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01. Mai 2019

Gegen Schwurbel-Politik

Von Thomas Kleine-Brockhoff

Deutschland soll sich vom Weichspüler-Begriff der deutschen Verantwortung verabschieden, so Thorsten Benner. Dabei geht es um etwas ganz anderes

Glaubt man Thorsten Benner, dann ist die Rede von der deutschen Verantwortung zum „Universal-Schwurbelkleister der deutschen Außenpolitik avanciert“ (IP, März/April 2019). Ein nobel klingender Begriff werde benutzt, um eine „diffuse Wohligkeit inmitten weltpolitischer Turbulenzen“ zu verbreiten. Besser sei es, sich vom „Weichspüler-Begriff“ der deutschen Verantwortung „zu verabschieden“.

Benner artikuliert ein Unwohlsein, das viele Beobachter der deutschen Außenpolitik erfasst hat: Irgendetwas passt da nicht zusammen. Es liegt nahe, sich zunächst die meist benutzte Redewendung der deutschen Debatte vorzuknöpfen. Tatsächlich kann ja eine Formulierung zur Formel gerinnen, durch Übernutzung unscharf werden. Sie mutiert dann zum Plastikwort, das nach viel klingt, aber nicht (mehr) viel bedeutet.

So nachvollziehbar das Unbehagen ist, so sehr führt doch die Begriffskritik in die Irre. Benner schlägt den Sack und meint den Esel. Ein Begriff wird zum Sündenbock erkoren, wo doch die deutsche Außenpolitik höchstselbst gemeint sein sollte. Um in Benners Bild zu bleiben: Nicht Debatten-Geschwurbel wäre schädlich, sondern eine Schwurbel-Außenpolitik.

In Wahrheit passt der Begriff der deutschen Verantwortung weiterhin gut in die Zeit. Er ist eine extreme Verdichtung, die auf die normengebundenen Interessen Deutschlands zielt, eine Art „Mission Statement“ der Bundesrepublik in zwei Worten.

Als die deutsche West-Republik gegründet wurde, war das außenpolitische Kerninteresse glasklar benennbar. Bis 1990 stand es sogar in der Präambel des Grundgesetzes. Danach blieb das deutsche Volk „aufgefordert, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden“. Diesem Staatsziel diente alle Außenpolitik: Wiedererlangung der Souveränität, West­integration, Wiederbewaffnung und NATO-Beitritt, europäische Zusammen­arbeit und UN-Beitritt, Ostpolitik und atomare Nachrüstung.

Als Folge der deutschen Einheit wurde die Definition der eigenen Ziele immer komplexer. Nach der deutschen die europäische Vereinigung anzustreben, war noch irgendwie konsensfähig. „Europe whole and free“ – das war die Parole, die US-Präsident George H.W. Bush 1989 ausgab. Deutschland konnte sich dieser internationalistischen Vision ein paar Jahre lang anschließen, weil sich das eigene Interesse darin abbildete, kein Randstaat des liberalen und integrierten Teils Europas zu bleiben. Das alles geschah ja auch im Konsens mit den traditionellen Verbündeten wie den neuen Freunden im Osten. Kontrovers wurde die Zielbestimmung deutscher Außenpolitik erst wieder, als Verteidigungsminister Peter Struck 2002 postulierte: „Die Sicherheit der Bundesrepublik wird auch am Hindukusch verteidigt.“ Denn Strucks Diktum schien den Weg zu ebnen zu einer Außenpolitik global-polizeilicher Interventionen bei unklarem strategischem Ziel. Manche belächelten, andere bekämpften diese Zielvorstellung. Zum nationalen Konsens wurde sie jedenfalls nie.

So fehlte der Bundesrepublik weit mehr als ein Jahrzehnt lang eine Bestimmung des eigenen Kompasses, eine griffige Formulierung für das außenpolitische Kerninteresse des Landes. Die lieferte erst Bundespräsident Joachim Gauck in seiner Rede bei der Münchner Sicherheitskonferenz 2014, als er die Bundesrepublik als Nutznießer der liberalen internationalen Ordnung identifizierte. Als überdurchschnittlich globalisiertes Land, sagte Gauck, profitiere Deutschland auch überdurchschnittlich von jener offenen Weltordnung, die es dem Land erlaube, seine Interessen mit grundlegenden Werten zu verbinden. Daraus leitete der Bundespräsident das neue „Mission State­ment“ der Republik ab: „dieses Ordnungsgefüge, dieses System zu erhalten und zukunftsfähig zu machen“. Und er fragte: „Ergreift die Bundesrepublik genügend Initiative, um jenes Geflecht aus Normen, Freunden und Allianzen zukunftsfähig zu machen, das uns doch Frieden in Freiheit und Wohlstand in Demokratie gebracht hat?“ Weil Deutschlands Außen- und Verteidigungsminister sich an gleicher Stelle ähnlich äußerten, wurde daraus der „Münchner Konsens“, der schließlich die großen politischen Parteien einschloss.

