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01. Juni 2005

Glasklare Rationalität

Kultur

Wer die Vorgeschichte der neuen Völkerrechtsformen studieren will, muss Carl Schmitt lesen

Es gibt keine Kriege mehr. Wer anders denkt und etwa an den ersten und den zweiten Krieg gegen den Irak erinnern wollte, an den Angriff auf das Taliban-Regime in Afghanistan oder an die Aktion der NATO gegen Serbien, der vergisst, dass keiner dieser Feldzüge mit einer Kriegserklärung eröffnet wurde. Deshalb gibt es in Guantánamo auch Gefangene aus den Nicht-Kriegen, die keine Kriegsgefangenen sind, die keiner Genfer Konvention unterstehen und deshalb keine Schutzmacht haben. Das sind völkerrechtlich merkwürdige Verhältnisse.

Wer die Geschichte dieser neuen Rechtsformen im internationalen Verkehr studieren will, die sich keineswegs erst in den jüngsten militärischen Interventionen herausgebildet haben, der kann nichts besseres tun, als zu einem Buch zu greifen, das ihre Vorgeschichte zum Gegenstand hat: „Frieden oder Pazifismus? Arbeiten zum Völkerrecht und zur internationalen Politik 1924–1978“ von Carl Schmitt, soeben herausgegeben von Günter Maschke (Duncker & Humblot). Allein die Spannweite der Arbeiten ist beeindruckend: Sie beginnen mit der Frage der Ruhrbesetzung und dem Rechtsstatus des unter französischer Kontrolle stehenden Rheinlands, sie enden mit Überlegungen zur „Legalen Weltrevolution“, die Schmitt in den Verfassungsbekenntnissen der Eurokommunisten der siebziger Jahre heraufziehen sah. Es gibt nicht viele Bücher, denen man schon bei ihrem Erscheinen prophezeien möchte, dass sie Epoche machen werden – aber dieses gehört definitiv dazu. Und wenn man bei einer Edition auch von dem kommentierenden Apparat sprechen darf, der die Texte überhaupt erst aufschlüsselt, dann ist Maschke eine exorbitante Leistung gelungen.

Will man eine große Linie in Schmitts Aufsätzen sehen, dann kann man sagen, dass ihn vor allem jene faktischen Asymmetrien der Macht interessierten, die sich im zwischenstaatlichen Verkehr hinter einer rechtlichen Terminologie verbargen. Deshalb beginnt Schmitt seine Arbeiten mit Überlegungen zum Völkerbund. Was die Stellung Deutschlands in diesem internationalen Gremium anging, so erkannte der Rechtsphilosoph einen Grundwiderspruch, der sich im Lauf der Jahre verschärfte. Deutschland nämlich wurde sehr bald ein Mitglied der Organisation, gehörte sogar dem engeren Rat an und galt somit als „gleichberechtigt“. Zugleich aber wurde es, als Folge des Versailler Vertrags, weiter „investigiert“, was seine Rüstung anging – wobei der Begriff der „Rüstung“ denkbar weit gefasst war. Das konnte auf die Dauer nicht gut gehen; Maschke weist nach, dass über einen Austritt aus dem Völkerbund nicht erst Hitler nachdachte, sondern schon liberale Politiker und Publizisten um 1932. Als aktuelles, wenn auch unvergleichlich viel harmloseres Pendant solcher double-binds im internationalen Recht kann man das Streben der Bundesrepublik nach einem Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen erwähnen, wobei in der Charta der Weltorganisation weiterhin jene „Feindstaatenklausel“ zu lesen ist, die ein Interventionsrecht der Alliierten des Zweiten Weltkriegs auch ohne Zustimmung der UN gegen solche Staaten vorsieht, die zwischen 1939 und 1945 Gegner waren. Und, um mit den aktuellen Asymmetrien fortzufahren: Man weiß, dass die Vereinigten Staaten ihre Bürger nicht dem Internationalen Strafgerichtshof ausliefern wollen – ebenso wenig wie die Volksrepublik China oder Russland, Indien oder Israel. Schmitts Abhandlung „USA und die völkerrechtlichen Formen des modernen Imperialismus“ schildert ein ganzes Bündel solcher Asymmetrien, mit denen die USA ihr Interventionsrecht zum Teil in die Verfassungen mittelamerikanischer Staaten hineinschreiben ließen.

