Regierung alternative Arten der Frischwassergewinnung erforschen. Insbesondere in der Entwicklung einer kostengünstigen und energieeffizienten Methode zur Entsalzung von Meerwasser sieht sie Potenzial für eine bahnbrechende neue Technologie. Dafür stellt die Stadt Unternehmen Millionenzuschüsse, modernste Labore, Zugang zu gut ausgebildetem Personal und Möglichkeiten für Feldversuche. Seit 2008 hat Singapur mit der „International Water Week“ außerdem eine der Leitmessen der Branche ins Leben gerufen.
Kritiker werden verklagt
Doch die Singapur Story hat auch ihre Schattenseiten. So sehr die Stadt zum Inbegriff effektiver Planung und effizienter Umsetzung geworden ist, so sehr haften ihr auch die Adjektive „steril“, „unkreativ“ und „autoritär“ an. Als Symbol übertriebener Kontrolle galt jahrelang das Kaugummiverbot. Zweifelhaften Ruhm erlangte Singapur auch mit der noch immer praktizierten Prügelstrafe und der laut Amnesty International wohl höchsten Pro-Kopf-Hinrichtungsrate der Welt.
Wer Singapurs offizielle Erfolgsgeschichte in Frage stellt, muss sich in Acht nehmen, dass es ihm nicht ähnlich ergeht wie Andy Xie, einflussreicher Ökonom und einst Asien-Analyst der US-Bank Morgan Stanley. 2006 warnte Xie seine Bankkollegen in einer E-Mail davor, Singapur zu überschätzen. „In Wahrheit hat Singapur seinen Erfolg hauptsächlich darauf aufgebaut, ein Geldwäschezentrum für korrupte indonesische Unternehmer und Beamte zu sein“, schrieb Xie.
Dieses Geschäftsmodell werde seit dem Jahr 2000 um Kasinos erweitert, um Schwarzgeld aus China anzuziehen. Als Xies Mail in Singapur bekannt wurde, verlangte die Regierung von Morgan Stanley den Rauswurf des Analysten. Die Bank erfüllte den Wunsch prompt, offenbar aus Angst um ihr Geschäft in dem Stadtstaat.
Gegen unbequeme Wahrheiten geht die Regierung entschieden vor. Zwar werden Kritiker nicht weggesperrt wie in härteren Autokratien. Stattdessen überzieht die Regierung sie mit Verleumdungsklagen in Millionenhöhe, und da es in Singapur keine echte Gewaltenteilung gibt, hat die Regierung bisher jeden Prozess gewonnen.
Angriffe auf das politische System, das seit jeher von Lees People’s Action Party (PAP) dominiert wird, sind heikel. Obwohl es Wahlen und eine politische Opposition gibt, sind die Regeln der Stimmabgabe so gesteckt, dass die PAP stets gewinnt. Schon zu Beginn seiner Karriere gab Lee zu Protokoll, wie er seine Rolle sah: „Wenn ich in Singapur für immer die Macht hätte und diejenigen, über die ich regiere, nicht fragen müsste, ob sie mit Handlungen zufrieden sind, dann hätte ich nicht den geringsten Zweifel, dass ich noch viel effektiver nach ihren Interessen regieren könnte.“
Erst recht tabu sind Korruptionsverdächtigungen gegen die Familie Lee. Ho Ching, die Ehefrau von Premierminister Lee Hsien Loong, kontrolliert mit der Holdinggesellschaft Temasek ein gewaltiges Firmenkonglomerat, dessen Macht in alle Bereiche von Singapurs Wirtschaft reicht; doch das bleibt in staatlich kontrollierten Medien unkommentiert.
Dass wirtschaftliche Dynamik in Singapur nicht auch mit politischer Freiheit einhergeht, bringt der Stadt neben all ihren Spitzenrankings auch negative Werte ein: Auf dem Pressefreiheitsindex der Organisation Reporter ohne Grenzen rangiert Singapur etwa auf Rang 150 von 180 Staaten, knapp hinter Russland und nur wenig vor dem Irak oder der Türkei.
Bernhard Bartsch ist Senior Project Manager im Programm „Deutschland und Asien“ der Bertelsmann Stiftung. Zuvor lebte er zehn Jahre als Ostasien-Korrespondent in Peking.
Internationale Politik 6, November/Dezember 2014, S. 109-113