Deutsche Interessen

Deutschland war damit als Status-quo-Macht positioniert, dessen Trachten es wurde, systempflegend und systemgarantierend aufzutreten. Mit welchen Mitteln das geschehen sollte, nämlich mit einem vernetzten Einsatz von Diplomatie, Entwicklungshilfe, kultureller Anziehungskraft, ökonomischer und notfalls auch militärischer Macht, das alles legten wenig später das „Review“-Dokument des Auswärtigen Amtes (2014) und danach das sicherheitspolitische Weißbuch (2016) dar. Der Begriff der deutschen Verantwortung ist so zum Kondensat all dieser Bemühungen geworden. Er deutet in ultimativer Verkürzung an, wie Deutschland seine Interessen definiert und seine globale Rolle sieht.

Heute, in einer Welt, in der die offene Ordnung immer mehr unter Stress gerät, wird die kraftvolle ­Verfolgung der Münchner Ziele nicht obsolet, sondern immer relevanter. Deutschland müsste jeden Tag mehr tun, um deren Erreichung näher zu kommen. Diese Notwendigkeit dürfte auf mittlere Sicht kaum schwinden: Es wird deutscher Führung und Kompromissfähigkeit bedürfen, Europa zusammenzuhalten. Und es wird deutscher Führung und sogar Kompromisswilligkeit bedürfen, um ein neues, modernes, vielleicht bescheideneres Gebäude des atlantischen Westens auf den Trümmerhalden zu errichten, die Folge der gegenwärtigen Abrisspolitik des Weißen Hauses sein werden. Wäre der Begriff der deutschen Verantwortung zu ersetzen, wie Thorsten Benner vorschlägt, so böte sich allenfalls „mehr Verantwortung“ an.

Auch wenn Benners Kritik also fälschlich auf einen treffenden Begriff zielt, so nimmt sie doch zugleich die Unzufriedenheit mit der deutschen Außenpolitik sensibel auf. Völlig zu Recht beklagt Benner die wachsende Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit der deutschen Politik, zwischen eigenen Maximen und Handeln. Er mahnt mehr Realismus dort an, wo weltanschauliche Reinheitsvorstellungen die Betrachtung prägen. Und er erkennt die Gefahr, dass manche sich hinter dem Begriff der Verantwortung verstecken wollen, um nicht über Interessen reden zu müssen. In Wahrheit lassen sich beide Begriffe nämlich nicht gegeneinander ausspielen, weil die liberale internationale Ordnung Werte und eigene Interessen in symbiotischer Verbindung sieht.

Dabei hatte alles hoffnungsfroh begonnen, damals, vor fünf Jahren. Aus dem Münchner Konsens wuchs ein Wollen im Münchner Geiste: Schon in der Schulden- und Finanzkrise hatte Deutschland bewiesen, dass es systemische Verantwortung übernehmen kann. Nun ergriff es so beherzt wie unerwartet die Führungsrolle bei der Eindämmung der russischen ­Aggression gegenüber der Ukraine. Im Syrien-Konflikt spielte es seine Rolle als Verbündeter, indem es tat, was notwendig war und den Peschmerga Waffen lieferte. In Mali half es den Franzosen. Bei den Genfer Iran- und den Pariser Klimaverhandlungen brachte es sich couragiert ein. Gegenüber den ­NATO-Verbündeten bekräftigte die Bundesrepublik 2014 und 2016 ihre Selbstverpflichtung, den Verteidigungsbeitrag bis 2024 an 2 Prozent des Bruttosozialprodukts heranzuführen. Und in der Flüchtlingskrise widerstand die Bundesrepublik der Versuchung, sich national abzuschotten. Sie begann, sich mit den Dilemmata von internationaler Führung vertraut zu machen, setzte sich der Kritik aus und zahlte lieber einen sichtbaren Preis fürs Handeln statt einen schwer taxierbaren Preis fürs Nichts­tun. Es schien, als wolle Deutschland künftig tun, was Bundespräsident Gauck dem Land aufgegeben hatte, sich nämlich „als guter Partner früher, entschiedener und substanzieller“ einzubringen.

Patt und Paralyse

Doch irgendwann, aus bislang nicht genau genug beschriebenen Gründen, stockte diese Entwicklung. Gewiss spielte zweierlei dabei eine Rolle. Erstens die Wahl von Donald Trump zum amerikanischen Präsidenten. Dessen Amoklauf gegen die liberale internationale Ordnung lässt eigenes Entgegenkommen wie Einknicken erscheinen und lähmt deshalb die deutsche Politik fortwährend. Unter diesen Bedingungen vom traditionellen Modus der „Zurückhaltung“ auf „Verantwortung“ umzuschalten, fällt erkennbar schwer. Und zweitens der deutsche Wahlkampf 2017, in dessen Verlauf der damalige Außenminister und seine Partei die Zustimmung zum 2-Prozent-Ziel zurückzogen. Seither sind wesentliche Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik parteipolitisch und in der Regierungskoalition umstritten. Die Folgen sind Patt und Paralyse.

