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01. Juli 2006

Geopolitischer Infantilismus

Europas Unsicherheit im Umgang mit Russland nimmt zu

Die Zeit russischer Charmeoffensiven Richtung Europa ist vorbei. Man zeigt sich die kalte Schulter;
selbstbewusst distanziert sich die „Energie-Supermacht“ von der früher angestrebten
Wertegemeinschaft mit dem Westen und hält nach neuen Partnerschaften Ausschau.
Die EU sollte jedoch vermeiden, Russland allzu aktiv in die Arme Chinas zu treiben.

Die Erneuerung und Konsolidierung Europas nach dem Ende des Kalten Krieges geschieht nach dem einzigartigen Integrationsmodell einer liberalen Wertegemeinschaft. Die mittelosteuropäischen Staaten, die Länder des Balkans und einige der Nachfolgerepubliken der ehemaligen UdSSR möchten sich in diese Wertegemeinschaft integrieren. Auch Russland teilt deren Werte formal. Faktisch jedoch orientiert es sein politisches System an der Idee eines starken Nationalstaats und scheint das liberale westliche Modell abzulehnen. Ein solches Russland gehört nach Meinung der EU nicht in das moderne Europa.

Russland hat seinen Platz in der europäischen Architektur noch nicht gefunden. Seine Identitätssuche nach 74 Jahren Kommunismus ist nicht abgeschlossen. Anfangs bekannte sich das aus den Ruinen der Sowjetunion neugeborene Land zur Demokratie. Heute erinnert es an einen Heranwachsenden in einer pubertären Phase, der seinen Zieheltern – den westlichen Demokratien – Respekt abverlangen möchte. In seinen Kinderjahren hing es wirtschaftlich und finanziell am Tropf des Westens. Heute demonstriert das 15-jährige postsowjetische Russland seine Muskeln und versucht, das Abhängigkeitsverhältnis umzukehren. Die EU bezieht ein Drittel ihrer Energielieferungen aus Russland. 2010 wird der Westen seinen Energiehaushalt nicht mehr aus eigenen Quellen decken können und doppelt so viel Öl und Gas aus Russland importieren müssen. Für die Stabilität Europas wird es daher entscheidend sein, dass der Kreml einen demokratischen und keinen autoritären Weg beschreitet.

Die Geschichte der europäisch-russischen Beziehungen ist auch eine des Aufeinanderprallens unterschiedlicher Erwartungen, Wahrnehmungen, Mentalitäten und Stereotype, knallharter wirtschaftlicher und geostrategischer Interessen sowie der ungleichzeitigen Entwicklungen. Offen bleibt die Frage, ob das Verhältnis zwischen dem EU-Europa und Russland in den nächsten Jahren von Feindschaft, Rivalität, Partnerschaft, Bündnisbestrebungen oder einer Schicksalsgemeinschaft gekennzeichnet sein wird.

Annährung und Distanzierung

Als Michail Gorbatschow im Jahre 1985 die Sowjetunion zu demokratisieren begann, entwickelte er, basierend auf der alten Idee Charles de Gaulles, die Vision eines „gemeinsamen europäischen Hauses“ von Brest bis Wladiwostok. Nach Beendigung des Kalten Krieges sollte eine reformierte Sowjetunion neben der EU die zweite Hauptstütze einer gesamteuropäischen Architektur bilden. Russland wandelte sich darüber vom Feind zum Partner des Westens. Dieser unterstützte Gorbatschows Perestroika. 1990 wurde mit den Ländern Ost- und Mittelosteuropas die Pariser Charta unterzeichnet, die als erster Schritt zur historischen Einigung Europas auf demokratischer Grundlage gesehen wurde.

Der großen Magnetwirkung eines Europas des Wohlstands und der Demokratie konnten sich die Völker der auseinander brechenden Sowjetunion nicht entziehen. Im Dezember 1991 lösten die Präsidenten der drei slawischen Republiken Russland, Ukraine und Weißrussland das Sowjetimperium auf, um – ohne den Ballast der asiatischen Republiken – schneller nach Europa zu gelangen. 1992 prophezeite der russische Außenminister Andrej Kosyrew die Errichtung eines politischen Bündnisses aller demokratischen Völker des Nordens gegen die künftigen globalen Gefahren aus dem Süden. Russland war faktisch zum Verbündeten des Westens geworden.

