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31. Aug. 2018

„German Befindlichkeit First“

Trumps Alleingänge empören. Dabei agiert auch Berlin oft egoistisch

Je länger US-Präsident Donald Trump im Amt ist, desto häufiger taucht das Wort „multilateral“ in den Reden deutscher Politiker auf. Die enge Abstimmung mit internationalen Partnern wird als gültige Norm in einer globalisierten Welt verkauft. Doch auch die deutsche Politik ist alles andere als ein Musterknabe: Sie agiert häufig selbst unilateral.

Seit dem Amtsantritt von US-Präsident Donald Trump häuft sich in Reden von Kanzlerin Angela Merkel oder Außenminister Heiko Maas die Kritik am „unilateralen Vorgehen“ des Amerikaners – gepaart mit dem Bekenntnis, die multilaterale Ordnung zu verteidigen bzw. sogar neue Bündnisse mit Gleichgesinnten eingehen zu wollen (siehe dazu den Beitrag von Ulrich Speck, S. 74 ff.). In US-­Medien ist Merkel deshalb zu Trumps Gegenspielerin avanciert. Tatsächlich hält Deutschland an maßgeblichen Institutionen wie EU, NATO, WTO oder auch dem Atom­abkommen mit dem Iran fest.

Aber auch Deutschland zeigt seit Jahren, dass es selbst gerne eigene Befindlichkeiten und Interessen über ein gemeinsames Vorgehen mit den engsten Partnern stellt – das deutliche geplante Verfehlen des 2-Prozent-Ziels der NATO ist nur das jüngste Beispiel. Zwischen Rhetorik und Realität in der deutschen Außen- und Europadebatte klaffen erhebliche Lücken.

Der entscheidende Unterschied: Während Trump sein „America First“ offensiv, provokant und lautstark vorträgt, pocht die deutsche Politik eher verschämt auf das Prinzip „German Befindlichkeit First“. Besonders schlimm: In der innenpolitisch dominierten, öffentlichen Debatte deutscher Politiker und Medien wird nicht einmal erkannt, wie oft rein nationale Überlegungen über Gemeinschaftsinteressen gestellt werden. Auch fehlt meist die Erkenntnis, dass Entscheidungen, die im größten, zentral gelegenen EU-Staat getroffen werden, fast automatisch Auswirkungen auf andere Staaten haben.

Die Neigung zu „German Befindlichkeit First“ hat die deutsche Politik über Jahrzehnte sowohl in der Außen-, Verteidigungs-, Energie-, Asyl-, Verkehrs-, Wirtschafts- und Finanz-, aber selbst der Forschungspolitik entwickelt. Verantwortlich dafür ist eine Vielzahl von Gründen – von der Regierungsbeteiligung von Regionalparteien wie der CSU bis hin zum quer durchs politische Spektrum verbreiteten Glauben, dass deutsches Denken und vor allem deutsche Moral vielen Partnern irgendwie überlegen seien.

Dabei soll es hier nicht darum gehen, ob eine deutsche Position nun jeweils „richtig“ oder „falsch“ ist. Es soll auch nicht der Eindruck erweckt werden, dass andere Partner wie Frankreich oder Großbritannien nicht auch national-egoistisch agierten: Das tun sie durchaus. Vielmehr geht es darum, die Selbsteinschätzung der Deutschen als multilaterales Vorbild zu relativieren. Denn erst auf ­Basis dieser Erkenntnis ist ein wirklich gemeinsames, europäisches Agieren möglich.

Interessanterweise haben Trump und der Brexit bereits zu einem gewissen Umdenken bei der Bundesregierung geführt. So betont die Kanzlerin heute, dass Deutschland einen Fehler gemacht habe, vor 2015 in der Flüchtlingskrise keine Solidarität mit Italien gezeigt zu haben. Auch bietet Deutschland an, seinen nichtständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat 2019–2021 als „europäischen“ zu verstehen, also vor Entscheidungen eine Abstimmung mit EU-Partnern zu suchen.

Mangelndes Bewusstsein

Das ändert aber nichts daran, dass es in vielen Politikfeldern ein mangelndes Bewusstsein dafür gibt, wie wenig national oder parteipolitisch getroffene Entscheidungen zu dem formulierten multilateralen Anspruch passen. Ein Überblick.

Beispiel Entwicklungshilfe: Bei der 1972 in der UN-Vollversammlung eingegangenen Selbstverpflichtung, 0,7 Prozent der Wirtschaftsleistung für Entwicklungshilfe auszugeben, ist die deutsche Politik erstaunlich inkonsequent. Erst im Rahmen der eigenen Betroffenheit durch die Migrationskrise wuchs in den vergangenen Jahren die Erkenntnis, dass man dieses von wechselnden Regierungen recht nachlässig verfolgte Ziel doch etwas ernster nehmen sollte. 2016 wurde die Zielmarke sogar erstmals erreicht – aber bezeichnenderweise nur, weil Deutschland die im Innern anfallenden Ausgaben für den Zuzug ungewöhnlich vieler Flüchtlinge und Migranten 2015 und 2016 einrechnen konnte. Mit dem Abflauen des Migrationsdrucks wird Deutschland das Ziel in den kommenden Jahren wieder klar verfehlen. Im Koalitionsvertrag wurde vor allem das Füllhorn über innenpolitische Wünsche von CDU, CSU und SPD ausgeschüttet – so als gäbe es keine internationalen Verpflichtungen.

