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17. Okt. 2023

Ein europäischer Frühling an der Weichsel

Nach dem Wahlerfolg der Opposition in Polen atmet Europa auf. Der Weg für einen Neuanfang in den Beziehungen zu Deutschland und den europäischen Institutionen ist geebnet – doch es warten viele Herausforderungen.

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Bild: Donald Tusk bei einer Wahlkampfveranstaltung am 13. Oktober
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Die Opposition hat die polnischen Parlamentswahlen unerwartet deutlich gewonnen. Zusammen haben die liberal-konservative Bürgerkoalition unter Donald Tusk, das konservative Bündnis Dritter Weg und die Linke die absolute Mehrheit der Sitze im Sejm davongetragen. Die Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) unter Jaroslaw Kaczynski wurde zwar zur stärksten Partei, hat aber die absolute Mehrheit der Sitze klar verfehlt. Die Wahlbeteiligung war die höchste jemals im demokratischen Nachkriegspolen gemessene. In der Zweiten Kammer, dem Senat, hat die Opposition fast eine Zweidrittelmehrheit der Sitze erreicht. Das Referendum mit vier Suggestivfragen – unter anderem zur EU-Asylpolitik –, das zur Mobilisierung des PiS-Elektorats gedacht war, ist an der notwendigen Mindestbeteiligung gescheitert.

An das Wahlergebnis könnte sich jetzt ein relativ langwieriger Prozess zur Regierungsbildung anschließen. Der dem bisherigen Regierungslager entstammende Staatspräsident Andrzej Duda hätte die Möglichkeit, den Übergangsprozess zu verzögern. Eine gerichtliche Anfechtung der Wahlen bliebe theoretisch möglich, ist aber angesichts der klaren Mehrheitsverhältnisse eher unwahrscheinlich.



Richtungsweisende Wahlen

Die Parlamentswahlen waren die bedeutsamsten in Polen seit 1989/90 und die wichtigsten in Europa in diesem Jahr. Sie fanden vor dem Hintergrund eines hohen Grades an gesellschaftlicher Polarisierung statt, der sich seit dem ersten Wahlsieg der national-konservativen PiS im Jahr 2015 verschärft hatte. Die Wahlkampagne kann nach europäischen Standards nicht als fair bezeichnet werden, weil die elektronischen Staatsmedien und auch finanzielle Mittel seitens der Regierung die PiS und ihre Bundesgenossen massiv bevorzugten.

Mit ihrer Stimme haben die Wählerinnen und Wähler ein weiteres Abgleiten in die illiberale Demokratie verhindert. Polens Außenpolitik dürfte wieder berechenbarer werden und nicht nur tagesaktueller Spielball der Innenpolitik sein. Das Verhältnis zu Deutschland dürfte sich deutlich entkrampfen. Wir sollten indes jetzt nicht drängeln, sondern warten, bis sich Polen sortiert und die neue Regierung den weiteren Kurs festgelegt hat.



Es warten viele Herausforderungen

Vor den Wahlsiegern steht jetzt die große Aufgabe, die extreme Polarisierung der polnischen Innenpolitik zu überwinden und die Menschen wieder zusammenzuführen – die PiS repräsentiert immerhin noch immer etwas mehr als ein Drittel der Wahlbevölkerung.

Auch müssen sich die Wahlsieger zwei Herausforderungen stellen. So kann Staatspräsident Duda theoretisch jedes Gesetz mit seinem Veto belegen oder Gesetzentwürfe an das Verfassungstribunal weiterleiten. Da das Verfassungstribunal hauptsächlich mit PiS-Parteigängern besetzt ist, können Gesetze verworfen beziehungsweise auf die lange Bank geschoben werden. Die zu erwartende neue Regierung aus den bisherigen Oppositionskräften verfügt zwar über eine komfortable absolute Mehrheit der Sitze im Sejm (248), nicht jedoch über eine Drei-Fünftel-Mehrheit (276 Sitze), mit der ein präsidentielles Veto überstimmt werden könnte.

Hinzu kommt, dass ein präsumtiver Regierungschef Donald Tusk die unterschiedlichen Strömungen seiner Koalition unter einen Hut bringen muss. Da es sich hierbei um konservative bis hin zu linken Kräften handelt, wird die Bildung einer stabilen Regierung nicht ganz einfach werden. Bisher waren die Oppositionsparteien vor allem durch den gemeinsamen Willen geprägt, die PiS von der Macht zu verdrängen. Das Wahlergebnis muss jetzt in ein gemeinsames Regierungsprogramm gegossen werden.