So steigt die Zahl der Meinungsverschiedenheiten mit der Zahl der internationalen Krisen. Für den globalen Paradigmenwechsel vom amerikanischen Frieden hin zum Machtwettbewerb der ­Großmächte kann unter diesen Bedingungen keine deutsche und letztlich keine europäische Antwort gefunden werden. Das, was notwendig wäre, wird in der Praxis immer seltener getan. Die Lücke zwischen hochgesteckten Ansprüchen und eigenem Handeln weitet sich langsam zur Schlucht.

Da singt die Bundesregierung seit Monaten das Hohelied des Multilateralismus, und deren Chefin lässt sich dafür bei der Münchner Sicherheitskonferenz mit Standing Ovations feiern; von den Widersprüchen ihrer Politik will diese Regierung aber nichts wissen. Da betreibt und genehmigt sie eine deutsch-­russische Gas­pipeline wider den Geist der EU-Energiepolitik und wider die außenpolitischen Interessen praktisch aller mittel- und osteuropäischen EU-Partner, und sie will kaum wahrnehmen, dass diese Politik außerhalb Deutschlands nicht als Multilateralismus, sondern als brutalstmöglicher Unilateralismus empfunden wird. Da unterläuft sie eine selbst akkordierte multilaterale Vereinbarung innerhalb der NATO mit Hilfe eines mathematischen Taschenspielertricks (2 Prozent ist gleich 1,5 Prozent) und wundert sich dann treuen Herzens, wenn andere finden, nicht nur Trump gefährde die NATO durch seine Unzuverlässigkeit, sondern auch Deutschland. Da ruft die Bundesregierung eine „Allianz der Multilateralisten“ aus und findet nichts dabei, den Gründungspartner dieser Allianz, Kanada, ziemlich allein zu lassen, wenn das Land mit den Autokratien China und Saudi-Arabien in einen Streit um grundlegende Menschenrechte gerät.

Gewiss ist Deutschland nicht das einzige Land, dessen Selbstwahrnehmung sich nicht mit der Fremdwahrnehmung deckt. Aber, wie Constanze Stelzenmüller treffend formuliert, „verleugnet kein anderes Land so nachhaltig die Spannung zwischen edlen normativen Überzeugungen und der eigenen, sehr selektiven Befolgung derselben“ (Brookings-Report, Februar 2019).

Ein guter Start wäre es, das Problem der deutschen Doppelzüngigkeit bei artigem Augenaufschlag endlich zu erkennen und zu benennen. Schon daran hapert es im deutschen Diskurs. Und dann wäre natürlich Abhilfe schön. Am besten, indem der Graben zwischen hochfliegenden Ansprüchen und bescheidener Umsetzungstreue von beiden Seiten her verkleinert würde: weniger sonntagspredigthaft daherreden, nüchterner auf die Realität blicken und entschiedener umsetzen, was daraus folgt.

Um Missverständnissen vorzubeugen: Dies ist kein Mini-Plädoyer für einen werteskeptischen Realismus, sondern dafür, den eigenen interessengeleiteten Idealismus ernst zu nehmen und an die Weltlage ­anzupassen. Notwendig wäre in diesen stürmischen Zeiten ein robuster außenpolitischer Liberalismus, der die offene Ordnung der Welt verteidigt und erneuert; der mit größerer Entschiedenheit die Instrumente der diplomatischen Selbstverteidigung gegenüber jenen einsetzt, die Regeln und Normen mit Füßen treten und eine internationale Ordnung im Geiste des Antiliberalismus anstreben.

Wer sich dabei nicht überheben will, muss seine Ziele maßvoll definieren. Er muss den eigenen demokratischen Bekehrungseifer zähmen und sich von der missionarischen Idee der demokratischen Weltexpansion verabschieden. Die eigene Demokratie kann anderen als Vorbild dienen, aber Demokratie darf weder Vorbedingung noch notwendiger Zielpunkt sein für Zusammenarbeit. Ein robuster Liberalismus würde entsprechend weniger versprechen und mehr halten. Er zöge aus der Selbstbegrenzung sein Selbstbewusstsein und seine Überzeugungskraft und aus der realistischen Wirklichkeitsbetrachtung seine Fähigkeit, in turbulenten Zeiten politiktauglich zu sein. Bescheidenheit wäre mit Prinzipientreue zu kombinieren.

Kurz gesagt: Deutschland braucht eine Politik, die der treffenden Formulierung von der deutschen Verantwortung besser gerecht wird. Notwendig ist also eine Politikveränderung, keine Begriffs-Beerdigung.

Thomas Kleine-Brockhoff ist Vize­präsident des German Marshall Fund of the United States. Er leitet dessen Berliner Büro.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, Mai/Juni 2019, S. 65-69

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