Geschlossene Gesellschaft
Europa sollte die Einwanderung nutzen, um endlich offener und toleranter zu werden
Migranten aus der ganzen Welt haben die Städte Europas verändert. Die Welt hat sich in unserer Nachbarschaft eingenistet, eine verwirrende und schockierende Erfahrung. Alles und jeder ist von der gegenwärtigen Massenmigration betroffen, deren Ende noch lange nicht abzusehen ist. Tatsächlich gewinnt man den Eindruck, dass die enorme Mobilität der Menschen ein neues Zeitalter charakterisiert, das wir, mangels einer besseren Bezeichnung, das Zeitalter der Globalisierung nennen.
Die Geschichte einer Entfremdung
Wie lange lässt sich die Bedeutung dessen, was uns widerfährt, durch den Verweis auf unsere wechselvolle Vergangenheit herunterspielen? Wie lange lässt sich eine zentrale Erfahrung leugnen und damit abtun, sie sei nicht die Norm? Nicht sehr lange, da sich das Gefühl aufdrängt, etwas Wichtiges zu verlieren. Ein Gefühl, das nicht so leicht zum Schweigen zu bringen ist. Wir können nicht ignorieren, dass Toleranz und Freiheit gefährdet sind. Nicht nur in den Niederlanden, sondern auch bei unseren Nachbarn. Dieses wachsende Unbehagen verlangt nach Ausdruck.
Die Migration, die wir gegenwärtig erleben, hat unsere Gesellschaft bislang nicht offener gemacht. Angesichts der traditionellen Ansichten, die viele Migranten mitbringen, tauchen vielmehr alte Probleme auf: So stehen die Rechte der Frau und die Redefreiheit wieder zur Disposition. Obwohl uns diese Anschauungen gelegentlich aus der eigenen Vergangenheit vertraut sind, bedeutet es keinen Fortschritt, die 50 Jahre zurückliegende Emanzipation wiederholen zu müssen. Die Immigration geschlossener Gemeinschaften stellt die offene Gesellschaft auf die Probe.
Leider verhalten sich die Gesellschaften Europas bei dieser Prüfung sehr unsicher. In Ländern wie Österreich, Frankreich, Italien, Dänemark, den Niederlanden und Belgien ist der Erfolg populistischer Parteien das sichtbare Zeichen verdrängten Unbehagens. Die wachsende Spannung ist ebenso greifbar wie die Tendenz, sich von einer als bedrohlich empfundenen Außenwelt abzuwenden.
Es ist, gelinde gesagt, ungewiss, ob die letzten Jahrzehnte der Migration eine Bereicherung der Gesellschaft bedeuten. Schon die Verwendung dieses Wortes ist unglücklich angesichts der Armut, in der viele Migranten leben. Ihr mangelhaftes Bildungsniveau, oft genug sogar Analphabetismus, gibt den aufnehmenden Gesellschaften, die sich plötzlich mit der Summe dieser Defizite konfrontiert sehen, herzlich wenig. Gegenwärtig sind in etlichen europäischen Ländern die Kosten der Migration höher als ihr Nutzen.
Das ist keine Frage der Schuld. Natürlich hätten viele Migranten mehr tun können, um sich einzugliedern. Sie hätten den Mythos der Heimkehr, also die Vorstellung, ihr Aufenthalt in Europa habe nur vorläufigen Charakter, rascher ablegen müssen. Die aufnehmenden Gesellschaft haben verkannt, dass sich Migration und Wohlfahrtsstaat nicht automatisch vertragen. Vielfältige Sozialeinrichtungen haben die Immigranten zwar vernünftig versorgt, sie aber zugleich in eine hoffnungslose Abhängigkeit gebracht.
