Gegen den Strich

02. Jan. 2023

Gegen den Strich: Politische Kommunikation

Dass man verstanden werden möchte, ohne für die eigene Position zu werben, ist ein Wunsch, der gerade in Deutschland tief verankert ist. Doch was nützt die beste Politik, wenn sie unverständlich bleibt? Ist nicht alle Politik (auch) Kommunikation? Und ist nicht selbst die Kommunikationsverweigerung eine Form der Mitteilung? Anmerkungen zu einer Debatte, die hierzulande nur langsam in Schwung kommt.

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Bild: Ein Journalist filmt Trümmerteile des in der Ukraine abgeschossenen Flugzeugs MH17
Mit immer neuen Versionen des Tathergangs die Urteilskraft des Publikums überwältigen: nach dem Abschuss des Passagierflugzeugs MH17 über der Ukraine im Jahr 2014.
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„In der Politik kommt es auf Substanz an, nicht auf Performance“

Eine Binsenweisheit, die in die Irre führt. Dieser Spruch ist bezeichnenderweise sehr beliebt bei Politikern mit Kommunikationsproblemen. Bundeskanzler Olaf Scholz hat aus seinem spröden, wortkargen Stil eine Marke gemacht. „Er setzt auf Substanz, nicht auf Show“, so charakterisiert KanzleramtsministerWolfgang Schmidt seinen langjährigen Chef.

Natürlich weiß der erfahrene Schmidt, dass die strikte Gegenübersetzung von Show und Substanz, Oberfläche und Tiefe, einen Scheinwiderspruch konstruiert. Was nützt die kostbarste Substanz, wenn sie nicht erkennbar wird? Was nützt die beste Politik, wenn sie unverständlich bleibt?

Eine gute Show wurde übrigens noch von keinem deutschen Bundeskanzler erwartet, erst recht nicht von Olaf Scholz. Sonst müsste man die größten Kanzler als Ergebnis einer Art Negativ­auslese betrachten: Adenauer, Brandt, Schmidt, Kohl, Merkel – alles keine PR-Talente. Showmanship braucht in der Bundesrepublik niemand, der sich fürs Kanzleramt bewirbt. Gut so.

Es geht um etwas anderes: um politische Kommunikation, um die schlichte Tatsache, dass alle Politik (auch) Kommunikation ist. Um die Fähigkeit, sich verständlich zu machen und die Bereitschaft, sich festzulegen.

Da gibt es kein Entrinnen: Selbst Kommunikationsverweigerung ist eine Form der Mitteilung. Sie wird vom Gegenüber oft als ein Zeichen der Missachtung oder Abwertung verstanden. Und das kann zum Problem werden, zumal in der Außenpolitik. Hier bedarf es einer besonderen Anstrengung zur Übersetzung (im wörtlichen Sinne), damit die eigenen Absichten, Interessen und roten Linien für das Gegenüber verständlich werden.

Der jetzige Bundeskanzler aber setzt darauf, dass die Substanz seiner Politik unangreifbar sei und sich darum ganz von allein durchsetzen werde. Eines Tages werden sie schon merken, dass Berlin stets eine vernünftige, konsensfähige Politik macht, die zum allgemeinen Nutzen ist!

Der berühmte „Doppel- Wumms“ aus dem vergangenen Herbst – die 200 Milliarden schwere Maßnahme zur Strom- und Gaspreisbremse – war ein sprechendes Beispiel dafür, dass das keineswegs so sein muss. Die europäischen Partner wurden nicht vorab informiert; was als Schutzschirm für die deutsche Industrie und die hiesigen Verbraucher gedacht war, deuteten Frankreich, Polen und Italien in seltener Einigkeit als aggressiven Akt der Wettbewerbsverzerrung; Paris setzte die Regierungskonsultationen aus; Macron torpedierte gar in einem Akt der Revanche ein Pipelineprojekt, das Scholz mit Madrid ausgehandelt hatte.

Der Bundeskanzler zog sich schmallippig darauf zurück, Deutschland bewege sich „im Rahmen dessen, was auch andere in Europa machen“ – nur dass die Pakete wegen der Wirtschaftskraft Deutschlands halt entsprechend größer hätten ausfallen müssen.