Beispiel Migration: Das ­Treffen von 16 EU-Staats- und Regierungschefs zur Flüchtlingskrise in Brüssel am 24. Juni war äußerst ungewöhnlich. Letztlich sorgte allein das Agieren der CSU dafür, dass auf deutschen Wunsch hin ein Sondertreffen stattfand, um die von Innenminister Horst Seehofer angedrohte nationale Zurückweisung von Flüchtlingen zu verhindern, die in anderen EU-Staaten bereits registriert waren. Deutlicher kann man als Land nicht demonstrieren, wie hemmungslos nationale oder auch nur regionale Befindlichkeiten zu einem Problem für alle in Europa gemacht werden.

Bei einer Regierungskrise in Dänemark oder Zypern hätte es kaum einen Gipfel gegeben. Ein Grundprinzip der internationalen Beziehungen gilt dann doch: Große Länder ­verhalten sich egoistischer und pochen auf Sonderregeln – weil sie es können.

Beispiel Parlamentsarmee: Ein weiterer Fall deutscher Befindlichkeit ist seit Jahrzehnten der Bundestagsvorbehalt beim Einsatz deutscher Soldaten im Ausland. De facto ist die „Parlamentsarmee“ einer der größten Bremsklötze auf dem Weg zu wirklich gemeinsamen europäischen Strukturen in der Verteidigungspolitik. Ohne Reformen in Deutschland kann es keine Europäische Armee geben, weil immer Restzweifel der Partner bleiben, ob im Krisenfall ausgerechnet der größte EU-Staat überhaupt einsatzwillig und -fähig wäre.

Beispiel Verkehr: Auch die Einführung der Pkw-Maut zeigt, wie rein nationales Denken die deutsche Politik dominiert. Einmal mehr hat die Regionalpartei CSU mit Blick auf die Situation an der deutsch-österreichischen Grenze ein Problem für ganz Westeuropa geschaffen. Auch hier geht es nicht um Sinn oder Unsinn der Pkw-Maut, die etwa Österreich zuvor eingeführt hatte. Aber das Thema wurde rein parteipolitisch in Koalitionsrunden in Berlin entschieden – ohne die Auswirkungen auf engste EU-Partner wie Belgien oder die Niederlande mit zu bedenken.

Beispiel Energie: Auf diesem Gebiet hat Deutschland seine EU-Partner gleich mehrfach durch unilaterales Handeln verärgert. Damit ist nicht etwa der Bau der Gaspipeline Nord Stream durch die Ostsee gemeint, der zwar von Polen kritisiert, von den Niederlanden, Großbritannien und Frankreich dagegen befürwortet wurde. Aber obwohl die Energiepolitik in der EU nationale Angelegenheit ist, hat der zwischen CDU, CSU und FDP verabredete Ausstieg aus der Atom­energie 2011 erhebliche Auswirkungen auf die Nachbarstaaten. So führten der forcierte Ausbau der erneuerbaren Energien und die in Hochzeiten ins Netz gedrückten großen Mengen an Windstrom aus dem Norden zu Problemen in Polen oder Tschechien. Der Grund: Deutschland hat bis heute seine Hausaufgaben beim Bau der nötigen Nord-Süd-Stromtrassen nicht erledigt, baut aber die erneuerbaren Energien fleißig weiter aus – und verlagert damit seine Überschussprobleme einfach in die Nachbarländer.

Das Energiethema zeigt zudem, wie schizophren die deutsche Europapolitik immer wieder ist: Weil alles Atomare ähnlich wie das Militär in Deutschland negativ besetzt ist, begrüßten selbst die Grünen den nationalen Alleingang. Dieses Muster wird auch bei anderen Themen immer wieder sichtbar: Geht die Entwicklung in die parteipolitisch gewünschte Richtung, gibt es keine Kritik am unilateralen Vorgehen.

Beispiel Forschung: Mit seiner Militär-Aversion hat Deutschland den Aufbau des europäischen Satellitenprojekts Galileo verzögert und ineffektiver gemacht. Während das amerikanische GPS-System aus der militärischen in die zivile Nutzung überführt wurde und alle maßgeblichen Raumfahrtnationen bei ihren Programmen einen kombinierten, zivil-militärischen Einsatz vorsehen, pochten wechselnde Bundesregierungen auf eine rein zivile Nutzung von Galileo. Auch hier galt die Devise, dass die EU sich bitte nach deutschen Empfindlichkeiten zu richten habe. Denn in Deutschland ist schon vom Staat geförderte militärische Forschung ein rotes Tuch.