In der Rückschau zeigt sich, dass allen Seiten Fehler unterlaufen sind. Doch damit ist die Situation keineswegs erschöpfend beschrieben. Es bleibt zu untersuchen, wie aus diesem Zusammenprall eine Erneuerung der Gesellschaft erwachsen kann. Aus der gegenwärtigen Sackgasse können wir herausfinden: Diese Überzeugung ist die treibende Kraft der aktuellen Suche nach einem unverbrauchten Vokabular und neuen Erkenntnissen. Wenn wir dabei Erfolg haben, werden wir mit Recht sagen können, dass die Ankunft so vieler Migranten tatsächlich für eine stärkere Öffnung der Gesellschaft gesorgt und sie in vielerlei Hinsicht bereichert hat.
Wir brauchen eine unvoreingenommenere Einstellung zu den Reibungen und Konflikten, die Merkmale jedes Massenmigrationsprozesses sind. Heute äußern sich viele Wissenschaftler nur vorsichtig, doch zum Glück können wir auf frühere Generationen von Historikern und Soziologen zurückgreifen, die sich mit der Migration befasst haben. Oscar Handlin beispielsweise, der bekannteste Historiker für die Einwanderung nach Amerika, schrieb zu einer Zeit, als die moralischen Gesichtspunkte der Migration noch kein vorherrschendes Thema waren und der Konflikt zwischen Neuankömmlingen und Einheimischen nicht unter dem Aspekt von Gut und Böse diskutiert wurde.
In seinem Buch „The Uprooted: The Epic Story of the Great Migrations That Made the American People“, das ihm den Pulitzerpreis brachte, untersuchte Handlin die Ursachen und Folgen der Migration jener Menschenmassen, die den Atlantik von Europa nach Amerika überquerten. Diese Geschichte lässt sich in einem einzigen Satz zusammenfassen, dem Motiv für alles, was hier folgt: „Die Geschichte der Migration ist die Geschichte einer Entfremdung und ihrer Folgen.“
Entfremdung und Verlust sind die entscheidenden Begriffe, die die Ankunft von Migranten in einer neuen Umgebung beschreiben. „Insofern waren alle Einwanderer konservativ, andersdenkend und bäuerlich. Alle versuchten sie, ihre Vorstellungen hinter dem Bollwerk religiöser und kultureller Institutionen gegen die fremdartige Neue Welt zu bewahren.“
Mir geht es hier in erster Linie um diesen Konservatismus – die Rückwendung zu alten Sitten und Gebräuchen, um in einer vollkommen neuen, häufig städtischen Umgebung zu -überleben. Im Endeffekt führte das laut Handlin häufig zu dem Gefühl, nirgendwo mehr hinzuzugehören: „Damit hatten sie sich nicht nur von der Kultur, in die sie kamen, vollständig entfremdet, sondern auch von jener, die sie zurückgelassen hatten.“ Dieses Niemandsland beschreibt die Erfahrung vieler zeitgenössischer Migranten, die vergeblich Halt in einer neuen Gesellschaft suchen.
Nicht nur die Migranten leiden unter Desorientierung, sondern auch jene, die bereits im Ankunftsland leben. Schließlich war dieses Land kein unbeschriebenes Blatt, sondern ein Land mit Sitten und Gebräuchen, Gesetzen und Institutionen. Auch die einheimische Bevölkerung wird aus dem Gleichgewicht geworfen und muss versuchen, es wiederzugewinnen.