Übereinstimmung besteht darin, dass die Transformation des Justizwesens aufgrund starker rechtsstaatlicher Bedenken zurückgedreht werden muss. Unterschiedliche Meinungen gibt es hingegen zu der Frage, wie schnell und mit welchen Methoden die Rückabwicklung erfolgen soll. Die Reform hatte bekanntlich zu großem Streit mit Brüssel über die systematische Verletzung grundlegender rechtsstaatlicher Normen und zu einer Blockierung von Geldern aus den Brüsseler Töpfen geführt.

 

Eine Chance für Deutschland und Europa

Polen ist zurück in Europa. Die polnischen Wählerinnen und Wähler haben ganz Europa demonstriert, wie man sich von einer national-konservativen, in Teilen rechtspopulistischen Regierung befreien kann. Sie knüpfen damit an die große polnische Freiheitstradition an, mit der das Land unserem Kontinent schon vor der Wende 1989/90 beim Übergang vom Kommunismus in die Demokratie den Weg gewiesen hatte.

Nach dem rauen, antideutschen und europakritischen, zuletzt auch antiukrainischen Wahlkampf der PiS ist jetzt ein günstiger Zeitpunkt für einen Neuanfang in den Beziehungen zu Deutschland und den europäischen Institutionen. Die deutsch-polnischen Beziehungen sind reif für eine echte Positivagenda auf Regierungsebene. Der sogenannte polnische Moment, über den ich in meinem Buch „Feinde, Fremde, Freunde: Polen und die Deutschen“ schreibe, könnte jetzt zur Formulierung gemeinsamer Positionen bezüglich einer europäischen Ostpolitik, zur Stärkung der Sicherheit an der NATO-Ostflanke, zur Unterstützung der Ukraine und zur Weiterentwicklung der Europäischen Union im Hinblick auf die geostrategisch notwendige Erweiterung genutzt werden. Auch eine Wiederbelebung des Weimarer Dreiecks zusammen mit Frankreich könnte sich als realistisch erweisen.

Bei aller Freude über die zu erwartende deutliche Verbesserung der Atmosphäre in den bilateralen Beziehungen sollten wir nicht darüber hinwegsehen, dass die deutsch-polnische beziehungsweise die polnisch-europäische Kooperation nicht einfach an die Zeit vor 2015 anknüpfen kann. Dafür ist in den vergangenen acht Jahren seit Amtsübernahme der PiS zu viel passiert. Niemand sollte auch die fortbestehenden Meinungsunterschiede in verschiedenen Politikbereichen unterschätzen. Das betrifft etwa Fragen der Migrationspolitik oder der institutionellen Reformen im Zusammenhang mit der EU-Erweiterung.

Eine Hypothek im bilateralen Verhältnis stellt weiterhin der entstandene massive Vertrauensverlust in die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik infolge des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine dar. Deutschland hat zwar in einigen, aber nicht in allen Punkten mit den Fehlern der Vergangenheit gebrochen. Jetzt gilt es, sich durch konsequente Umsetzung der Zeitenwende klar zu positionieren, gerade auch im Hinblick auf die notwendige nachhaltige Erhöhung des deutschen Verteidigungshaushalts. Eng verbunden hiermit ist die Verschiebung des militärischen Gravitationszentrums nach Osten. Diese neue Realität erfordert behutsames Management der komplizierten, asymmetrischen Beziehungen zwischen Deutschland und Polen. Während die bisherige polnische Regierung diese zu einem Machtkampf um politischen Einfluss an der östlichen Flanke hochstilisieren wollte, besteht jetzt die Chance, das Verhältnis gemeinsam neu zu bestimmen.

Auch die schwierigen geschichtspolitischen Fragen werden die Gesellschaft in Polen weiter beschäftigen. Es wäre daher wünschenswert, wenn das Projekt des deutsch-polnischen Hauses, das der Deutsche Bundestag 2020 als Ort des Erinnerns und der Begegnung mit Polen mandatiert hat, jetzt schnell umgesetzt würde. Hinsichtlich der polnischen Forderungen nach Entschädigung für in Polen begangene Verbrechen während der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg ist zwar nicht damit zu rechnen, dass die Bundesregierung ihre klare Haltung ändert, wonach Reparationen rechtlich und politisch erledigt sind. Wohl aber könnte ein Klima entstehen, in dem freiwillige humanitäre Leistungen in Betracht gezogen werden. Derartige freiwillige Leistungen hat es in der Vergangenheit immer wieder gegeben und erscheinen auch heute sinnvoll.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik, online exklusiv, 17. Oktober 2023

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Themen und Regionen

Rolf Nikel war deutscher Botschafter in Polen (2014–2020) und ist seither Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP).