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01. Juni 2006

Mehr Bismarck, weniger Habermas

Ein neuer Realismus in der deutschen Außenpolitik?

In der Anfangsphase der Großen Koalition dominierte ein außenpolitisches Primat. Das überrascht, denn die letzten Monate der Regierung Rot-Grün und vor allem der Wahlkampf standen im Zeichen der Innenpolitik. Angesichts vieler großer Herausforderungen muss sich die deutsche Außenpolitik neu orientieren. Welche Prioritäten setzt die Regierung Merkel-Müntefering? Erste Konturen zeichnen sich ab. Eine Analyse.

Bundeskanzlerin Angela Merkel hat  nach ihrem Amtsantritt schnell die außenpolitische Initiative ergriffen und durch gelungene Antrittsbesuche in Europa und der Welt überzeugt.1 Auch Außenminister Frank-Walter Steinmeier fand in den Anfangsmonaten viel Zustimmung durch umsichtige Professionalität. Verteidigungsminister Franz Josef Jung hat sich mittlerweile eingearbeitet.

Die Große Koalition muss auf neue Herausforderungen reagieren: Der Atomstreit mit dem Iran, die deutsche Beteiligung an der Kongo-Mission, Unruhen in Afrika und im Nahen Osten sowie eine neu empfundene energiepolitische Abhängigkeit Deutschlands erfordern Wandel und Neuorientierungen. Steht die deutsche Außenpolitik vor einem neuen Paradigmenwechsel wie seit dem 11. September 2001 und wie im Zuge der Zeitenwende 1990? Drei Schlüsselfragen müssen beantwortet werden: Was ist außenpolitisch möglich? Was findet innenpolitische Zustimmung? Und wie ist es um die außenpolitische Gemeinsamkeit in der Koalition bestellt? Zuerst geht es um die Einschätzung der Weltlage und um die Konsequenzen, die die Große Koalition aus ihr zieht. Zur erklärenden Darstellung bietet sich eine Dreiteilung der Welt in eine postmoderne, klassisch-moderne und rückständige, das heißt vormoderne Zone an.2

Die postmoderne Welt, zu der die EU-Mitgliedsstaaten gehören, ist durch offene Grenzen, hohe Integrationsdichte, Wohlstand und Frieden charakterisiert. Hier sieht Deutschland nach wie vor den Schwerpunkt seiner Außenpolitik. In der zweiten Zone, der klassischen Moderne, dominiert Machtpolitik nach Maßgabe nationaler Interessen, des Gleichgewichts und des Rechts auf Kriegsführung. In dieser Zone, die den überwältigenden Teil der Weltpolitik ausmacht, war die Bundesrepublik bisher zu wenig in Erscheinung getreten.

Die dritte Weltzone, fast identisch mit der so genannten Dritten Welt, ist geprägt durch geschwächte und gescheiterte Staaten in Afrika, Lateinamerika und dem Nahen und Mittleren Osten. Hier liegen die Wurzeln und Zentren des Terrorismus und die Verbindungslinien zwischen Terrorismus, neuen Kriegen und neuen globalen Problemen wie Hunger, Seuchen, organisierter Kriminalität und Menschenhandel. Hier ist Deutschland seit dem 11. September 2001 aktiv geworden. Die These lautet, dass ein Staat wie Deutschland nur dann eine Schlüsselrolle in der Weltpolitik spielen kann, wenn er sich in allen drei Weltzonen behauptet. Hat dies die Große Koalition erkannt?

Deutschland in der postmodernen Welt

In dieser Welt sind vor allem die deutsch-amerikanischen Beziehungen von Wichtigkeit, die unter Rot-Grün in Turbulenzen geraten sind. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat schnell reagiert, vergangene Irritationen beseitigt und Vertrauen wiedergewinnen können. Dabei biedert sie sich nicht an, wie mancher befürchtete, sondern hält sachliche Distanz. Bei ihrem ersten USA-Besuch sprach sie Guantánamo offen an, und Anfang Mai 2006 warnte sie vor Aggressivität gegenüber dem Iran. Intern wird durchaus kritisiert, nach außen bleibt der enge Schulterschluss gewahrt. Da in Großbritannien, Italien und Frankreich derzeit eher labile politische Verhältnisse herrschen, ist Angela Merkel auf bestem Weg, für George W. Bush zur zentralen europäischen Verbündeten aufzusteigen.3 Doch das Grundproblem bleibt: Die USA sind nicht mehr die anerkannte Weltordnungsmacht, sondern Teil der weltpolitischen Probleme geworden. Kein Wunder, dass in Deutschland und Europa für mehr Distanz gegenüber den USA plädiert wird und der Antiamerikanismus zugenommen hat. Für grundsatztreue Atlantiker sind dies schwierige Zeiten in Politik und Wissenschaft, denn mit dieser Regierung in Washington lässt sich nur schwer vertrauensvolle, berechenbare und im Gemeinschaftsgeist geführte Politik durchsetzen.

Sorgte Washington bis 2001 als sanfter Hegemon für Deutschlands und Europas Sicherheit und Stabilität, so dominiert seit dem Amtsantritt von George W. Bush eine neoimperiale Attitüde: Unilateralismus, präventive Kriegsführung, eine Vernachlässigung der neuen globalen Fragen, religiös übersteigertes Sendungsbewusstsein und ein neuer Trend zur Selbstgerechtigkeit weisen auf fundamentale Brüche in der amerikanischen Außenpolitik hin, die in allen drei Welten fatale Konsequenzen zeitigen: Besonders für enge Partner wie Deutschland haben sich die außenpolitischen Koordinaten in der transatlantischen Welt verschoben, Europa scheint mehr auf sich selbst gestellt. Angela Merkel steht für ein atlantisch verankertes Europa, doch sucht sie vor allem wirtschaftliche Erneuerung, damit der Kontinent im Zeitalter der Globalisierung wieder wettbewerbsfähig wird, auch gegenüber den USA. Als Wertegemeinschaft bleibt Europa unauffindbar; erst wenn es seine Interessen gemeinsam bündelt und dementsprechend machtpolitisch handelt, wird es in der Welt ein ernst zu nehmender Faktor. Vor diesem Hintergrund erscheint die Wiederbelebung des Verfassungsprozesses eher als zweitrangig. Frau Merkel weiß, dass die Schlüsselfragen der Integration erst nach den Regierungswechseln in Paris und London angepackt werden können.

Bei ihrem Antrittsbesuch in Paris bekräftigte die Bundeskanzlerin die Bedeutung der deutsch-französischen Beziehungen, griff allerdings Chiracs Formel von der deutsch-französischen Achse mit Bedacht nicht auf. Doch auch mit Blick auf London hält die Bundeskanzlerin klug Abstand. Sie will sich nicht vereinnahmen lassen. Distanz heißt für sie nicht Isolation oder nationaler Alleingang, sondern ist Voraussetzung für Handeln und Verhandeln im ausgleichenden Sinne, wie sie im Disput über den EU-Haushalt erfolgreich zeigen konnte. Obwohl sie geschickt verhandelte und sogar 100 Millionen Euro an Polen abtrat, war die Wirkung auf den östlichen Nachbarn aber begrenzt – die Beziehungen bleiben abgekühlt.

Der polnische Unmut über das Projekt einer deutsch-russischen OstseePipeline und die neuen energiepolitischen Vereinbarungen zwischen Berlin und Moskau auf dem Gipfel von Tomsk im Mai 2006 bleibt beträchtlich. Der polnische Vorschlag einer „Energie-NATO“ stößt in der Großen Koalition auf Kritik. Berlin befürwortet vielmehr seit dem russisch-ukrainischen Gaskonflikt eine energiepolitische Kooperationsstrategie, die vor allem auf Wunsch Steinmeiers nach dem Vorbild der KSZE/OSZE entwickelt und damit auf deutsch-russische Zusammenarbeit ausgerichtet wird, während Polen seit der Irak-Krise zum Pfeiler amerikanischer Interessen in Europa ausgebaut wird – mit antirussischer und nun auch antideutscher Spitze. Es könnten also Interessengegensätze auftreten, die über den bilateralen Bereich hinausführen und strukturelle Grundfragen für die deutsche Außenpolitik aufwerfen.

Auch bei der Diskussion um den Beitritt der Türkei in die EU könnte mehr deutsche Zurückhaltung zu mehr Problemen mit den USA führen. Doch mit Blick auf Europa wird Bundeskanzlerin Merkel vermutlich mit geringerem Zeitdruck und mehr Distanz das Anliegen der Türkei behandeln. Wie die Große Koalition grundsätzlich den europäischen Integra-tionsprozess im Spannungsfeld von Vertiefung und Erweiterung in Zukunft handhaben wird, können erst die kommenden Monate zeigen. Mit Blick auf Russland betont Bundeskanzlerin Merkel vor allem die Kontinuität der strategischen Partnerschaft. Während Bundeskanzler Schröder mit Kritik gegenüber der Regierung Bush nicht sparte und gleichzeitig Putin zum „lupenreinen Demokraten“ adelte, geht Bundeskanzlerin Merkel die Außenpolitik gegenüber den beiden Weltmächten sehr viel nüchterner an: Vor dem Hintergrund früherer Liebedienerei signalisiert Merkel zwar ein gesteigertes energiepolitisches Interesse, doch bleibt ihre Einstellung gegenüber Präsident Putin sachorientiert.4 In der Bundesrepublik wirft man den USA oft vor, Washington ginge es im Nahen Osten nur ums Öl. Ebenso lässt sich behaupten, Deutschland gehe es in seiner Russland-Politik nur ums Gas.

Zwar erwarten die Europäer viel von der deutschen Ratspräsidentschaft 2007, doch wird Deutschland diesen Erwartungen kaum gerecht werden können. Deutschland ist nicht mehr die Lokomotive Europas. Die Kriterien des Stabilitätspakts werden seit Jahren nicht eingehalten, Deutschlands Neuverschuldung hat massiv zugenommen. Die ambitiösen wirtschaftspolitischen Ziele der Großen Koalition müssen also auch im europäischen Rahmen nüchtern gesehen werden: Wer pleite ist, kann kaum einen Führungsanspruch erheben. Daher muss die Große Koalition die wirtschaftspolitischen Herausforderungen konsequenter anpacken als die Vorgängerregierung. Doch die von Frau Merkel favorisierte Lissabon-Strategie als politisches Projekt betont Wettbewerbsfähigkeit und Wirtschaftswachstum lediglich als freiwillige Selbstverpflichtung, taugt also nur begrenzt als integrationspolitisches Leitbild oder gar als europäisches Finalitätsszenario.5 Zum Schwerpunkt der Integrationsbemühungen der Großen Koalition wird vermutlich eher die GASP/ESVP ausgebaut werden, wobei gerade das geplante Engagement im Kongo Aufschluss geben wird über Europas neuen Anspruch in der Weltpolitik.

Vor der Rückkehr in die klassische Weltpolitik?

Dieser zweiten Zone der Weltpolitik gilt die gesteigerte Aufmerksamkeit der Großen Koalition. Bundeskanzlerin Merkel wünscht ausdrücklich eine stärkere Rolle Deutschlands und Europas in der Weltpolitik, nicht nur als Zivilmacht. Das erfordert eine Neugewichtung nationaler Interessen im weltweiten Maßstab und vor allem Gespür für die wachsende Stärke und Konkurrenzwilligkeit neuer Akteure, die in dieser klassisch-modernen Welt einen möglichst vorteilhaften Platz besetzen möchten.

Nach den Versäumnissen der Vorgängerregierung, die ihre Außenpolitik auf Westeuropa, Russland und den Kampf gegen den Terror konzentriert hatte, will die Große Koalition jetzt Deutschland energiepolitisch und ökonomisch in der Welt neu positionieren. Darüber hinaus hat sich Berlin bei den neuen Krisen und Konfliktherden kräftig engagiert und tritt, etwa bei der Iran-Krise, klug vermittelnd auf. Merkel und Steinmeier lehnen eine offizielle Vermittlerrolle zwar ab, füllen sie aber in Wirklichkeit immer mehr aus. Selbst Teheran erkennt die ausgleichende Rolle Deutschlands an.

Was die Vereinten Nationen angeht, bleiben sie für Deutschlands Rolle in der Welt zentral; doch hat Bundeskanzlerin Merkel sich von den hochfliegenden UN-Reformvorstellungen von Rot-Grün verabschiedet: Die Forderung nach einem nationalen Sitz für Deutschland im Sicherheitsrat scheint vom Tisch.