Kein Wunder, dass Neuankömmlinge und Einheimische das gleiche Verlustgefühl hatten, denn die Ursache ihrer Verunsicherung war die gleiche. Zunächst einmal verkörpern Migranten eine bindungslose Welt; durch ihre Ankunft vermitteln sie auch den Einheimischen das Gefühl, von den Veränderungen in ihrer alltäglichen Umgebung fortgeschwemmt zu werden. Oscar Handlin sagt, dies sei die universelle Erfahrung des -modernen Menschen. Jeder erlebe diesen Orientierungsverlust. Tatsächlich: „Migrationsgeschichte ist die -Geschichte der Entfremdung und ihren Folgen.“
Das erklärt auch, warum dieses gemeinsame Verlustgefühl nicht zu einer Annäherung, sondern zu einer Trennung zwischen Neuankömmlingen und Einheimischen führt. Die Abgrenzung, die sich gegenwärtig zwischen Minderheit und Mehrheit vollzieht, gehört einerseits zur Geschichte der Einwanderung und ist andererseits eine Reaktion auf eine neue Phase der Globalisierung. Die Literaturkritikerin Svetlana Boym bringt das sehr schön zum Ausdruck, wenn sie schreibt: „Heimweh ist insofern paradox, als es uns einfühlsamer für den Mitmenschen macht, doch in dem Moment, in dem wir die Sehnsucht durch Zugehörigkeit zu heilen versuchen, Verlustgefühl durch Wiederentdeckung der Identität, trennen sich unsere Wege häufig. Das ist das Ende des gegenseitigen Verständnisses.“ Genau das passiert gerade: Die Sehnsucht, einen Halt in einer turbulenten Welt zu finden, treibt einen Keil zwischen Neuankömmlinge und Einheimische. Das habe ich vor einigen Jahren zum Entsetzen vieler als „multikulturelles Drama“ bezeichnet.
Die Wiederentdeckung der Identität ist nicht irrational. Sie ist für Mehrheiten wie Minderheiten ein Abwehrmechanismus, den wir verstehen müssen. Es besteht aber die Gefahr, dass Menschen sich hinter der Treue zur eigenen Gemeinschaft verschanzen. Selbstbilder unter Druck neigen zur Versteinerung, während doch jeder weiß, dass Entwicklung nur in ständigem Austausch mit einer fortwährend sich verändernden Umgebung möglich ist. Wir müssen diese Rückwärtsgewandtheit überwinden und zulassen, dass die Migration unsere Gesellschaften unwiderruflich verändert.
Alte und neue Migration
Die historische und die gegenwärtige Migration haben zwar viel gemeinsam, aber es gibt auch substanzielle Unterschiede. Etwas völlig Neues ist im Gange. Religion hat beim Migrations-prozess immer eine wichtige Rolle gespielt, doch der Islam stellt ein vollkommen neues Phänomen in der westlichen Welt dar. Nicht nur hier, sondern auch in seiner eigenen Geschichte: Die Existenz muslimischer Minderheiten in einer liberalen, säkularen Gesellschaft hat es zuvor noch nie gegeben. Der Umstand, dass schon bald rund 20 Millionen Muslime in den Ländern der Europäischen Union leben werden und sich ihre Zahl vielleicht schon demnächst, nach dem Beitritt der Türkei zur Union, noch erheblich erhöhen wird, ist in jeder Hinsicht eine Herausforderung. Nicht nur für die frommen Muslime, sondern auch für die Länder, die sie aufnehmen und sich mit einer Religion arrangieren müssen, die bislang immer die Mehrheit stellte. Da ist es nicht gerade hilfreich, dass der Islam seit dem 11. September im Westen so heftig umstritten ist.
In Gesellschaften, in denen der Islam eine beherrschende Stellung einnimmt, etwa in der arabischen Welt, sind Religion, Kultur und Politik mit muslimischen Traditionen eng verflochten. Eine moderne Gesellschaft trennt diese Bereiche jedoch und zeigt die „hässliche Schizophrenie des modernen Lebens“, wie es der fundamentalistische muslimische Intellektuelle Sayyid Qutb formuliert.
Wir müssen ernstzunehmende Hindernisse überwinden, wenn wir wollen, dass sich der Islam auf halbwegs natürliche Weise integriert. Es geht nicht darum, den Islam als spirituelle Tradition hinter sich zu lassen, sondern um die Frage, wie Muslime als religiöse Minderheit in einer Demokratie leben können.
Die alte und neue Migration unterscheiden sich noch in weiterer Hinsicht. Dass Migranten häufig arm sind, ist nicht neu, doch die hohe Arbeitslosigkeit unter ihnen, besonders in Westeuropa, ist ein neues Phänomen. Einer der Gründe dafür ist das großzügige Sozialsystem. Die Masseneinwanderung in den Wohlfahrtsstaat ist absolut neu. Dafür gibt es kein Beispiel in der Geschichte. Die Folgen sind unübersehbar: Große Migrantengruppen verharren in aussichtsloser Abhängigkeit. Ein Teil der Gesellschaft, der eigentlich ein dynamisches Element sein sollte – Immigranten sind definitionsgemäß risikofreudig und Überlebenskünstler – ist zu einem der unbeweglichsten Bevölkerungs-segmente geworden. Wenn massenhafte Migration nur durch den gesellschaftlichen Beitrag der Neuankömmlinge zu rechtfertigen ist, wird diese Legitimation durch Langzeitarbeitslosigkeit erheblich erschwert. Der Wohlfahrtsstaat in seiner gegenwärtigen Form schafft also Abhängigkeiten und nimmt Verantwortung.
Schließlich gibt es noch eine dritte wichtige Veränderung des Integrationsmusters. Dank moderner Kommunikationstechnik und Billigreisen sind die Bindungen der Migranten an ihr Heimatland stärker als in der Vergangenheit, sodass ethnische Gruppen heute oft als „transnationale Gemeinschaften“ beschrieben werden: Sie sind gleichzeitig in mehr als einer Gesellschaft zu Hause. Zu viele Migranten nehmen nicht am öffentlichen Leben teil, weil sie durch Satellitenschüsseln auf eine andere Wirklichkeit ausgerichtet sind. In der Vergangenheit bedeutete die Einwanderung einen endgültigen Abschied, heute reisen die Menschen fortwährend – auch psychologisch – zwischen dem neuen Land und ihrer alten Heimat hin und her.
Aufgrund dieser veränderten Bedingungen ist es höchst ungewiss, ob die Integration mit der dritten Migrantengeneration gelingen wird. Deshalb wird die zweite Generation heute auch als „eineinhalbte Generation“ bezeichnet – mit anderen Worten: Jemand, der hier geboren ist, heiratet jemanden aus seinem Herkunftsland, die gemeinsamen Kinder wachsen in einer Familie auf, in der die Sprache des Ankunftslands nicht gesprochen wird. Ob sich die Situation von Generation zu Generation für Immigranten automatisch verbessert, beurteilt auch das wichtigste Beratungsgremium der holländischen Regierung zögerlich: „Die Frage lautet, ob sich der Zyklus – wenn die zweite Generation zu geringe Fortschritte erzielt – mit einer dritten, nachfolgenden Generation vollenden lässt, sodass alle in den Niederlanden lebenden Bevölkerungs-kategorien vollkommen in die Gesellschaft integriert sind.“
Ohne ein „Wir“ wird es nicht gehen
In den zwanziger Jahren beschrieb Robert Park den „Zyklus der Rassenbeziehungen“, der von Isolation über Wettbewerb, Konflikt und Anpassung letztlich zur Assimilation führt. Die zugrunde liegenden Gedanken sind vertraut: Ankommende Migranten neigen dazu, sich zu isolieren, teilweise wegen der ablehnenden Reaktion der umgebenden Gesellschaft. Später versuchen Migranten und ihre Kinder, sich einen Platz im Ankunftsland zu erobern, was Reibung und Kon-flikt erzeugt. Neuankömmlinge und Einheimische bemühen sich dann um einen Kompromiss; falls der gelingt, assimiliert die umgebende Gesellschaft die Migranten und ihre Nachkommen.
Natürlich ist das ein schematischer Abriss: So ordentlich lässt sich die Wirklichkeit nicht unterteilen. Auch zum angenommenen Ziel, der „Assimilation“, deren Definition umstritten ist, wäre noch manches zu sagen. Für mich ist jedoch entscheidend, dass die Integration jeder größeren Migrationsbewegung nicht ohne Konflikt verlaufen kann. Viele europäische Länder befinden sich augenblicklich in dieser Phase.
Offenkundig haben wir die Vermeidungsphase schon durchlaufen. „Multikulturalismus“ heißt das Modell für dieses Stadium, hier wurde versucht, Bedingungen einer friedlichen Koexistenz kultureller Gemeinschaften zu finden, die ohne viel Kontakt nebeneinanderherleben. Jetzt befinden wir uns unwiderruflich in den Geburtswehen einer Phase des Kon-flikts, in der eine neue Form der Eingliederung gefunden werden muss. Dieser Konflikt ist notwendig und kann außerordentlich fruchtbar sein, wenn es uns gelingt, der Gewalt vorzubeugen.
Wenn wir uns um Integration bemühen, müssen wir die Grundlagen unserer eigenen Gesellschaft klären; möchten wir die Achtung vor der Rechtsordnung fördern, müssen wir selbst wissen, was es mit diesen Regeln auf sich hat. Möchten wir unser kulturelles Erbe vermitteln, müssen wir eine Vorstellung von der eigenen Geschichte haben. Forderungen, die an Immigranten gestellt werden, haben unvermeidlich Rückwirkungen auf die, die sie ersonnen haben.
Damit kommen wir zur Kardinalregel jeder Integration: Die Einheimischen sollten von den Neuankömmlingen nichts verlangen, was sie nicht selbst zu tun bereit sind. Die Forderung nach Integration fällt verstärkt auf die zurück, die sie erheben. Da wir als Bürger Europas selbst nicht recht wissen, in welchem Maße wir uns als Teil der Europäischen Union fühlen, können wir auch nicht entscheiden, was wir von Neuankömmlingen verlangen können und was nicht. Mit anderen Worten, Integration verlangt eine Selbstprüfung, und für die mag sich niemand sonderlich begeistern. Unsere Toleranz dient in erster Linie dazu, uns die Dinge leicht zu machen.
Im Laufe der letzten Jahre hat sich – nicht nur in den Niederlanden – gezeigt, dass die Ankunft so vieler Migranten und ihre schwierige Integration eine echte Staatsbürgerschaftskrise herbeigeführt hat. Der ganze gut gemeinte Jubel über Vielfalt konnte keine Antwort bieten, weil eine Frage unvermeidlich war: Was haben wir bei all den Unterschieden eigentlich gemeinsam? Was hält eine Gesellschaft in einer Zeit der Massenmigration zusammen, besonders in den Städten, wo sich die meisten Migranten niederlassen?
Im Augenblick scheinen wir noch keine Antworten zu haben. Ein Gefühl von „Das ist jetzt auch unser Land“ oder, besser noch, „mein Land“ kann letztlich nur aus einer freien Entscheidung erwachsen, zu der Migranten von einer Gesellschaft eingeladen und aufgefordert werden, die selbst eine starke Kultur des Staatsbürgertums besitzt.
Es gibt keine eindeutige Vorstellung eines neuen „wir“, die mehr als das alte „wir“ umfasst. Wird irgend-eine Anstrengung unternommen, die Ansammlung von Individuen und Gruppen durch ein modernes Konzept der Nation zusammenzuhalten? Diese Suche ist Teil einer umfassenden Neuverortung. Es geht darum, ein neues Gleichgewicht zwischen Rechten und Pflichten zu finden, zwischen individueller Entfaltung und gegenseitiger Abhängigkeit, zwischen Privatheit und öffentlicher Ordnung. Wir brauchen eine komplexere Vorstellung von dem, was Staatsbürgerschaft in unserer Zeit bedeuten könnte.
Wir haben die Suche nach einem neuen Begriff der Staatsbürgerschaft begonnen, indem wir bei Migranten und bei Einheimischen ein Gefühl von Entfremdung und Verlust beschrieben haben. Wenn es uns gelingt, den Schock des Unvertrauten für eine Erneuerung zu nutzen, sind wir schon ein Stück weiter als jetzt. Zuwanderung muss nicht zu einem Verlust an Stärke führen: Im Gegenteil, sobald wir es schaffen, die Migration zu verinnerlichen, machen wir unsere Gesellschaften in einer Welt der Globalisierung universeller und damit konkurrenzfähiger.
Wir sind von der Konfrontation mit dem militanten Islam so sehr in Anspruch genommen, dass wir eine eigentlich begrüßenswerte Veränderung verkennen. Der Aufstieg der asiatischen Welt kann eine Energie freisetzen, die uns aus unserer Bedrängnis helfen könnte. Durch den Wettbewerb hat Europa bereits Schritte zur Integration unternommen; wir brauchen den äußeren Anstoß Asiens. Das gleiche gilt für die Ankunft von Immigranten: Die Belastungen, die daraus erwachsen, dass wir Menschen aus der ganzen Welt gestatten, Teile unserer städtischen Gesellschaften zu werden, geben Anlass zum Umdenken – nicht dahingehend, dass wir Europas Beiträge zur Idee der offenen Gesellschaft verraten, sondern dass wir uns bemühen, wahrhaftiger an der Verwirklichung dieser Idee zu arbeiten.
Wenn der Migrationsschock oben etwas drastisch beschrieben wurde, so hilft das vielleicht, die Dringlichkeit der Erneuerung deutlich zu machen. Jeder, der versucht, die Migration zu bagatellisieren, indem er ständig darauf verweist, dass sie ein altbekanntes Phänomen sei, unterschlägt nicht nur eine wichtige Erfahrung, die heute in den Großstädten Europas allgegenwärtig ist – sondern übersieht vor allem, dass die neue Migration eine einzigartige Gelegenheit zu Selbstbeobachtung und Selbstvervollkommnung bietet. Die jüngste Einwanderungswelle zwingt uns, über uns hinauszuwachsen, unsere Hemmungen zu überwinden. Das ist vielleicht ein bisschen viel verlangt, doch wer in dieser Welt nicht viel verlangt, wird elend scheitern.
Lassen Sie mich einige Beispiele nennen. Eine neue Religion in unserer Mitte könnte zu einer wirklich säkularen Gesellschaft führen, die dem Ideal religiöser Freiheit gerecht würde. Die Arbeitslosigkeit so vieler Migranten könnte zu einer Neubewertung des Wohlfahrtsstaats führen, welche die unbeabsichtigten Hindernisse sozialer Mobilität beseitigte. Mangelnde schulische Voraussetzungen bei vielen Kindern aus Einwandererfamilien könnten zu einem Bildungssystem führen, das Sprache, Geschichte und Rechtskultur größere Aufmerksamkeit schenkte. Die Ankunft von Menschen aus ehemaligen Kolonien könnte unser Selbstbild dergestalt erweitern, dass es auch die dunkle Seite der kolonialen Vergangenheit, allem voran die Sklaverei, einbezöge. Die schreckliche Ausgrenzung vieler muslimischer Frauen könnte uns zu der Einsicht bringen, dass Gleichberechtigung eine junge Errungenschaft ist, die umso entschlossener verteidigt werden müsste. Es gibt noch so viel mehr, was möglich wäre, wenn wir unsere eigenen Defizite gründlicher prüfen würden.
Das erkannte vor fast 100 Jahren schon der amerikanische Soziologe Henry Pratt Fairchild. Vieles von dem, was er damals schrieb, ist heute überholt, doch er vermochte zu erkennen, dass das Ausmaß, in dem sich Migranten ihrem Ankunftsland zugehörig fühlen können, nicht allein von ihnen abhängt: „Wenn der Einwanderer Amerika lieben soll, muss er zunächst einmal Gelegenheit haben, Amerika zu erleben, und danach muss er es liebenswert finden. Noch so viele Vorträge, Rechtsvorschriften und Drohungen können den Neuankömmling nicht dazu bringen, Amerika zu lieben, wenn er es nicht liebenswert findet, und kein Maß an Fremdheit und Unvertrautheit kann ihn daran hindern, es zu lieben, wenn er es am Ende seiner Liebe für wert befindet.“
Es ist Zeit für eine umfassende Renovierung – in unserem Fall sogar für einen gründlichen Umbau. Wir dürfen nicht aus den Augen verlieren, wieviel uns noch von unseren Idealen trennt. Schließlich lebt eine offene Gesellschaft von Selbstkritik. Wir müssen bereit sein, das zu werden, was wir zu sein behaupten.
Den Islam einquartieren
Lassen Sie mich zum Schluss darlegen, was ich meine, wenn ich sage „werden, was wir zu sein behaupten“, indem ich die Eingliederung des Islam in die liberalen Demokratien Europas erörtere. Die gegenwärtige Sackgasse wird teilweise durch unsere Unfähigkeit verursacht, einen mehr oder weniger konsequenten Umgang mit dem Islam als neuer Religion in unserer Gesellschaft zu finden. Dieses „unserer“ bezieht sich ausdrücklich auch auf die Muslime. Nichts sät so viel Misstrauen wie der Eindruck, dass mit zweierlei Maß gemessen wird.
Es geht um drei konkrete Fragen. Inwieweit wird die Trennung von Kirche und Staat – die Basis religiöser Freiheit – in Europa beachtet? Auf dieser Grundlage können wir dann Muslime fragen, ob sie zusätzlich zu ihrem Recht auf Glaubensfreiheit auch bereit sind, dieselbe Freiheit im Interesse anderer Gläubiger oder Ungläubiger zu verteidigen. Mehr noch, die Muslime müssen sich fragen lassen, ob sie bereit sind, die Freiheit, die sie als Gruppe beanspruchen, auch allen Mitgliedern ihrer Gemeinschaft zu gewähren. Selbstverständlich dürfen die Muslime von uns unter keinen Umständen an der freien Ausübung ihrer Religion gehindert werden.
Moscheen gehören hierher. Der Staat hat sich zurückzuhalten. Wenn wir Muslime auffordern, die religiöse Freiheit anzuerkennen, müssen auch wir dazu bereit sein. Nur auf der Grundlage einer Trennung von Kirche und Staat ist ein neuer gesellschaftlicher Kompromiss möglich: Es muss zu einer vollständigen Säkularisierung der Institutionen kommen. Nur auf der Grundlage einer Gleichbehandlung aller Religionen können – und müssen – Grenzen gezogen werden. Wir können den politischen Islam nur dann wirksam bekämpfen, wenn wir das Prinzip der religiösen Freiheit gewissenhaft einhalten. Dann aber können wir den Muslimen eine unumgängliche Frage stellen: Erwächst aus dem Recht auf religiöse Freiheit nicht auch zwingend die Pflicht, dieselbe Freiheit für andere Religionen und für Ungläubige zu verteidigen? Genau dies stellt der politische Islam in Frage, nicht nur mit Worten, sondern auch mit Drohungen und Gewalt.
Allerdings entstand diese radikal-islamische Interpretation nicht in einem Vakuum. Viel zu häufig unterteilen Muslime die Welt in zwei Hälften: wir und sie. Dann kommt früher oder später der Augenblick, wo die Muslime sich selbst die Möglichkeit nehmen, in einer Demokratie mit religiöser Vielfalt zu leben. Das Recht auf religiöse Freiheit geht Hand in Hand mit der Pflicht, die Freiheit anderer zu achten. Wenn die Muslime nicht bereit sind, das zu akzeptieren, stigmatisieren und marginalisieren sie sich selbst.
Zur Integration des Islam in die Demokratie sind erhebliche Anpassungen erforderlich. Infolge der Migration ist eine besondere Situation entstanden: Zum ersten Mal in ihrer Geschichte stellen Muslime eine Minderheit in einer liberalen, säkularen Gesellschaft dar. Daher wäre das Urteil verfrüht, dass demokratische Grundsätze und der Islam in seiner hier praktizierten Form prinzipiell unvereinbar seien. Die Frage, ob die Eingliederung des Islam in Europa gelingen wird, ist offen; die Klärung einer Reihe von Grundsätzen ist hierbei entscheidend, bietet allerdings keinerlei Gewähr.
