Georgien am Kipppunkt
Korruption, Repression, Gewalt: Das Land im Kaukasus rutscht in den Autoritarismus ab, Richtung Moskau, weg von Brüssel. Steht die EU davor, Tiflis als Partner zu verlieren?
Georgien ist ein Schlüsselland in der östlichen Nachbarschaft der EU. Aufgrund seiner geografischen Lage zwischen Schwarzen und Kaspischen Meer ist es eine wichtige Verbindung zwischen Europa und Asien sowie wichtiger Zugang für Öl- und Gasressourcen aus der kaspischen Region.
Seit Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine ist das Land für Europa noch bedeutsamer geworden. Denn es liegt auf dem sogenannten „transkaspischen Korridor“, einer Logistikroute, die Asien mit Europa unter Umgehung von Russland verbindet. Aus Sicht Moskaus wiederum ist Georgien neben Aserbaidschan ein weiterer wichtiger Zugang zum Iran auf dem Nord-Südkorridor und weiter Richtung Indien.
Nach der sogenannten Rosenrevolution 2003, benannt nach einem Zitat des ersten georgischen Präsidenten Swiad Gamsachurdia („Wir werden Rosen statt Kugeln auf unsere Feinde werfen“), galt die Geschichte Georgiens als postsowjetische Erfolgsstory. Das Land stand beispielhaft für wirtschaftliche und politische Reformen, für die Bekämpfung von Korruption, für eine funktionsfähige Verwaltung und für eine lebendige Zivilgesellschaft.
Georgien war das Land in Osteuropa, das am konsequentesten auf einen transatlantischen Kurs setzte. Noch heute stimmen über 80 Prozent der Georgier in Umfragen für einen EU-Beitritt. Viele postsowjetische Staaten sahen in Georgien langer Zeit ein Modell für Reformen und die Annäherung an EU und NATO. In der Ukraine etwa setzte man im Rahmen seiner EU-Reformpolitik auf das Know-how georgischer Experten.
Doch erst mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine bot die EU Georgien einen Kandidatenstatus und damit eine Beitrittsperspektive – zu einem Zeitpunkt, als die geopolitischen Verschiebungen und die inneren Entwicklungen in Georgien dazu geführt hatten, dass sich das Land eher wieder von der EU entfernte.
Brüssel hatte den Moment verpasst, in dem eine andere politische und gesellschaftliche Dynamik in Georgien vorherrschte, in dem die reaktionären Kräfte noch nicht so stark waren, dass sie eine europäische Integration hätten verhindern können. Seit einigen Jahren rutscht das ehemalige Musterland in der östlichen EU-Nachbarschaft immer weiter ab in Richtung Autokratie.
Besonders deutlich war dieser Kurs im Kontext der Parlamentswahl vom Oktober 2024 zu beobachten. Im Vorfeld wurde nach russischem Vorbild ein Gesetz über ausländische Agenten beschlossen, das die externe Finanzierung von zivilgesellschaftlichen Organisationen und unabhängigen Medien unter staatliche Kontrolle stellt und deren Registrierung einfordert, sofern deren Finanzierung mehr als 20 Prozent ausmacht. Bei Nichtregistrierung drohen hohe Geldstrafen.
Georgische zivilgesellschaftliche Organisationen erhalten über 90 Prozent ihrer Finanzierung aus dem Ausland, auch da georgische Gelder kaum zu bekommen sind. In Russland hat dieses Gesetz zu einer Abwicklung der organisierten Zivilgesellschaft und nichtkontrollierter Medien geführt. Ähnliche Tendenzen sind mittlerweile in Georgien zu beobachten.
Das System Iwanischwili
Das Besondere an Georgien ist, dass ein Mann seit über einem Jahrzehnt mit seiner Partei „Georgischer Traum“ die Politik dominiert und de facto über unbegrenzte Ressourcen verfügt: Bidsina Iwanischwili, der reichste Mann des Landes. Der Politiker und Unternehmer ist in den 1990er Jahren in Russland mit Bankgeschäften und Rohstoffen reich geworden; er pflegt weiter enge Verbindungen nach Moskau.