Deutschlands Engagement in der prämodernen Welt

In dieser Welt der zerfallenen Staaten, des Terrors und der Globalisierungsverlierer leistet Deutschland unauffällig, aber kontinuierlich seine Beiträge. Doch alte und neue Gefahren lauern: Der Balkan ist noch lange nicht befriedet, vor allem muss der völkerrechtliche Status des Kosovos geregelt werden. Im Nahen Osten sucht Deutschland gemeinsam mit der EU und den USA einen Neuanfang zur Lösung des palästinensisch-israelischen Konflikts; seit dem Wahlsieg der Hamas im Januar hat sich die Lage dort extrem verkompliziert.6

Mit ihrem frühen Antrittsbesuch in Israel zeigt Bundeskanzlerin Merkel großes Verständnis für die derzeitige israelische Interessenlage. Sie knüpft damit an alte Kontinuitätslinien deutsch-israelischer Freundschaft und Aussöhnung an, die von Konrad Adenauer begründet worden waren.7 Doch eine ausgewogene Nahost-Politik der EU darf nicht auf die Forderung nach Israels Rückzug aus den besetzten Gebieten verzichten. Nach wie vor gelten die UN-Resolutionen 242 und die gemeinsame Erklärung der EU von Venedig vom 12./13. Juni 1980, an deren Zustandekommen Außenminister Hans-Dietrich Genscher maßgeblich  beteiligt war.

Mit Blick auf Irak bestätigt Angela Merkel die Position ihrer Vorgängerregierung: Deutschland unterstützt den Aufbau demokratischer und wirtschaftlicher Strukturen, es wird auch Soldaten und Polizisten trainieren und bei der Ausbildung von Hochschullehrern und Ingenieuren helfen; vor allem werden dem Irak Schulden in Höhe von 4,5 Milliarden Euro erlassen. Doch ein militärisches Engagement im Irak kommt für Deutschland, das ist konsequent, nicht in Frage.

In Afghanistan steht Deutschland vor schier unlösbaren Aufgaben, weil sich die Sicherheitslage verschärft hat, seitdem Kopfgelder auf deutsche Soldaten ausgesetzt werden. Der Norden Afghanistans ist die Hochburg der Gegner der Regierung Karsai; die ISAF-Truppen haben dort kaum Handlungsspielraum. Der Opiumanbau floriert, Warlords kontrollieren den Drogenhandel. Da sich das deutsche ISAF-Kontingent nicht in die Lokalpolitik einmischen darf und keinen Auftrag zur Drogenbekämpfung hat, müssen die Soldaten Kleinbauern, Dealer und örtliche Kommandanten wohl oder übel gewähren lassen.

In jüngster Zeit verschärfen sich die Auseinandersetzungen. CIA und BND warnen nach einigen Anschlägen radikal-islamischer Taliban auf Bundeswehrsoldaten vor einer „Irakisierung“. Dazu haben vermutlich auch die in Europa veröffentlichten Mohammed-Karikaturen und vor allem der Fall des zum Christentum konvertierten Abdul Rahman beigetragen. Deutschland, das gilt es zu realisieren, unterstützt in Afghanistan eben keine freiheitliche Demokratie, sondern einen tendenziell islamischen Staat ohne Religionsfreiheit.

Von gänzlich anderem Zuschnitt ist das geplante Engagement im Kongo, das in Deutschland kontrovers diskutiert wird. Aus entwicklungspolitischen Motiven befürwortet Entwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul den Einsatz, auch Außenminister Steinmeier trägt diese Entscheidung mit. Kritisch verhielt sich zunächst Verteidigungsminister Jung, der – unterstützt von einem Teil der Generalität –, zunächst keinen Hehl aus seinen Bedenken machte, jetzt aber unter dem Druck der Entwicklung den Einsatz hauptverantwortlich leitet. Die FDP lehnt den Kongo-Einsatz strikt ab, weil er wegen der unübersichtlichen Lage nicht zu verantworten sei. Auch die Linkspartei/PDS wehrt sich gegen den Einsatz, ebenso Teile der Grünen und der CDU/CSU-Fraktion.

Gegner und Befürworter argumentieren, und das ist neu, parteiübergreifend. Die Befürworter in der Union, in der SPD und bei den Grünen verweisen auf das deutsche Interesse an einer Stabilisierung des Kongos, auf seinen Reichtum an Bodenschätzen und strategischen Rohstoffen. Außerdem befürchten sie bei einem Zerfall des Kongos neue Rückzugsräume für islamistische Terroristen und Kriminelle.

Für Zustimmung wie Ablehnung gibt es gewichtige Gründe, doch ein Grundwiderspruch bleibt: Einerseits wird die Gefährlichkeit der Lage beschworen, andererseits werden die möglichen Gefahren heruntergespielt und betont, dass es lediglich um Evakuierungs- und Sanitätsmaßnahmen gehen soll. Statt kraftvoll Ja oder deutlich Nein zu sagen, schob man in Europas Hauptstädten die Hauptverantwortung wie eine heiße Kartoffel hin und her. Schließlich blieb der ungeliebte Auftrag an den Deutschen hängen.

In dem lang glimmenden und jetzt dramatisch aufflammenden Konflikt um Irans Nuklearambitionen bemühen sich Bundeskanzlerin Merkel und Außenminister Steinmeier engagiert um eine diplomatische Lösung. Leider hat sich seit dem Außenministertreffen in Berlin Ende März 2006 die Lage weiter verschärft. IAEO, UN und die Staatengemeinschaft befinden sich in einer schwierigen Lage angesichts der Eskalationsspirale zwischen den USA und dem Iran. Da Wirtschaftssanktionen zweischneidig sind und ein Militärschlag unabsehbare Folgen für die Nahost-Region und das Verhältnis der muslimischen zur westlichen Welt hätte, bleibt lediglich die  diplomatische Vorgehensweise, mit welcher der Iran zum Einlenken bewegt werden soll.

Doch erscheint auch diese im Lichte der Entwicklung der vergangenen Monate recht aussichtslos. Der Westen hat keine wirklichen Handlungsmöglichkeiten, sondern steht vor dem Dilemma, zwischen unterschiedlichen Übeln das kleinere auswählen zu müssen. Die Beweisführung für ein militärisches Nuklearprogramm des Irans ist zudem kompliziert: Der Atomwaffensperrvertrag von 1968 erlaubt jedem Staat, auch dem Iran, die Nutzung ziviler Kernenergie, solange auf den Erwerb von Atomwaffen verzichtet wird. Das Dilemma liegt in der engen technischen Parallelität der friedlichen und militärischen Anwendung der Kernenergie. Weil die Entwicklung der friedlichen Nutzung der Kernenergie zu 95 Prozent identisch ist mit der verbotenen für den Bau einer Atomwaffe, wird erst ganz am Schluss eines Atomprogramms erkennbar, ob es sich um friedliche Nutzung oder Nuklearwaffenbau handelt. Der Guru der amerikanischen Nuklearstrategie der fünfziger und sechziger Jahre, Albert Wohlstetter, verwies seinerzeit auf das Problem, wie es sich auch heute im Iran offenbart: „Spreading the bomb without quite breaking the rules“.8 Es gibt keine Beweise, dass der Iran gegen die IAEO-Regeln verstößt, aber sehr wohl Hinweise, dass der Iran vertragswidrig militärische Absichten verfolgt. Und ob der Iran als Nuklearmacht ein rational kalkulierbarer Akteur bleibt und Atomwaffen lediglich als Abschreckungswaffe versteht, ist eine offene Frage.9

Vor diesem Hintergrund sind direkte Gespräche, vor allem der USA, mit dem Iran und die Berücksichtigung der iranischen Sicherheitsinteressen zwingend. Und gerade mit Blick auf Israels Sicherheitsinteressen muss sich Deutschland seiner besonderen Verantwortung bewusst sein. Bundeskanzlerin Merkel hat daher Anfang Mai in Washington erneut genau unterschieden zwischen äußerer Solidarität mit den USA und der zwingenden Notwendigkeit, intern alles zu tun, um sowohl die USA als auch Israel von einem Militärschlag gegen Iran abzuhalten. Ihre Forderung in Washington, dass „die Entschlossenheit der internationalen Staatengemeinschaft mit Geschlossenheit gezeigt werden muss“, markiert die optimale Verhandlungslinie.10

Der neue Primat der Energiepolitik

Seit Russland droht, Europa den Gashahn abzudrehen, wird sich Deutschland seiner hochgradigen Energieabhängigkeit bewusst. Russland geriert sich energiepolitisch als sehr selbstbewusste Weltmacht. China betreibt dagegen eine eher lautlose, dafür aber effektive weltweite Energiepolitik. Auch der Iran ist nicht nur ein autoritärer Staat mit Nuklearambitionen, sondern als Energieproduzent wichtig. Aus Lateinamerika droht ebenfalls Ungemach, da die Präsidenten von Venezuela und Bolivien mit der Verstaatlichung der nationalen Öl- und Gasindustrie ernst machen und vor Konflikten auf diesem Feld nicht zurückschrecken.

Deutschland darf sich energiepolitisch nicht von autoritären Regimen abhängig machen. Doch das gesamte neue Machtspiel um Erdöl, Erdgas und Pipelines ist für Deutschland noch Neuland.11 In der teils sichtbaren, teils vermuteten Wechselwirkung zwischen Energieinteressen und Krisenentwicklungen brechen plötzlich neue Abhängigkeiten, Erpressungstaktiken und Machtrivalitäten auf, die schnelle Lernfähigkeit erfordern. Große und kleine Mächte versuchen auf rücksichtslose Weise ihren Interessen Geltung zu verschaffen. Dieser Entwicklung kann Deutschland allein mit gut gemeinter Kooperation und multilateralen Beschwichtigungsvorschlägen nur unzureichend begegnen. Auch angesichts der polternden Kriegsbereitschaft der Regierung Bush und der gemeinschaftspolitischen Verwahrlosungstendenzen in der EU wird eine Neubewertung der deutschen Interessen zwingend.

Vor diesem Hintergrund ist die Forderung von Bundeskanzlerin Merkel und Außenminister Steinmeier nach einer neuen Energiepolitik dringlich, um Deutschlands Zukunft als Industrienation zu sichern. Auf dem Energiegipfel im April 2006 im Kanzleramt wurde ein Energiemix ins Auge gefasst, der bis 2020 drei Herausforderungen bewältigen soll: Deutschland muss unabhängiger von Energieimporten werden, es muss den Kohlendioxidausstoß verringern, und die Energiepreise müssen wettbewerbsfähig bleiben.

Kluge Energiepolitik in der Welt, technologische Innovationen und eine Neubesinnung auf die Kernkraft sind deshalb gefordert. Doch in der Großen Koalition scheiden sich die Geister an der Atomenergie. Vor allem in den Unionsparteien und in der FDP wird sie wieder positiv bewertet, denn sie könnte die energiepolitischen Lücken übergangsweise überbrücken, die dann durch neue Energieträger in etwa 15 bis 20 Jahren geschlossen würden. Doch der Koalitionspartner SPD bleibt beim Nein und wird von den Grünen nachhaltig unterstützt.

Damit liegt die Große Koalition quer zum europäischen Trend, der die Atomkraft im Aufwind sieht. Berlins energiepolitische Planung wird von der Gemeinschaft abgelehnt. Folglich ist die deutsche Energiepolitik das am wenigsten EU-kompatible Politikfeld Deutschlands.12 Weniger Abhängigkeit von Russland und eine positive Bewertung der Atomenergie würden Deutschland energiepolitisch stärken, europäisch ausrichten und seine weltweit führende Rolle im Bereich der Energietechnologien sichern.

Wacklige innenpolitische Grundlagen?

Nach dem Grundsatz „Außenpolitik beginnt zu Hause“ will Bundeskanzlerin Merkel vor allem die wirtschaftspolitische Leistungsfähigkeit und das deutsche Selbstvertrauen wieder herstellen. Den ökonomischen Muskelschwund zu stoppen ist die Grundvoraussetzung für eine kraftvolle Außenpolitik.13 Die Absicht ist lobenswert, doch die bisherigen Maßnahmen und wirtschaftspolitischen Reformansätze erscheinen unzureichend. Außerdem findet Außenpolitik nicht die öffentliche Aufmerksamkeit, die ihr im Lande zukommen müsste.