Die deutsche Wirtschaftsmacht war aber nun genau der Punkt: Die Nachbarn konnten sich Entlastungen in vergleichbarer Höhe schlicht nicht leisten. So wurde das deutsche Entlastungspaket zur Belastung für den Zusammenhalt in Europa. Und das ganz ohne Not: Man hätte Franzosen, Spanier und Italiener prinzipiell sicher für schuldenfinanzierte Rettungsmaßnahmen gewinnen können – wenn man es denn versucht hätte.

Man hätte dazu aber von vornherein mitdenken müssen, wie die Partnerregierungen die deutschen Maßnahmen in ihren Öffentlichkeiten darstellen und rechtfertigen können. Man hätte ihnen Argumente an die Hand geben müssen, „wir machen nichts anderes als ihr“; „soundso viel von unseren Milliarden kommt auch euren Ökonomien zugute“; „ein Teil des Geldes fließt in Gemeinschaftsprojekte“. Stattdessen hatte man sie düpiert.

Nicht die Substanz des Pakets war das Problem, sondern die passiv-aggressive Nichtkommunikation. Der Fall verweist auf ein Grundproblem deutscher Selbstdarstellung: Man will verstanden werden, ohne für die eigene Position zu werben. Das hat in vielen vorangegangenen Krisen funktioniert, in denen Deutschland nicht als Verursacher galt, sondern als Teil der Lösung.

In der heutigen Polykrise wird Deutschland aber als Teil des Problems, als Mitverursacher wahrgenommen, vor allem wegen seiner Energie- und Russland-Politik. Das ist schmerzhaft, und manchmal werden deutsche Fehler sicher auch übertrieben dargestellt, um Vorteile daraus zu ziehen. Aber es ist grundsätzlich richtig, und darum bräuchte Deutschland eine Reform des Auftritts – eine zugegebenermaßen schwierige Kombination aus Demut, Offenheit und Tatkraft.



„Stille Diplomatie ist besser als lautes Auftrumpfen“

Stimmt nicht (mehr so ganz). Zwar gibt es auch heute noch wichtige Gespräche, die nur ohne Öffentlichkeit effektiv sein können. Wenn der CIA-Chef William J. Burns sich mit seinem russischen Konterpart in der Türkei trifft, dann erfährt die Welt das aus gutem Grund nur ex post. Aber die Öffentlichkeit erfährt es eben doch, und das verweist auf eine historische Veränderung.

Auffällig ist, wie sehr sich das Tagwerk der Diplomatie in den öffentlichen Raum verlegt hat. Es wäre ein Fehler, diese Entwicklung auf die persönliche Eitelkeit derjenigen zurückzuführen, die in den sozialen Medien, in Zeitungsinterviews oder in den Talkshows um die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit kämpfen. Maßstab setzend war da sicherlich der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk in Berlin. Aber es geht hier um mehr: Es handelt sich um einen Strukturwandel der weltpolitischen Öffentlichkeit, der schon lange andauert und immer noch nicht abgeschlossen ist.

Diplomaten kommunizieren heute allerorten nicht mehr nur mit der Regierung, bei der sie akkreditiert sind. Als Außenministerin Annalena Baerbock Anfang September die deutschen Botschafterinnen zur jährlichen Konferenz begrüßte, drehte sich ihre Rede um die zentrale Rolle der Kommunikation; die Kommunikation nicht nur mit anderen Regierungen, sondern mit den Öffentlichkeiten überall in der Welt – auch in Deutschland.

Das Modewort „Narrativ“ kommt gleich sieben Mal im Appell der Ministerin vor. Botschafter, so Baerbock, müssten den Kampf um die Deutung der deutschen Politik offensiv auf allen Ebenen führen. Der „hybride Angriffskrieg“ werde „massiv über die Sprache und nicht nur über Militär betrieben“. Man habe in den vergangenen Monaten gesehen, dass man „bei allen Entscheidungen zu Russlands Krieg unsere Kommunikation sofort mitdenken“ müsse. Im Fall der Sanktionen habe man den Moment leider verpasst.

Der russische Spin, die westlichen Sanktionen seien schuld an der globalen Nahrungskrise, hatte sich da schon festgesetzt. Eine Korrektur dieses Narrativs sei dann kaum noch möglich, so Baerbock. Die Ministerin hatte, wie sie berichtete, bei G7-Treffen vom russischen „Kornkrieg“ gesprochen: „Wir lassen das russische Narrativ – ‚die wollen das Getreide nicht aus Russland herauslassen‘ – nicht gelten.“ Das russische Außenministerium wiederum habe „mit einem Wording, das auch hart war“, reagiert: „Und wenn dieses Wording eins-zu-eins in der deutschen Presse landet, dann ist es ein russisches Narrativ, das sich festsetzt. Diesen Kampf um Narrative, den sollten wir aus meiner Sicht nicht unterschätzen.“

Baerbock forderte die Botschafterinnen auf, etwas zu riskieren in diesem Kampf und selbst heftige öffentliche Kontroversen nicht zu fürchten: „Ein Shitstorm bedeutet nicht nur, dass manche es anders sehen. Und Kritik ist auch immer gut zur Selbstreflexion. Sondern er (der Shitstorm) bedeutet auch, dass man gehört worden ist. Darauf kommt es in diesen Tagen an!“

Das ist ein vollkommen neues Verständnis von Diplomatie in undiplomatischen Zeiten. Es steht in krassem Kontrast zu den hergebrachten Weisheiten über die diplomatische Kunst – über die Notwendigkeit von Takt und indirekter Rede, über die Kunst des Schmeichelns, Verschweigens, Dementierens und ­Gesichtswahrens.

Die Gefahren einer solchen offensiven öffentlichen Diplomatie liegen auf der Hand: Vielleicht gewinnt man den Kampf ums Narrativ, man verschließt sich aber durch Brüskierung der Entscheidungsträger Zugänge ins Innere der Macht. So ist es Andrij Melnyk am Ende ergangen. Er hatte über Monate die Debatten in der deutschen Öffentlichkeit dominiert. Mit seinen leidenschaftlichen Appellen auf Twitter und in zahlreichen Interviews trieb er die deutsche Regierung in der Frage der Waffenlieferungen vor sich her. Ganz bewusst suchte er die Polarisierung und scheute auch vor Beleidigungen nicht zurück. Melnyk hat für sein Land viel erreicht, allerdings um den Preis eines breiten Streifens verbrannter Erde rings um das Kanzleramt. Schließlich wurde er durch einen verbindlicheren, in der Sache aber genauso unerbittlichen Nachfolger ersetzt.

Doch bei aller Kritik an Melnyk – Baerbocks Rede zeigt, dass sein Beispiel für einen Paradigmenwechsel steht, hin zur Diplomatie als Kontaktsport: Die Öffentlichkeit ist kein Nebenschauplatz für ein bisschen wohlmeinende „Public diplomacy“ bei Wohltätigkeitsveranstaltungen, Empfängen und Konzerten. Die Öffentlichkeit muss für die eigene Sache gewonnen werden, auch um die Chancen der stillen Diplomatie zu verbessern.



„In der Politik sind Lügen erlaubt, manchmal sind sie unvermeidlich“

Stimmt. Dies ist allerdings kein Freibrief für haltlosen Spin. Dass Politiker (und Diplomaten) nicht im gleichen Maß zur Wahrhaftigkeit verpflichtet sein können wie Privatpersonen, ist eine alte Erkenntnis. Dies ist die gemeinsame Linie von Niccolò Machiavelli, Max Weber und Hannah Arendt: Die Staatsräson kann erfordern, die Unwahrheit zu sagen oder zumindest die Wahrheit zu verbergen. Um erheblichen Schaden abzuwenden oder legitime Interessen durchzusetzen, ist nach dieser Denktradition Unaufrichtigkeit manchmal geradezu geboten. Ein rigider, absoluter Wahrheitsbegriff, so sah es Arendt, ist für die Politik ausgesprochen gefährlich, weil er den pluralistischen Kampf der Meinungen abwürgt sowie Tyrannei und politische Gewalt begünstigt.

Gefährlich ist aber auch die Indifferenz gegenüber der Wahrheit, wie sie für das Bullshitting Donald Trumps („many people say …“) und die russische Propa­ganda kennzeichnend sind, deren Motto der britische Russland-Kenner Peter Pomerantsev so treffend zusammengefasst hat: Nichts ist wahr und alles ist möglich. Pomerantsev hat dabei natürlich die russische Strategie vor Augen, eine Täterschaft etwa der eigenen Geheimdienste durch immer neue Theorien über ein Ereignis zu verschleiern. So war es bei den Giftanschlägen auf Dissidenten, so war es auch nach dem Abschuss des Passagierflugzeugs MH17 im Jahr 2014 über der Ukraine. Russische Stellen leugneten nicht bloß die Urheberschaft dieser Taten. Trollfabriken überfluteten die sozialen Netzwerke vielmehr mit immer neuen Versionen des Hergangs, um die Urteilskraft des Publikums zu überwältigen.

Das ist längst keine russische Spezialität mehr. Der Trump-Berater Steve Bannon, ein Meister dieser Technik, hat dafür die blumige Parole „flooding the zone with shit“ geprägt: die Überwältigung der Öffentlichkeit durch Fehlinformationen, Verschwörungstheorien und immer neue Aufreger. Das Ziel ist nicht, wie in der altmodischen Propaganda, das Durchsetzen einer Lüge, sondern die Diskreditierung der Wahrheit an sich.

Die politische Kommunikation einer liberalen Demokratie muss sich scharf von solchen Praktiken abgrenzen. Demokraten dürfen die Zerstörung von Vertrauen nicht in Kauf nehmen, um kurzfristige Ziele zu erreichen.

Eben das haben deutsche Regierungen in den vergangenen Jahren aber getan. Die staatliche Kommunikation über das Pipelineprojekt Nord Stream 2 hatte Züge von Desinformation. Die zentrale Botschaft lautete bekanntlich bis in den Januar 2022 hinein, es handele sich um „ein rein privatwirtschaftliches Vorhaben“. So wurde die Pipeline immer wieder von Angela Merkels Emissären charakterisiert, um den Deal gegen die Bedenken von Polen, Balten, EU und USA durchzusetzen.

Olaf Scholz übernahm die Formel und hielt sie noch bis kurz vor Russlands Angriff auf die Ukraine durch. Dann schwenkte er von einem auf den anderen Tag um und stoppte das Projekt. Im Oktober 2022 wiederum verkündete er auf einem Maschinenbaugipfel, er sei sich „immer sicher gewesen“, dass Wladimir Putin Energielieferungen als Waffe einsetzen würde. Warum aber hatte Scholz jahrelang das Gegenteil behauptet?

Der Schaden durch dieses irrlichternde deutsche Messaging ist enorm. Der Vertrauensverlust in Ost- und Nordeuropa ist weitreichend und wird noch jahrelang Folgen haben. Wann immer sich Berlin heute als Champion europäischer Interessen darstellt, reagieren die durch die Nord Stream­-Entscheidung übergangenen Partner mit Augenrollen.

Ein ehemaliger ranghoher Diplomat, der die Regierungslinie seinerzeit vertreten musste, erinnert sich: „Ich habe den Spin über das ‚rein wirtschaftliche‘ Pipeline-Projekt treu vertreten. Aber meine Gesprächspartner wussten, dass ich wusste, dass sie wussten, dass das Unfug war. So darf Deutschland mit Freunden und Partnern nicht über nationale Prestigeprojekte kommunizieren.“

Die Gesprächssituation, die der Diplomat beschreibt, legt der Gegenseite zwei verschiedene Schlüsse nahe, die beide für das bilaterale Verhältnis verheerend sind: Entweder wusste die deutsche Regierung tatsächlich nicht, was sie tat, als sie sich mit einer zweiten Pipeline an Russland band und dabei die Ukraine umging. Oder sie verstand die Implikationen sehr wohl – und hat ihren Partnern ins Gesicht gelogen. Schwer zu entscheiden, was schlimmer wäre.

Es geht hier nicht um Moral: Trickserei bei der Durchsetzung der eigenen Belange ist manchmal geboten. Doch Deutschland hat durch die fatale Kommunikation über die Pipeline die eigenen Interessen eben nicht befördert, sondern ihnen massiv geschadet.

Im Mai 2022 wurden für die ZEIT drei erfahrene Botschafter über den diplomatischen Umgang mit Wahrheit und Lüge in Krisen- und Kriegszeiten befragt: Was tun, wenn man merkt: Mein Gegenüber lügt mich an? Volker Stanzel, der Deutschland unter anderem in Japan und China repräsentiert hat, fasste seine Erfahrungen so zusammen: „Wenn Sie merken, dass Ihr Gesprächspartner nicht die Wahrheit sagt, und – noch schlimmer – wenn Sie merken, dass er weiß, dass Sie wissen, dass er nicht die Wahrheit sagt, müssen Sie den Kontakt abbrechen oder das Thema wechseln. Sonst fehlt die Geschäftsgrundlage.“

In diesem Sinn hat die politische Kommunikation der Bundesrepublik vielerorts die Aufgabe, die Geschäftsgrundlage zu erneuern.



„Wer Fehler eingesteht, schwächt die eigene Position“

Falsch. Und gefährlich für die Demokratie. Angela Merkel scheint davon überzeugt zu sein, dass sie im Rückblick nichts falsch gemacht habe. Oder jedenfalls scheint sie zu glauben, dass es ein Fehler wäre, Fehler einzugestehen. So lassen sich ihre Einlassungen im ersten Jahr als Ex-Kanzlerin deuten. Trotzig behauptet sie, „aus der damaligen Perspektive“ sei es „sehr rational und nachvollziehbar“ gewesen, „leitungsgebundenes Gas auch aus Russland zu beziehen“. Das Minsker Abkommen, in dem die Ukrainer die Voraussetzung für Putins Aggressionskrieg sehen, rechtfertigt Merkel damit, es habe der Ukraine erst die Zeit erkauft, sich so weit zu ertüchtigen, dass sie nun dem russischen Angriff standhalten könne. Dem Vorwurf der Untätigkeit – Waffenlieferungen hatte sie stets abgelehnt – begegnet Merkel, indem sie einen Anteil an der Wehrhaftigkeit des Landes für ihre Minsker Diplo­matie reklamiert.

Dieser Art Schadensabwicklung kann man eine gewisse Chuzpe nicht absprechen. Merkels ehemaliger Außenminister Steinmeier verfolgt derweil eine andere Strategie, was zu Unstimmigkeiten führt. Aus gut informierten Kreisen wird berichtet, Merkel habe Steinmeier im persönlichen Gespräch hart für dessen Einlenken kritisiert. Sie nehme Steinmeier seine reuigen Äußerungen übel und habe ihn ermahnt, dergleichen künftig bleiben zu lassen.

Das ist kurios angesichts der Tatsache, dass Steinmeiers Zugeständnisse an die Kritiker äußerst selektiv sind. So hat der Bundespräsident zwar in einem Interview kurz nach Kriegsbeginn das Festhalten an der Pipeline als „ganz klaren“ Fehler bezeichnet. Aber entscheidend ist der Kontext, in den Steinmeier diesen Fehler rückt. Er habe leider noch auf einen „Rest Rationalität“ bei Putin gehofft. Nun stehe er erschüttert vor dessen „imperialem Wahn“. Und dann folgt auch schon, mittels zweier geschickter rhetorischer Fragen, die Selbstexkulpation. Er, Steinmeier, habe „ein politisches Leben lang dafür gearbeitet (…), dass der Krieg nie mehr nach Europa zurückkehrt. Das ist nicht gelungen. Waren deshalb die Ziele falsch? War es falsch, dafür zu arbeiten?“

Das ist schon verteufelt geschickt: Steinmeier bekennt sich zu einer Fehleinschätzung Putins – die freilich nicht ihm allein unterlaufen („auch ich“) und zudem noch aus bestem Willen geschehen sei und letztlich auch verblasse vor der Menschheitsaufgabe, weiter für den Frieden zu arbeiten. Wir sollten Putins Schuld im Übrigen nicht verkleinern, so Steinmeier, indem wir uns allzu sehr mit Staub bewerfen.

Steinmeier leugnet nicht rundheraus, er macht taktische Zugeständnisse, verringert die Angriffsfläche, lenkt vom Scheitern seiner Russland-Politik ab. In allen Reden seit Kriegsbeginn erzählt er die gleiche Geschichte von den guten deutschen Absichten, von einer hoffnungsvollen Ära der Kooperation, die jäh durch Putins Angriff beendet wurde. Als Steinmeier neun Monate nach Kriegsbeginn in New York den Kissinger-Preis für sein Lebenswerk entgegennahm, waren kaum kritische Stimmen zu vernehmen.

Dass der Mega-Crash der deutschen Außenpolitik maßgeblich von Steinmeier aus dem Kanzleramt und dem Auswärtigen Amt mitverursacht wurde, verschwindet im Narrativ des Bundespräsidenten hinter Putins unerklärlichem imperialen Wahn-Anfall. Steinmeier spricht von verlorenen Illusionen und enttäuschten Hoffnungen, unterschlägt dabei aber die lange Vorgeschichte von Putins Wende gegen den Westen und den vielen in den Wind geschlagenen Warnungen und das störrische Nichtwahrhabenwollen, das seine Russland-Politik prägte. Der Bundespräsident hat es geschafft, aus dem Debakel seiner Politik die Geschichte einer Läuterung zu machen.

Kein Wunder, dass Angela Merkel Steinmeiers wendige Fehlerkommunikation missfällt. Steinmeier ist der Erfinder der Formel „Wandel durch Verflechtung“; er hatte die wechselseitige Steigerung der Abhängigkeit zwischen Deutschland und Russland zum Kern seiner Politik gemacht. Doch nun droht Merkel das Ergebnis auf die Füße zu fallen. Steinmeier hält pausenlos Reden, in denen er sein Läuterungsnarrativ platziert, und er ist geschützt durch sein Amt. Merkel aber lebt im Abseits der Macht und muss zusehen, wie die einstmalige Richtlinienkompetenz retrospektiv ihr Vermächtnis auffrisst. Ihr Trotz, sie könne beim besten Willen keine Fehler erkennen und sie habe nichts zu bereuen – bitte gehen Sie weiter, hier gibt es nichts zu sehen –, wirkt angesichts der Lage des Landes zunehmend weltfremd.

Dies alles ist Teil eines größeren Problems. Hielte man sich nur an die Äußerungen dieser beiden wichtigsten deutschen Außenpolitiker der vergangenen Jahrzehnte, man käme kaum darauf, dass sie maßgeblich daran beteiligt waren, das Land in die größte Krise seit Jahrzehnten zu führen.

Es geht nicht darum, zwei Politikern die ganze Schuld daran zu geben, dass Deutschland außenpolitisch an einem Nullpunkt angekommen ist. Doch Merkels und Steinmeiers konkurrierende Strategien der Schadensabwicklung – das Leugnen der Altkanzlerin, die Scheinzugeständnisse des Bundespräsidenten – blockieren die Debatte über die Fehlsteuerung der deutschen Außenpolitik.

Was kann man aus dem Scheitern der Russland-Politik lernen? Das ist vielleicht die wichtigste Frage für die deutsche Außen­politik der kommenden Jahre.

Es gibt zwar einen Untersuchungsausschuss des Bundestags zum chaotischen Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan. Für das viel wichtigere Sujet der Russland-Politik ist eine eingehende Untersuchung einstweilen nicht denkbar. Eine große Koalition der Beteiligten wird das auf absehbare Zeit verhindern.

Es geht hier nicht nur um die nationale Selbstverständigung. Immer noch wird in Berlin unterschätzt, wie genau die politische Kommunikation hierzulande von Partnern und Nachbarn beobachtet wird. Nie wieder abhängig sein wie von Russland – aber dann als erster westlicher Regierungschef mit einer Wirtschaftsdelegation nach Peking fliegen? Wie ernst sind die Bekenntnisse zu nehmen, man wolle Konsequenzen ziehen, wenn Steinmeier und Merkel sich aus der Verantwortung winden können? Die deutsche Politik ist für viele Beobachter von außen unlesbar geworden.

Nicht das Reden über Fehler schwächt die eigene Position, sondern die Rechthaberei.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar/Februar 2023, S. 108-113

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Jörg Lau ist außenpolitischer Korrespondent für die ZEIT in Berlin.

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