Vielleicht hätte ein postsowjetisches Russland, wenn es konsequenter die eigene Demokratisierung betrieben hätte, den moralischen Anspruch erheben können, ebenfalls den Sieg im Kalten Krieg errungen zu haben – das russische Volk hat sich bekanntlich aus eigener Kraft vom Kommunismus befreit. Doch die russischen Eliten, gefangen in der Machtprojektion der imperialen Geschichte, entschieden sich für einen Weg der unbedingten Wiedererlangung historischer Größe. Der drohende Zerfall des Staates, die Kriminalisierung und ein Wirtschaftskollaps Russlands Ende der neunziger Jahre konnten wahrscheinlich nur durch eine stärkere Ordnungspolitik des Staates aufgehalten werden. In Russland rückte der Gedanke der Stabilität in der Prioritätenliste vor die Idee der Freiheit. Jedenfalls endete die „romantische Phase“ in den europäisch-russischen Beziehungen, bevor sie wirklich begonnen hatte.

Der Westen entschied, das unberechenbare und mit sich selbst beschäftigte Russland einerseits auf Distanz zu halten und es andererseits in ein Regelwerk nach eigenen Vorstellungen einzubinden, um einen stabilisierenden Einfluss auf das Land behalten und von dort die notwendigen Rohstoffe weiter ungehindert beziehen zu können. Die EU und Russland entwickelten eine Reihe „strategischer“ und „pragmatischer“ Partnerschaften. Die EU lieferte Technologien für die Modernisierung Russlands und erhielt im Gegenzug Öl und Gas. Zur Jahrtausendwende wickelte Russland 40 Prozent seines Außenhandels mit der EU ab. So wurde das Land ruhig gestellt und entwickelte kein Störpotenzial bei der NATO- und EU-Osterweiterung.

Mit dem Aufstieg Wladimir Putins ab 2000 kamen von Russland neue Impulse für eine Intensivierung der strategischen Partnerschaft. Bis heute bleibt unklar, was Putin mit seiner westlichen Charmeoffensive bezweckte. War er ein echter Anhänger der Idee eines vereinten Großeuropas, oder wollte er nur die technologischen Ressourcen des Westens für eine zügigere Großmachtwerdung seines Staates nutzen? Jedenfalls offerierte Putin der EU eine vielschichtige Zusammenarbeit – erstmals auch in sicherheitspolitischen Fragen –, eine strategische Energieallianz und die Abschaffung aller Visabarrieren.

Im September 2001 bot er in seiner Rede im Berliner Reichstag eine Verschmelzung des rohstoffreichen sibirischen Raumes mit der technologisch höher entwickelten EU an. Der Kremlchef schien den Wirtschaftsaufbau Sibiriens als eine gemeinsame europäische Aufgabe des 21. Jahrhunderts zu betrachten. Er zeigte sich bereit, europäischen Konzernen Zugang zu den strategischen Wirtschaftszweigen zu gewähren. Als Gegenleistung forderte er die EU auf, Russland nicht mehr als reinen Rohstofflieferanten zu betrachten, sondern russischen Energiekonzernen die Expansion auf europäische Märkte zu ermöglichen.

Im gleichen Monat – die Ereignisse des 11. Septembers 2001 hatten die Welt in ihren Fugen erschüttert – trat Moskau der westlichen Antiterrorallianz bei und half den USA, Afghanistan von den Taliban zu befreien. Damit war Putins Russland über Nacht wieder zu einem Verbündeten des Westens geworden.

Gleichzeitig sprang in Russland, begünstigt durch die hervorragende Konjunktur auf dem Weltenergiemarkt, die Wirtschaft wieder an. Im Mai 2001 verabschiedete die Regierung die liberalsten Wirtschaftsreformen der jüngsten Geschichte. 2004 entstand im Zuge der EU-Osterweiterung die Idee der Schaffung von vier gemeinsamen Räumen zwischen Russland und der EU. Über die Zusammenarbeit in Sicherheitsfragen, bei der Bekämpfung internationaler Kriminalität und des Terrorismus, in der Energieversorgung, im Kulturaustausch und bei der Schaffung einer Freihandelszone sollte die Angliederung Russlands an das übrige Europa zügig vorangetrieben werden.

