Geopolitischer Albtraum
Warum die Energiemacht Kurdistan nicht an den IS fallen darf
Die jüngsten Luftschläge der Amerikaner und die von Deutschland in Aussicht gestellten Waffenlieferungen an die Kurden sind dringend notwendig. Denn wenn sich der „Islamische Staat“ (IS) durchsetzt, hätten wir es mit einer Terrormiliz zu tun, die über gigantische Öl- und Gasreserven verfügt.
Hunderttausende Menschen auf der Flucht, IS-Verbände fast unmittelbar vor den Toren Erbils, der Hauptstadt der kurdischen Autonomieregion: Einer der wenigen stabilen, weltoffenen und prosperierenden Regionen des Nahen und Mittleren Ostens droht Terror und Unterdrückung durch den IS. Wenn diese über die hochmotivierten, aber nur mit veralteten Waffen ausgerüsteten kurdischen Perschmerga-Einheiten triumphieren sollte, droht eine humanitäre Katastrophe, zudem aber auch ein geopolitisches Desaster, denn die Region hat gewaltige Öl- und Gasreserven. IS – das wären dann Taliban mit Öl und Gas!
Der Westen, insbesondere die USA, müssen das (noch) stabile Kurdistan gegen diesen Albtraum politisch und militärisch unterstützen. Nicht eine durch die Ereignisse der vergangenen Wochen mögliche kurdische Unabhängigkeit, sondern der Sieg des IS in der Region ist die eigentliche Bedrohung.
Geisel des Ungewissen
In einem Interview mit dem Nachrichtensender CNN erhob der Präsident der autonomen Irakischen Region Kurdistan, Massud Barzani, am 23. Juni 2014 zum ersten Mal den Anspruch auf Selbstbestimmung: Die Kurden hätten den Untergang des Irak nicht zu verantworten. Sie dürften nicht als „Geisel des Ungewissen“ genommen werden; vielmehr sei es an der Zeit, das kurdische Volk selbst über seine Zukunft entscheiden zu lassen.
Vieles spricht dafür, dass dieses Interview einmal als ein Gründungsdokument Kurdistans in die Geschichte eingeht. In Erbil, der Hauptstadt, wird eine entsprechende Volksabstimmung bereits vorbereitet. An ihrem Ausgang besteht kein Zweifel.
Man kann den Kurden in der Tat kaum vorwerfen, in den vergangenen Jahren eine aktive Sezessionspolitik betrieben zu haben. Zwar ließen sie nie Zweifel daran aufkommen, dass sie nach einem eigenen Staat streben, gleichzeitig aber waren sie klug genug, diesen Traum mit Rücksicht auf Bedenken in Washington und Ankara zurückzustellen. Quasi im Gegenzug hatten sie nach dem Irak-Krieg weitreichende Autonomierechte in der Verfassung ausgehandelt.
Selbst als das in der Verfassung vorgesehene Referendum über die umstrittene Kirkuk-Region in Bagdad immer weiter verzögert wurde und der Streit um verfassungsmäßige Zahlungen aus Bagdad und kurdische Öl-Exportrechte eskalierte, blieb Erbil bei seiner Linie, die Einhaltung der Verfassung, nicht aber die Trennung von Bagdad zu fordern.
Bis zur letzten Patrone
Erst als der IS-Blitzkrieg das Scheitern des Irak offenbarte, sah Massud Barzani, Sohn des legendären Kurdenführers Mustafa Barzani, den historischen Augenblick gekommen. Kurdische Peschmerga-Truppen sicherten nicht nur die bestehenden Grenzen der Autonomieregion, sondern marschierten auch in die umstrittenen Gebiete um Kirkuk und kurdisch dominierte Teile in der Nähe von Mossul im Nordwesten ein. Sie verhinderten damit eine weitere Ausbreitung des IS. Die Kurden werden diese Gebiete nie wieder freiwillig räumen. Sie werden, in den Worten ihres Präsidenten, „bis zur letzten Patrone“ darum kämpfen.
Allerdings hat sich seit Anfang August gezeigt, dass ihre Bewaffnung nicht ausreicht, um sich gegen die mit modernsten Waffen ausgerüsteten IS-Truppen zu behaupten. Die Flüchtlingslager in Kurdistan sind heute bereits voll mit Kurden, die dem syrischen Bürgerkrieg entkommen konnten; nun streben Hunderttausende, darunter kurdische Jesiden und Christen unter den Schutz der kurdischen Autonomieregierung. Erbil fühlt sich angesichts dieser enormen Herausforderung bisher allein gelassen.
Energiegroßmacht Kurdistan
Neben der Abwendung einer weiteren humanitären Katastrophe gibt es auch einen realpolitischen Grund zum Eingreifen: Die kurdische Region im Nordirak ist für sich alleine eine Energiegroßmacht. Schon ohne die Kirkuk-Region war Irak-Kurdistan mit seinen geschätzten 45 Milliarden Barrel Ölreserven zu einem beachtlichen Player auf der Bühne der globalen Energiepolitik geworden. Gegen den Willen Bagdads, aber in enger Zusammenarbeit mit Ankara hatten die Kurden eine eigene Pipeline in die Türkei gebaut.
Erstmals gelangte im Mai dieses Jahres kurdisches Öl über den türkischen Hafen Ceyhan per Tanker nach Europa und in die USA. Nunmehr, mit dem „supergiant field“ von Kirkuk, das allein über geschätzte Reserven von neun Milliarden Fässern verfügt, sowie dem Bai Hassan- und Khabbaz-Feld (rund fünf Milliarden), verfügt Kurdistan über die neuntgrößten Öl-Vorkommen der Welt. Seine Erdgas-Vorkommen – nicht weniger als 5,7 Billionen Kubikmeter (ohne die Kirkuk-Region) – sind sogar die achtgrößten der Welt.
Die meiste Unterstützung erhalten die Kurden des Nordirak aus der Türkei. Das Verhältnis Ankaras zu Erbil ist pragmatisch. Es ist geprägt von jährlichem bilateralen Handel im Wert von etwa zwölf Milliarden Dollar, massiven türkischen Investitionen in Kurdistan, guten politischen Kontakten, und vor allem einer Interessenidentität in Bezug auf kurdische Energielieferungen in und durch die Türkei. All das hat dazu geführt, dass Ministerpräsident Erdogan Ende 2013 zum ersten Mal das Wort „Kurdistan“ verwendete.
Vieles spricht dafür, dass Ankara für ein unabhängiges Kurdistan so etwas wie ein „guter Hegemon“ sein könnte: Erdogan braucht das Land als Puffer zu den Bürgerkriegsgebieten in Syrien und im Irak. Er benötigt dringend die vor der Haustür liegenden Energiereserven Kurdistans. Und er hat mit seiner Versöhnungspolitik mit den Kurden im eigenen Land eine Entwicklung in Gang gebracht, die ihn überdauern könnte.
Die Zentralregierung in Bagdad hat in dieser Woche das erste Mal auf Seiten der Kurden in das Geschehen eingegriffen, nämlich mit der Zusage von Schlägen der irakischen Luftwaffe gegen IS-Truppen im Nordirak. Vielleicht erwächst aus der Bedrohung durch den IS doch noch – quasi in letzter Minute – eine Allianz zwischen Erbil und Bagdad. Wahrscheinlicher aber ist es, dass die Hilfe aus Bagdad zu spät kommt und zu schwach ist, um die Kurden im irakischen Staatsverband zu halten. Unabhängig von dieser Frage ist die Unterstützung des Westens für die kurdische Region eine humanitäre und geopolitische Aufgabe ersten Ranges.
Prof. Dr. Friedbert Pflüger leitet seit 2009 das European Centre for Energy and Resource Security (EUCERS) am King’s College London und ist Geschäftsführender Gesellschafter der Kurdish-German Business Alliances GmbH in Berlin/Erbil.