Ungeachtet der tagesaktuellen außenpolitischen Erfordernisse spielt Außenpolitik generell eine nachgeordnete Rolle. Eine außenpolitische Schwerpunktsetzung fördert nicht gerade die Karriereaussichten von Politikern in Deutschland. Folglich fehlt es in Berlin auf diesem Gebiet an klugen Köpfen. Nach wie vor mangelt es hierzulande am Verständnis für außenpolitische Zusammenhänge. Auch deshalb ist Deutschland noch nicht gewappnet für das neue Zeitalter der Globalisierung, hat es seine neue Rolle in der Welt noch nicht gefunden. Die Notwendigkeit der nationalen Selbstbehauptung in der internationalen Politik ist bei Eliten und Bevölkerung  noch nicht voll erkannt worden.

Der Überblick über die wichtigsten außenpolitischen Krisenherde zeigt, dass Deutschland in den drei Sphären der Weltpolitik unterschiedlich erfolgreich ist. In der ersten Sphäre, der postmodernen Weltzone, sind die USA und Europa die wichtigsten Partner. Dominierte noch vor Monaten die antiamerikanische Friedensrhetorik der SPD, so hat sich die Bundeskanzlerin in Washington außenpolitischen Respekt verschafft und auch mit ihrem zweiten Besuch im Mai 2006 die Vertrauensgrundlage weiter vertiefen können. Doch die weltpolitische Dynamik geht nach wie vor von den USA aus, die, im Gegensatz zu Deutschland und der EU, vor allem stark in der klassisch-modernen Zone der Weltpolitik verankert sind und diese dominieren.

Mit Blick auf die Entwicklung der Beziehungen innerhalb der EU lässt sich festhalten, dass Bundeskanzlerin Merkels Geschmeidigkeit Deutschlands Ruf als zuverlässiger Partner gestärkt hat. Insgesamt ist jedoch eine gewisse Stagnation zu verzeichnen, da die Lebenslüge der gleichzeitigen Erweiterung und Vertiefung auch von der neuen Bundesregierung nicht in Frage gestellt wird. Deutschlands wirtschaftliche Schwäche lähmt zudem die politische Entwicklung der gesamten  Europäischen Union.

In der zweiten Sphäre der klassisch-modernen Außenpolitik, wo das Machtkalkül vorherrscht und nationale Rivalitäten dominieren, hat Deutschland noch viel Nachholbedarf. Nachhaltige nationale Interessenpolitik versteht sich nicht als Alternative, sondern als Ergänzung zum zivilen Gemeinschaftsgedanken. Eine stabile, friedliche Weltordnung kann nur erreicht werden, wenn im Umgang mit „klassisch-machtpolitisch“ ausgerichteten Staaten wie Russland, China und Iran auch die demokratischen Zivilmächte willens sind, alle Mittel zur Selbstbehauptung zu mobilisieren. Etwas mehr Bismarck und weniger Habermas wäre wünschenswert.

In der dritten Sphäre der prämodernen, rückständigen und zerfallenden Staaten hat Deutschland seit dem 11. September 2001 und im Zuge der Bekämpfung des Terrorismus großes Engagement bewiesen. Auf dem Balkan und in Afghanistan hat Deutschland einen wichtigen – auch militärischen – Beitrag geleistet. Allerdings zeigte die jüngste Debatte um den Kongo-Einsatz, dass es hier noch klarer definierter Interessen und Konzepte bedarf. Verteidigungsminister Jung strebt neue sicherheitspolitische Richtlinien an, die zukunftsorientierte Antworten geben sollen.14

Vorausschauende Politik ist gefragt, die auch innen- und koalitionspolitisch abgestützt ist. Ansonsten könnte die Koalition eines Tages mit dem Dilemma konfrontiert werden, die außenpolitische Spaltung zu riskieren, etwa wenn die Kernkraftbefürworter mit Nachdruck eine Wende fordern oder wenn amerikanischer Unilateralismus oder russischer Chauvinismus einen Keil zwischen Union und Sozialdemokratie treiben sollten. Auch deshalb versucht Bundeskanzlerin Merkel konsequent ihre Strategie des Ausklammerns durchzusetzen. Diese im Prinzip richtige Einstellung könnte jedoch auf Kosten von Deutschlands Zukunftssicherung gehen.