Iwanischwili lebt isoliert in Georgien, verlässt kaum das Land und ist ein eifriger Konsument und Verbreiter von Verschwörungstheorien. Die Zukunft Georgiens hat Iwanischwili zu seiner privaten Angelegenheit gemacht – es gibt keinen Spitzenpolitiker in der georgischen Führungsriege, der nicht irgendwann in Iwanischwilis Unternehmen gearbeitet hätte und sich nicht durch absolute Loyalität gegenüber seinem Chef auszeichnete. Wer Kritik an autoritären Tendenzen oder an Iwanischwilis Führungstil übt, muss die Partei verlassen. Selbst der ehemalige Premier- und Innenminister Giorgi Gakharia ist in die Opposition gegangen.
Der Mann, den Iwanischwili 2012 mit seinem Georgischen Traum und erheblichem gesellschaftlichen Rückhalt abgelöst hatte, war seinerseits im späteren Verlauf seiner Zeit an der Macht durch autoritäre Tendenzen aufgefallen: Micheil Saakaschwili, charismatischer Anführer der Rosenrevolution und der Partei „Vereinigte Nationale Bewegung“. Saakaschwili ließ in seiner zweiten Amtszeit immer wieder politische Gegner ins Gefängnis stecken – es gab sogar Mordaufträge –, und nach zwei Amtszeiten als Präsident versuchte er, über die Aufwertung der Position des Premierministers an der Macht zu bleiben. Nach wie vor polarisiert Saakaschwili in Georgien so stark wie niemand sonst. Dass der Georgische Traum heute so große gesellschaftliche Unterstützung im Land genießt, hat viel mit der Endphase von Saakaschwilis Regierung zu tun. Deshalb interessiert es auch nur wenige, dass der Ex-Präsident gerade zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt worden ist.
Iwanischwilis Interesse, unter keinen Umständen die Macht abzugeben, kam in der Parlamentswahl vom Oktober 2024 noch einmal deutlich zum Ausdruck, der wohl am stärksten gefälschten Wahl in der neueren Geschichte des Landes. Offiziell war der allmächtige Strippenzieher gar nicht angetreten; zur Wahl stand sein Nachfolger als Premierminister, Irakli Kobachidse. Trotz Umfragewerten von 30 bis 35 Prozent kam der Georgische Traum auf über 50 Prozent der Stimmen.
Nun sind Wahlmanipulationen im postsowjetischen Georgien nichts Neues. Aber der Umfang hat ein neues Ausmaß erreicht. Zahlreiche Untersuchungen von Experten und zivilgesellschaftlichen Organisationen dokumentierten ein umfassendes System der Wahlfälschung und Nutzung gesellschaftlicher Abhängigkeiten von staatlichen Zahlungen.
Ein weiteres Problem des georgischen politischen Systems: Keine der Parteien genießt besondere Zustimmung in der Gesellschaft. Mehr als 60 Prozent der Georgier fühlen sich Umfragen zufolge von keiner Partei repräsentiert. Viele der Stimmen für die Opposition waren im Grunde Stimmen gegen den Georgischen Traum. Allerdings hat die Partei weiterhin eine gewisse Zustimmung in den konservativen Teilen der Gesellschaft, vor allem außerhalb der großen Städte.
Seit dem Ende der Sowjetunion gehört Polarisierung zur politischen Kultur Georgiens, denn die jeweilige Regierungspartei versucht, alle Bereiche des Staates zu dominieren. Nur die Zivilgesellschaft, die Macht der Straße, hat immer wieder einen Wechsel oder politischen Ausgleich ermöglicht.
Diese Balance gibt es nicht mehr. Heute dominiert der Georgische Traum die Politik des Landes in einem Maße wie keine andere Partei zuvor. Er definiert den Rahmen, in dem Wahlen stattfinden, in dem die Oppositionsparteien, die Zivilgesellschaft und die Medien agieren. Die Partei kontrolliert alle Schlüsselinstitutionen des Staates inklusive der Gerichte und Sicherheitsorgane. Der Raum für politischen Wettbewerb und gesellschaftliche Kontrolle wird kleiner.