Um die Annäherung schneller zu bewältigen, versuchte Russland, „Sonderpartnerschaften“ mit Ländern wie Deutschland, Frankreich und Italien einzugehen. Wichtige Fakten wurden geschaffen: Deutschland durfte als erstes NATO-Land das russische Territorium für Militärtransporte nach Afghanistan nutzen. Mit dem italienischen Energiekonzern ENI wurde eine Gaspipeline durch das Schwarzmeer-Becken in die Türkei gelegt. Russland zeigte sich bereit, deutsche Firmen am wirtschaftlichen Wiederaufbau Tschetscheniens zu beteiligen. Als jedoch Deutschland, Frankreich und Russland im Irak-Konflikt offen gegen die USA opponierten, geriet die Troika als „Spaltpilz“ Europas und der transatlantischen Beziehungen in Verruf. Russlands Versuche, sich über die Troika als europäische Großmacht zu definieren, wurden von den USA und den mittelosteuropäischen Staaten abgeblockt.

Mit den USA hatte Russland in den neunziger Jahren eine stärkere strategische Partnerschaft gepflegt als mit den Europäern. Über die Gore-Tschernomyrdin-Kommission wurden viele Energieprojekte realisiert. Die Beziehungen verschlechterten sich jedoch, nicht nur während der Irak-Krise, sondern auch wegen der Verstaatlichung des Energiekonzerns Yukos, der kurz vor dem Verkauf an ein amerikanisches Ölunternehmen gestanden hatte. Die Art und Weise, wie der Kreml seit 2003 die staatliche Kontrolle über strategisch wichtige Industriebereiche, Banken und Medien in Russland wieder einführte, verärgerte die USA dermaßen, dass Washington Russland heute die Qualifikation für die WTO und die G-8 abspricht.

Die Abkühlung im Verhältnis zur EU folgte auf dem Fuße. Nach der EU-Erweiterung auf die Länder Mittelosteuropas 2004 grenzte die EU nun unmittelbar an den so genannten postsowjetischen Raum und begann, sich dem Stabilitäts- und Demokratietransfer in die östliche strategische Nachbarschaft stärker verpflichtet zu fühlen. Während der so genannten „bunten“ Revolutionen in Georgien (2003), der Ukraine (2004) und Kirgisien (2005) sowie der gescheiterten Revolution in Weißrussland (2006) standen die USA und die EU an der Seite derjenigen Kräfte, die ihre Länder von Russland weg nach Westen orientieren wollten. Der russische Plan einer Konföderation mit Moldau wurde vom Westen 2003 ebenfalls zurückgewiesen.

Während der 11. September 2001 ein Schlüsseldatum für Russlands sicherheitspolitische Annäherung an den Westen war, markierte der Terroranschlag von Beslan im September 2004 den Beginn der erneuten Abwendung. Putin nutzte Beslan als Vorwand, um eine neue Machtvertikale aufzubauen, die, aus Sicht des Westens, sein Land weiter von der Demokratie entfernte. Aus Enttäuschung über die mangelnde Solidarität im Kampf gegen den internationalen Terrorismus bezichtigte Putin den Westen, Russland Territorien entreißen zu wollen. Im darauf folgenden Jahr warf der Kreml den USA und der EU vor, Revolutionen im postsowjetischen Raum anzuzetteln, um Moskau seiner historischen Einflusssphäre zu berauben. 15 Jahre nach dem Ende der Sowjet-union waren die Beziehungen zwischen der EU und Russland wieder auf einem Tiefpunkt angelangt.

Märkte statt Werte

Das Jahr 2006 brachte eine erneute Zäsur im Verhältnis der EU zu Russland. Moskau entschied, für seine Interessen gegenüber dem Westen mit härteren Bandagen zu kämpfen. Als Antwort auf den steigenden Einfluss des Westens im postsowjetischen Raum begann Moskau, seine Energieträger an die ehemaligen Sowjetrepubliken zu marktgerechten Preisen zu verkaufen. Die an Subventionspreise gewöhnten Volkswirtschaften dieser Länder wurden dadurch schwer belastet. Als die Ukraine die Rechnung nicht bezahlen wollte, wurde ihr das Gas abgestellt. Aus dem russisch-ukrainischen Gasstreit entstand sofort ein globaler Konflikt. Die EU fürchtete um ihre Versorgungssicherheit, polnische Politiker riefen nach einer „Energie-NATO“ zur Eindämmung Russlands. Die USA unterstützten mit einigen der mittelosteuropäischen EU-Länder die Schaffung eines neuen Bündnisses für „Demokratie und wirtschaftliche Entwicklung“ auf postsowjetischem Territorium, das den Nachfolgestaaten Georgien, Ukraine, Aserbaidschan und Moldau die Türen in die NATO und die EU öffnen sollte. Mit seiner Drohgebärde erreichte der Kreml nur, dass im Westen die Debatte über eine Rückkehr zur Atomenergie wieder aufflammte und neue Pläne für eine Energieallianz EU–Zentralasien in Umgehung Russlands ausgeheckt wurden.

2007 wird ein Jahr von entscheidender Bedeutung für die russisch-europäischen Beziehungen sein. Dann läuft das Partnerschafts- und Kooperationsabkommen, das bisher die Beziehungen geregelt hat, aus. In der bisherigen Form will Moskau das Abkommen nicht verlängern und pocht auf einen höheren Vertragsstatus, der seinen erhöhten Stellenwert als Energie-Supermacht dokumentiert. Man will sich nicht in das energiepolitische Regelwerk der EU hi-neinpressen lassen, das angeblich die Konsumländer bevorzugt und Russland als Produzenten benachteiligt. Russland spricht von der Gefahr eines „Kartells“ der Verbraucherstaaten. Die EU will, dass die Regierung ihr Monopol über das Pipeline-Netzwerk aufgibt und westlichen Konzernen ungehinderten Zugang zu russischen Rohstoffen gewährt. Der Kreml stellt im Gegenzug die Frage nach dem direkten Verkauf seines Gases an die europäischen Konsumenten. Diesbezüglich fürchtet die EU jedoch eine aggressive Expansion russischer Staatsmonopolisten wie Gazprom.

Der Gasstreit verdeutlicht: In der Energiepolitik zeichnen sich neue Weichenstellungen ab. Ein sichtlich verärgerter Putin drohte damit, Russland könne, falls die EU die strategische Partnerschaft mit seinem Land in Frage stelle, die Energieallianz auch auf Asien umorientieren. Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, entschied er, westsibirische Gasressourcen, die bislang für den Export nach Westen ausersehen waren, nun stattdessen China zugänglich zu machen. Der Energiehunger der wachsenden Volkswirtschaften Chinas, Indiens, Japans und Pakistans sei so gewaltig, dass die asiatischen Staaten sich im Buhlen um die Gunst des Rohstofflieferanten Russland gegenseitig überträfen. Falls Russland seine Energieträger tatsächlich verstärkt nach Asien verkaufen würde, blieben für die EU weniger Öl und Gas übrig. Um den Westen noch weiter unter Druck zu setzen, entwickelte Moskau die Idee eines Gas-Kartells mit den zentralasiatischen Staaten, dem sich der Iran und Algerien anschließen könnten. Während die EU die Energiepartnerschaft mit Russland von gemeinsamen Wertvorstellungen und Menschenrechten abhängig machen würde, spielten moralische Überlegungen bei den asiatischen und islamischen Ländern keine Rolle.

Es war gleichwohl keine Überraschung, dass Putin nach dem großen Donnerwetter schon bald den ersten Baustein für eine strategische Energieallianz mit Deutschland legte. Über die künftige Ostsee-Pipeline wird Deutschland zur Drehscheibe für russische Gasexporte nach Europa. Im Gegenzug konnte sich der deutsche Energiekonzern Wintershall in stärkerem Maße als andere ausländische Firmen direkt in die Gasförderung in Russland einkaufen. Die Vereinbarungen aus den deutsch-russischen Regierungskonsultationen von Tomsk im April 2006 zeigen, dass Deutschland als erstes EU-Land Putins Vorschlag vom gemeinsamen Aufbau Sibiriens angenommen hat. Deutsche Firmen wie Siemens erhielten den Zuschlag bei Investitionen in den russischen Transportsektor. Der Ausbau der Transportsysteme gilt neben der Energiewirtschaft als der zweite Schlüsselbereich der russischen Wirtschaft. Russland will sich hier als Brücke zwischen Europa und Asien etablieren.

Mit welchen Konflikten hat Europa es heute in der neuen Ära der Energie-Außenpolitik zu tun? Das Tauziehen um Marktvorteile zwischen Russland und der EU geht in die nächste Runde. Will die EU nicht, dass das in den neunziger Jahren zum Rohstofflieferanten degradierte Russland plötzlich eigene Bedingungen stellt? Oder haben wir es in der Tat mit einer neuen Gefahr aus Russland zu tun, das in den nächsten 20 Jahren, wenn das Zeitalter des Erdgases seinen Höhepunkt erreicht, seine Ressourcen als politische Waffe einsetzen wird?