Der Band hat aber für den heutigen Leser nicht nur ein stoffliches, sondern vor allem ein methodisches Interesse. Um seine Qualität zu ermessen, sollte man ihn mit der Abhandlung „Politischer Existenzialismus“ vergleichen, die Michael Großheim vor drei Jahren veröffentlichte. Hier wurden der Existenzialismus und Dezisionismus der Zwischenkriegszeit als philosophische Fehlhaltungen gedeutet. Nun musste diese Schlussfolgerung für Großheim schon deshalb nahe liegen, weil er zuvor alles, was als inhaltliches Motiv von Schmitts Theoriebildung hätte gelten können, vom Umkreis seiner Überlegungen systematisch ausgeschlossen hatte. Erst wer jetzt anhand der Chronologie des neuen Bandes verfolgen kann, unter welchem konkreten politischen Druck die Völkerrechtslehre Schmitts ihre Gestalt gewann, erkennt ihre innere Logik, die bei Großheim nur als subjektive Verirrung erscheint. Wir haben zu viele Mentalitätsgeschichten und zu wenig Realgeschichten. Denn den Mentalitätsgeschichten ist eine unausgesprochene Grundannahme eigen: Ihnen gilt der Mensch als von Natur aus friedlich; wo er es einmal nicht ist, da sind ursächlich bestimmte Mentalitäten und Einstellungen verantwortlich zu machen und durch Aufklärung zu beseitigen. So stellt man sich künstlich Rätsel, wo ein Blick auf die Tatsachen wenig Geheimnisse entdecken kann. Mentalitätshistoriker kommen von der Venus, Maschke und Schmitt kommen vom Mars. Vermeintlich irrationale Mentalitäten der Zwischenkriegszeit lösen sich, wenn man dem Kommentar folgt, in glasklare Rationalität auf – darunter auch, horribile dictu, der deutsche Austritt aus dem Völkerbund.

Der Band endet mit einem Aufsatz aus dem Jahr 1978, in dem Schmitt seine Motive noch einmal in der für Spätwerke typischen gelösten Form aufnimmt. „Es gibt einen Fortschritt auch im Bewusstsein von Berufsrevolutionären“, lautet der erste Satz, ein wunderschönes Beispiel für Schmitt, den Schriftsteller von höchstem Geist. Die Beschwörung der Legalität durch den spanischen Kommunisten Santiago Carrillo, der in den siebziger Jahren die Staatsfreundschaft entdeckte, weil sich legal viel mehr erreichen ließ, brachte das alte Problem der „legalen Machtergreifung“ wieder auf die Tagesordnung. Zudem spricht die Abhandlung für Schmitts lebenslange Beschäftigung mit der iberischen Welt. Er endet mit einer Anekdote. Zitiert wird das letzte Wort eines Machthabers aus dem 19. Jahrhundert. Auf dem Sterbebett wird er von seinem geistlichen Berater gefragt, ob er nun seinen Feinden verzeihe. Mit bestem Gewissen soll er geantwortet haben: „Ich habe keine Feinde; ich habe sie alle getötet.“ Was für ein passendes „letztes Wort“, welch ungeheure Pointe wäre das für Schmitt gewesen, den Denker der Politik aus dem Verhältnis von Freund und Feind. Aber Maschke ist auch hier genau. Erst stellt er klar, dass der von Schmitt anonym überlieferte Satz wahrscheinlich von dem spanischen Diktator Ramón María Narváez stammt, und dann verabschiedet er den Mythos von Schmitts letztem Wort: „Doch folgten dem hier vorgestellten Text noch zwei weitere, meist übersehene Publikationen.“ Ein Buch hat der Leser vor sich, das an gedanklicher und philologischer Strenge nichts zu wünschen übrig lässt.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, Juni 2005, S. 96 - 97.

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