Mit dieser Entwicklung einher geht eine immer stärkere Annäherung an Russland, insbesondere seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine 2022. Ungeachtet dessen beteuern die Machteliten, dass Georgien sich weiterhin in die EU integrieren möchte. 2018 wurde das Ziel der EU- und NATO-Integration sogar in der Verfassung festgeschrieben.
Nach der Parlamentswahl 2024 kündigte Premier Irakli Kobachidse jedoch an, die EU-Beitrittsgespräche bis 2028 auszusetzen. Scheinbar fühlte sich der Georgische Traum aufgrund der Wahlergebnisse so stark, dass er sich diese Abkehr vom proeuropäischen Kurs zutraute, ohne mit massiven Protesten zu rechnen.
Doch obwohl Zivilgesellschaft und Opposition nach den massiven Wahlfälschungen wie gelähmt wirkten, führte die Entscheidung zu einer wochenlangen gesellschaftlichen Mobilisierung. In der jüngeren Generation, in der Zivilgesellschaft und bei den progressiven Kräften geht die Angst um, dass Georgien ganz vom europäischen Kurs abkommen und zurück in den russischen Orbit driften könnte.
Hatte Bidsina Iwanischwili je ein echtes Interesse an einer EU-Integration? Zweifel daran sind berechtigt – denn dieses Thema ist eng mit der Machtfrage verknüpft. Würden weitere Reformen im Rahmen der EU-Integration erfolgen, verlöre Iwanischwilis Partei die Kontrolle über Verfassungsgericht, Verwaltung und Sicherheitsorgane. Mehr Rechtsstaatlichkeit und Transparenz bei Wahlen wären wohl kaum im Sinne des Oligarchen.
Der Russland-Schock
Für Georgien als kleinem Land im Südkaukasus zwischen Europa und Asien, Russland, Iran und der Türkei spielen Sicherheitsfragen eine besondere Rolle. Der russisch-georgische Krieg von 2008 war ein Schock für die Gesellschaft, der schlaglichtartig offenbarte, dass weder die NATO noch die EU dem Land irgendwelche Sicherheitsgarantien geben würden.
Und so prägt die Angst vor einem erneuten Krieg mit Russland die georgische Politik. Im 2024er Wahlkampf instrumentalisierte der Georgische Traum diese Ängste. Mit ihrer transatlantischen Ausrichtung drohe die Opposition das Land in den Krieg in der Ukraine zu ziehen, so die Argumentation, während der Georgische Traum mit seiner Absicherungspolitik gegenüber Russland für Frieden stehe.
Dieser Slogan verfing in Teilen der Bevölkerung. Sicherheit und Souveränität sind für viele wichtiger als die vage Aussicht auf eine EU-Integration, die Wohlstand verspräche, aber auch mit Kosten verbunden wäre. Daneben behauptet die Regierungspartei, externe Akteure stellten mit einer Politik der Förderung von „LGBT und Genderideologie“ die georgische Identität ebenso infrage, wie es durch die Einflussnahme auf georgische Politik durch nichtstaatliche Organisationen geschehe.
Der Georgische Traum betreibt weiter einen substanziellen Rückbau der proeuropäischen und demokratischen Reformen der vergangenen 20 Jahre, auch weil man in Tiflis nicht befürchten muss, dass man durch die Regierung Trump in Washington dafür sanktioniert würde, im Gegenteil: Dort wurde gerade erst USAID dichtgemacht, ein zentraler Geber für die Zivilgesellschaft, für Reformprozesse, für Diversität und unabhängige Medien in Georgien. Der EU fehlen die Instrumente, Mittel und auch der politische Wille, um dieser Entwicklung ernsthaft etwas entgegenzusetzen.