Europa ohne Russland

Russland hat der EU die Antwort auf seinen Ausschluss aus dem Europa der Werte gegeben: Werte hin oder her – ohne russisches Gas wird Europa erfrieren. Trotzdem wird die EU die Konsolidierung des europäischen Kontinents auf der Grundlage des westlichen liberalen Wertesystems natürlich fortsetzen. In zehn Jahren könnte die EU aus 30 Mitgliedern bestehen. Wahrscheinlich werden einige Länder des postsowjetischen Raumes einen Assoziierungsstatus mit der Union erhalten und sich in die NATO oder die Europäische Nachbarschaftspolitik (ENP) integrieren. Einen Beitritt Russlands zur EU kann sich zum heutigen Zeitpunkt hingegen niemand vorstellen. Welche Konsequenzen hat diese Entwicklung für die Stabilität Europas?

Russland wird sich, anders als etwa die Ukraine, nicht in die Europäische Nachbarschaftspolitik einbinden lassen. Im Gegenteil: Die ENP wird eher mit der gleichzeitig einsetzenden russischen Politik der Reintegration ehemaliger Sowjetrepubliken kollidieren. Russland beginnt, den Bau eigener Allianzen – wie den „Einheitlichen Wirtschaftsraum“, die russisch-weißrussische Union oder die Schanghai Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) – zu forcieren. Die von der ENP angestrebte Lösung der ethnisch-territorialen Konflikte im postsowjetischen Raum (Abchasien, Südossetien, Berg-Karabach, Transnistrien) wird sich angesichts der bevorstehenden Rivalitäten mit Russland noch als sehr problematisch erweisen.

Von einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik sind Russland und die EU also ebenso weit entfernt wie von einem gemeinsamen Energie- und Wirtschaftsraum. Im iranischen Atomkonflikt trägt Russland die Positionen der EU nur bedingt mit und spricht sich gegen Sanktionen gegen Teheran aus. Im Nahost-Quartett beginnt Moskau, sich von westlichen Positionen zu emanzipieren. Nicht unerwähnt bleiben sollten jedoch die Fortschritte bei der Zusammenarbeit in Fragen der inneren Sicherheit. Auf dem letzten EU-Russland-Gipfel in Sotschi hat sich Russland dazu verpflichtet, Immigranten, die aus Russland illegal nach Europa einreisen, wieder aufzunehmen. Im Gegenzug versprach die EU, das Visaregime für russische Reisende nach Europa zu lockern.

Wie steht es um die Frage einer politisch-kulturellen Integration? Russlands Vorstellungen von Europa sind ständigen Veränderungen ausgesetzt. Die russischen Eliten fühlen sich zwar der europäischen Zivilisation zugehörig, doch der Kreml kann sich nicht vorstellen, jemals seine Souveränitätsrechte nach Brüssel abzugeben. Während die EU eine Integrationsgemeinschaft ist, bleibt Russland von seinem Selbstverständnis her eine Großmacht, die selbst andere Länder „integriert“. Viele Russen betrachten das Europa der Werte als ein verstaubtes Relikt, das gegen die neuen Herausforderungen und Gefahren der Welt nicht bestehen kann. Viele Russen fühlen sich den Europäern sogar überlegen. Im vergangenen Jahrhundert wollte Russland den Marxismus nach Europa exportieren, der Westen nach Russland den Kapitalismus. Heute versucht der Westen, liberale Werte nach Russland zu transferieren. Was das einst schwache und jetzt in Petrodollars schwimmende Russland an Europa interessiert, sind jedoch eher materielle Werte – der verlockende europäische Markt.

Und doch: Russland und EU-Europa werden um eine Einigung nicht herumkommen. Schließlich leben sie auf einem Kontinent. Deshalb muss die strategische Partnerschaft zwischen Russland und dem Westen elementarer Bestandteil der Weltordnung bleiben. Russland ist ein für die EU unverzichtbarer Exportmarkt mit hohen Wachstumsraten. Die russische Regierung hat ihren Stabilitätsfonds, in dem sie jahrelang die Milliardeneinnahmen aus dem Energieexport gebunkert hat, geöffnet und investiert die Petrodollars jetzt in Projekte strategischer nationaler Bedeutung. Die russische Atom- und Flugzeugindustrie, der Wohnungsbau und das Gesundheitswesen sollen modernisiert, die Verkehrsinfrastruktur erneuert werden. Dies wird einen zusätzlichen riesigen Technologieschub aus dem Westen erfordern, von dem nicht zuletzt die deutsche Wirtschaft profitieren möchte. Neue Sonderwirtschaftszonen locken Investoren mit Steuervergünstigungen.