Beispiel Geldpolitik: Union und FDP kritisieren immer wieder gern den rot-grünen „Sündenfall“, dass Deutschland (im Konzert mit Frankreich) 2003 und 2004 bewusst die Regeln des Stabilitätspakts brach. Dies wird als Ermunterung für kleinere Euro-Staaten angesehen, die in den Folgejahren ebenfalls die Defizitregeln sehr „individuell“ auslegten.

Aber CDU und CSU haben ihrerseits keine Hemmungen, ebenfalls die nationale Karte zu spielen, wenn es ihnen passt. So beharrte CDU-Chefin Merkel auf eine Einbeziehung des Internationalen Währungsfonds in die Griechenland-Programme – unter anderem, weil nur dies eine Mehrheit von Union und FDP in den knappen Entscheidungen im Bundestag sichern half.

Anders liegt der Fall allerdings beim Vorwurf gerade aus den ­Euro-Südländern, dass Deutschland seine Politik der „schwarzen Null“ zum Maßstab für eine insgesamt zu restriktive Euro-Politik gemacht habe. Es stimmt zwar, dass Merkel mit Blick auf die Zustimmungspflichten des Bundestags und das Bundesverfassungsgericht immer auf ihren sehr engen Spielraum verwies. Aber in Wahrheit verfolgte Berlin bei den Hilfsprogrammen gar keinen nationalen Sonderweg. Vielmehr versteckte sich eine Reihe von nördlichen und östlichen Euro-Ländern hinter der deutschen Position. Berlin agierte also weit weniger unilateral, als es den Anschein hatte.

Wieder anders liegt die Sache bei der Frage einer Vertiefung der Wirtschafts- und Währungsunion. Während Macrons Vorstellungen, wie die von einem großen, eigenen Euro-Zonen-Budget, nicht nur in Deutschland, sondern in vielen Ländern auf Widerstand stoßen, ist das Kopfschütteln bei den meisten EU- und Euro-Partnern groß, warum sich Berlin standhaft weigert, die Bankenunion zu vollenden. Der Hauptgrund ist die Sorge der deutschen Politik, den Wählern erklären zu müssen, wieso eine am Ende gemeinschaftliche Haftung für Spareinlagen in der EU nicht die privaten Guthaben gefährden muss.

Beispiel Handels- und Wirtschaftspolitik: Ähnlich kompliziert liegt der Fall in der Handelspolitik. Hier kri­tisieren Macron und andere EU-Regierungschefs die hohen deutschen Export­überschüsse. Deutschland hat auf G7- und G20- sowie EU-Gipfeln immer verhindert, dass diese Kritik allzu scharf ausfiel. Berlin steht mit seiner Position nicht ganz alleine, weil etwa die Niederlande ebenfalls einen sehr hohen Überschuss vorzuweisen ­haben.

Bei der Frage zu niedriger Investitionen ist Deutschland aber sehr wohl isoliert. Ähnlich wie in der Energiepolitik führt die Bundesregierung die komplizierte föderale Struktur der Bundesrepublik als Dauerentschuldigung an. Dabei liegt es an Deutschland selbst, für einen schnelleren Abruf der zur Verfügung stehenden Finanzen für Investitionen etwa durch Verfahrensbeschleunigungen zu sorgen. Doch angesichts der Fülle von Partikularinteressen von Ländern, Kommunen und Parteien gibt es in der deutschen Politik wenig Neigung, stets mitzudenken, dass die ungelösten innerdeutschen Probleme eine europapolitische Wirkung haben. Ein Indiz für diese Haltung ist die hohe Zahl an Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland wegen der schleppenden Umsetzung gemeinsamer EU-Regeln.

Beispiel Außenpolitik: Deutschland hält sich gerade in der Außenpolitik für ein multilaterales Vorbild. Tatsächlich agiert die Bundesrepublik in vielen Bereichen auch sehr UN-konform – aber eben nicht immer. Denn über Jahre haben wechselnde Bundesregierungen eine schärfere Verurteilung Israels für den Siedlungsbau in den besetzten palästinensischen Gebieten oder gar EU-Sanktionen verhindert. Begründung war immer der Hinweis auf die besondere deutsche Verantwortung und Rolle für den jüdischen Staat nach dem Holocaust. So selbstverständlich dies aus deutscher Sicht sein mag: Bei den europäischen Partnern stößt dies Jahrzehnte nach Ende des Zweiten Weltkriegs nicht immer auf Verständnis, sondern gilt als deutscher Sonderweg.

Allerdings kommt nun Bewegung in die außenpolitische Debatte. Merkel hat vorgeschlagen, künftig über Mehrheitsentscheidungen in der EU-Außenpolitik nachzudenken – dann könnte auch Deutschland überstimmt werden.

Die zweijährige deutsche Mitgliedschaft im UN-Sicherheitsrat wird jedenfalls zum Testfall – wie „europäisch“ sie ausfallen und wie multi- oder unilateral die Bundesregierung am Ende wirklich handeln wird.

Dr. Andreas Rinke ist politischer Chefkorrespondent der Nachrichtenagentur Reuters in Berlin.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, September-Oktober, 2018, S. 79 - 83

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