Eine breite gesellschaftliche Diskussion über Deutschlands Rolle in  der Welt ist überfällig. Deutschland muss mehr selbst gestalten und aktiver werden, neue Leitideen und Schlüsselinteressen entwickeln, die allerdings klug in Balance zum europäischen Gemeinschaftsinteresse gehalten und verfolgt werden müssen. Deutschland muss auf diesem Wege wieder zum Stabilitätsanker der postmodernen europäisch-atlantischen Welt werden, weil es nur so im eigenen Interesse in den klassisch-modernen und vormodernen Sphären nachhaltig Einfluss nehmen kann.

Prof. Dr. CHRISTIAN HACKE, geb. 1943, lehrt Politische Wissenschaft und Zeitgeschichte an der Universität Bonn. Zuletzt erschien von ihm die aktualisierte Neuausgabe seines Buches „Zur Weltmacht verdammt. Die amerikanische Außenpolitik von J.F. Kennedy bis G.W. Bush“ (2005).

  • 1 Günther Nonnenmacher: Erfolg mit kleinen Schritten, Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), 3.2.2006, S. 1.
  • 2 Vgl. hierzu Robert Cooper: Gibt es eine neue Weltordnung?, in: Dieter Senghaas (Hrsg.): Frieden machen, Frankfurt a.M 1997, S. 102; Ulrich Menzel: Comeback der drei Welten. Der amerikanische Sonderweg und die Alternativmacht Europa, Blätter für deutsche und internationale Politik, 12/2003, S. 1453–1462.
  • 3 Westliche Einheitsfront im Atomstreit mit Iran, Neue Zürcher Zeitung, 5.5.2006, S. 1.
  • 4 FAZ, 17.2.2006, S. 2.
  • 5 Hartmut Mahold: Deutsche Europapolitik nach dem Regierungswechsel 2005, Integration 1/2006, S. 20.
  • 6 Muriel Asseburg: Nach den palästinensischen Parlamentswahlen, SWP Aktuell, Februar 2006.
  • 7 Sven-Olaf Berggötz: Nahostpolitik in der Ära Adenauer. Möglichkeiten und Grenzen (1949–1963), Düsseldorf 1998; Niels Hansen: Aus dem Schatten der Katastrophe. Die deutsch-israelischen Beziehungen in der Ära Konrad Adenauer und David Ben Gurion, Düsseldorf 2002.
  • 8 Hans Rühle: Die Fünf-Prozent-Frage, FAZ, 4.3.2006, S. 8.
  • 9 „Achmadinedschad ist mit seinem unkontrollierten Temperament und seinen aggressiven Reden sicherlich gefährlich. Das hat aber mit der atomaren Frage wenig zu tun. Die Iraner haben schon seit längerer Zeit nach ziviler Nutzung des Atoms gestrebt; dazu sind sie als Partner des Nichtverbreitungsvertrages berechtigt. Für eine denkbare Entwicklung nuklearer Waffen würden sie noch mehrere Jahre benötigen. Diese Frage sollte man nicht mit der Person des iranischen Präsidenten vermischen“, Interview von Helmut Schmidt, Hamburger Abendblatt, 23.4.2006, S. 4.
  • 10 FAZ, 5.5.2006, S. 1.
  • 11 Frank Umbach: Europas nächster Kalter Krieg, Internationale Politik, Februar 2006, S. 8–14.
  • 12 Ebd., S. 13.
  • 13 Bundeskanzlerin Merkel am 3.2.2006 auf der Münchner Sicherheitskonferenz: „Wir haben uns als neue Bundesregierung vorgenommen, dass sich Deutschland in den nächsten zehn Jahren wieder einen Platz in der Spitzengruppe innerhalb der Europäischen Union erobert, was Wachstum, Beschäftigung und Innovationsfähigkeit anbelangt, als Voraussetzung dafür, dass wir aus der innenpolitischen Stärke heraus fähig sind, auch außenpolitische Verantwortung zu übernehmen.“
  • 14Franz Josef Jung: Wir müssen Verteidigung neu definieren, FAZ, 2.5.2006, S. 1.
Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, Juni 2006, S. 68‑76

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