Schwieriger wird die Überführung der Partnerschaft in eine Schicksalsgemeinschaft, ähnlich der transatlantischen, werden. Die EU wird es schwer haben, sich mit einem Russland zu identifizieren, das Fragen der Menschenrechte, der kommunistischen Vergangenheitsbewältigung, der Rechtsstaatlichkeit und der Zivilgesellschaft ganz anders als der Westen betrachtet. Andererseits würde die EU fahrlässig handeln, drängte sie die östliche Großmacht in den ihr fremden asiatischen Kulturraum ab und beraubte sich so der historischen Chance, auf die innere Liberalisierung ihres Nachbarn nachhaltig einzuwirken. Soll die EU womöglich zusehen, wie Sibirien und der russische Ferne Osten eines Tages von einem wachsenden China vereinnahmt werden?

Schließlich sind noch andere Fragen offen, die in der gewöhnlichen Diskussion in Europa keine Rolle spielen. Eine Integration der EU und Russlands wird von den USA und China aus unterschiedlichen Gründen negativ betrachtet. Beide haben ihre individuellen Partnerschaftspläne und strategischen Interessen mit Russland. China kann einen Beitritt Russlands zur westlichen Welt aus sicherheitspolitischen Überlegungen kaum gutheißen. Eine NATO unter Einschluss Russlands wäre für Peking ein Albtraum. Die USA möchten EU-Europa für immer in eine transatlantische Gemeinschaft eingebunden wissen. Gleichzeitig scheinen die Amerikaner an einer separaten Energieallianz mit Moskau Gefallen zu finden und sehen auf diesem Gebiet die Euro-päer eher als Konkurrenten.

Es bleibt an Deutschland, in der europäisch-russischen Annäherung immer wieder eine Schlüsselrolle zu spielen, ob unter Helmut Kohl, Gerhard Schröder oder Angela Merkel. 2007 übernimmt Deutschland die Ratspräsidentschaft in der EU. In die Zeit des deutschen Vorsitzes fällt die Verlängerung des Partnerschaftsabkommens mit Russland. Berlin wird von Moskau auch die Führung der G-8 übernehmen. Die Bundesregierung plant im Verlauf ihrer Präsidentschaft neue Initiativen für die Stabilisierung des kaspischen Raumes. Schwerpunkte der neuen Ostpolitik sind Energiefragen, Lösungsvorschläge für die ethnisch-territorialen Konflikte sowie der Transfer westeuropäischer Rechtsstandards und demokratischer Werte. Während die USA im postsowjetischen Raum eine offene geopolitische Konfrontation mit Russland suchen könnten, wird Deutschland eher die Rolle des Vermittlers einnehmen und ein Strategiekonzept für den erweiterten östlichen Teil des europäischen Kontinents entwickeln müssen, das Russland fest einschließt.

Präsident Putin hat seine Amtszeit mit einer Öffnungspolitik nach Westen begonnen. Die in der Reichstagsrede enthaltenen Offerten an die Europäer werden die Ära Putin überdauern. Hat sich der Präsident inzwischen von einem Europäer zu einem „Asiaten“ gewandelt? Wohl kaum. Wahrscheinlich wird er versuchen, seine Präsidentschaft mit einer weiteren proeuropäischen Initiative zu krönen. Er könnte die Idee einer gemeinsamen europäisch-russischen Raketenabwehr wieder aufwärmen. Sicherlich wird Putin seine Nachfolge so zu regeln versuchen, dass auch der künftige russische Präsident die EU im Visier behält. Keinesfalls will Wladimir Putin in die Geschichte eingehen als derjenige, der Europa für Russland verloren hat.

ALEXANDER RAHR, geb. 1959, ist Programmdirektor des Körber-Zentrums für Russland/GUS bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. 2002 erschien eine Neuauflage seines Buches „Wladimir Putin. Der ‚Deutsche‘ im Kreml“.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 7, Juli 2006, S. 14‑20

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