Glaubensfreiheit schließt Glaubenskritik nicht aus. Im Gegenteil, zum Preis für eine offene Gesellschaft gehört, dass im Rahmen einer offenen Debatte Kritik an religiösen Überlieferungen geäußert werden kann. Ein wenig Feingefühl darf man von den Kritikern erwarten; trotzdem kann die freie Meinungsäußerung über Dinge, die anderen heilig sind, als zutiefst anstößig empfunden werden. So ist das nun einmal. Wenn Muslime hier leben möchten und die Auffassung vertreten, der Koran oder der Prophet wären über jede Kritik erhaben und dürften nicht satirisch thematisiert werden, führt ihr Weg in eine Sackgasse.
Der Karikaturenstreit hat uns gelehrt, dass Religionsfreiheit und die Freiheit zu Religionskritik untrennbar sind. Daher sind die Versuche der niederländischen und der britischen Regierung unklug, Gotteslästerung wieder zur Straftat zu machen, um es ganz vorsichtig auszudrücken. Warum sollte die Beleidigung von Göttern eigentlich schlimmer sein als die Beleidigung von Mitmenschen? Jeder, der den Grundsatz der Gleichbehandlung verteidigt, kann nicht umhin, religiöse und säkulare Philosophien als gleichberechtigt vor dem Gesetz anzusehen. Natürlich gibt es Grenzen der Redefreiheit, die schließen aber die Kritik an einem oder den Spott über einen Glauben nicht aus. Sonst können wir gleich damit beginnen, die Schrift „Lob der Narrheit des Erasmus“ zu verbrennen, enthält sie doch Kapitel wie „Noch mehr Narrheit in der Bibel“. Toleranz kann nicht auf Furcht gegründet sein.
Gleichbehandlung heißt nicht, dass sich jeder plötzlich liberale Ideen zu eigen machen muss. Wie andere traditionelle Gläubige dürfen konservative Muslime die Homosexuellenehe ablehnen, solange sie akzeptieren, dass die Mehrheit sich im Augenblick anders entschieden hat. Umgekehrt müssen alle, die Religion prinzipiell kritisieren, bereit sein, die Glaubensfreiheit zu verteidigen, da Zwang in Glaubenssachen ein Angriff auf die Demokratie ist. Diplomatisches Vermeidungsverhalten ist kein Mittel für den Umgang mit dem Islam; da hilft nur Redlichkeit in Hinblick auf die gemeinsamen Grundsätze der Glaubensfreiheit.
Im Augenblick sind wir in einen Konflikt mit einem politischen Islam verstrickt, dessen Ende nicht abzusehen ist. Dieses internationale Klima wirft einen Schatten auf die Versuche, muslimische Minderheiten in Europa zu integrieren. Doch wenn es uns -gelingt und wenn wir in säkularen und liberalen Gesellschaften einen Platz für den Islam finden, werden wir universeller geworden sein. Wenn es uns gelingt, dem Grundsatz der Glaubensfreiheit treu zu bleiben und viele Millionen muslimische Migranten und deren Kinder in unsere Gesellschaften einzugliedern, nehmen wir eine privilegierte Stellung in der Welt ein.
Seit 1989 hat Europa die Möglichkeit, sich auf friedliche Weise zu vereinigen – nicht nur durch Überwindung alter Zwistigkeiten, sondern auch, indem es Migranten eine neue Heimat bietet. Es gibt keinen zwingenden Grund, warum die Alte Welt nicht in der Lage sein sollte, sich neu zu erfinden. Da es viele Dinge in Europa gibt, die es verdienen, Wert geschätzt zu werden, statt brutaler Modernisierung zum Opfer zu fallen, ist eine gewisse Zurückhaltung durchaus verständlich. Trotzdem sollten Migrationsschock und Integration als eine Chance verstanden werden, dem Ideal einer offenen Gesellschaft gerecht zu werden.
Übersetzung: Hainer Kober
Literaturangaben
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Prof. Dr. PAUL SCHEFFER ist Inhaber des Wibaut-Lehrstuhls für Probleme der Großstadt an der Universität von Amsterdam. Soeben erschien bei Hanser sein Buch „Die Eingewanderten. Toleranz in einer grenzenlosen Welt“.
Internationale Politik 10, Oktober 2008, S. 100 - 109