Im Gegenteil: Mitgliedstaaten der Europäischen Union wie Ungarn halfen sogar aktiv dabei, die gefälschten Wahlen zu legitimieren. Viktor Orbán flog direkt nach der Wahl nach Tiflis, um dem Georgischen Traum zum Wahlsieg zu gratulieren. Orbáns Regierung ist für den Georgischen Traum das Vorbild für einen autokratischen Umbau des Landes.
Derzeit holt sein sowjetisches Erbe Georgien wieder ein; Russland bleibt der Referenzpunkt
Gleichzeitig blockiert die Regierung in Budapest mit der Slowakei gemeinsame EU-Sanktionen gegen Mitglieder der georgischen Regierung und Teile des Sicherheitsapparats, die Gewalt gegen Demonstranten ausgeübt haben. Die Statements von Offiziellen aus der EU und aus den Mitgliedstaaten wirken für viele Vertreter der georgischen Zivilgesellschaft wie hohle Phrasen.
Wie schnell demokratische Reformen zurückgedreht werden können, zeigt sich in Georgien besonders deutlich. Fast täglich werden neue Gesetze erlassen, um den Handlungsspielraum von Zivilgesellschaft, unabhängigen Medien und der Opposition einzuschränken. Europas Reaktion? Deutschland setzt – immerhin – auf die Streichung von Mitteln für die Regierung, im EU-Rahmen wurde nur die Visumsfreiheit für Diplomaten aufgehoben; alles andere wurde von einzelnen Mitgliedstaaten wie Ungarn blockiert.
Diese weitgehende Untätigkeit trotz einer starken proeuropäischen Mehrheit in der georgischen Bevölkerung führt zu einem fundamentalen Glaubwürdigkeitsverlust der Europäischen Union nicht nur in Georgien, sondern in ganz Osteuropa. Wie nachhaltig ist denn der ganze Reform- und Annäherungsprozess mit der EU, wenn man innerhalb weniger Monate fast alle Errungenschaften wieder zunichtemachen kann? Im geo- und sicherheitspolitischen Wettbewerb in der Region spielt die EU keine Rolle und möchte es wohl auch nicht. Es mangelt in Brüssel an Verständnis dafür, dass auch das Nichthandeln Folgen hat.
In diese Lücke springen andere. Russland baut systematisch seine Wirtschaftsbeziehungen zu den Staaten des Südkaukasus aus. China investiert in einen Tiefseehafen im georgischen Anaklia an der Schwarzmeerküste – ein ursprünglich amerikanisches Projekt –, und chinesische Firmen bauen Infrastruktur in Georgien im Rahmen von Projekten, die von europäischen Banken finanziert werden. Daneben bleibt die Türkei einer der wichtigsten Handelspartner und Investoren sowie autokratisches Rollenmodell.
Mit dem aktuellen Rückbau der demokratischen Reformen scheint der Kipppunkt in Georgien überschritten zu sein. Die Zivilgesellschaft ist zu schwach, um dem etwas entgegenzusetzen, die Gesellschaft ist müde, auf die Straße zu gehen, ohne dass es politische Alternativen gibt. Der Kurs des Landes Richtung Europa war offenbar nicht unumkehrbar. Derzeit holt Georgien sein sowjetisches und postsowjetisches Erbe wieder ein – mit Repression und Gewalt. Anfang der 1990er Jahre herrschte Bürgerkrieg und Staatsverfall in dem Land.
Russland bleibt der Referenzpunkt, an dem das Land nicht vorbeizukommen scheint. Die Aufwertung des großen Nachbarn durch die Regierung Trump entzieht den progressiven Kräften in Georgien jegliche Perspektive. Wir müssen davon ausgehen, dass noch mehr junge Menschen das Land Richtung Europa verlassen werden – und dass Bidsina Iwanischwili noch für längere Zeit die georgische Politik dominieren wird, sollte Europa nicht bereit sein, die Kosten für Repression durch Sanktionen zu erhöhen.
Internationale Politik 3, Mai/Juni 2025, S. 86-90