Gedankenlose Neuordnung
Verantwortung ohne Expertise: Die internationale Gemeinschaft auf dem Balkan
Seit dem blutigen Zerfall Jugoslawiens sind auf dem Balkan Tausende von Kilometern neuer Grenzen entstanden. Sie trennen fragile Gebilde voneinander, die sich auf die konfusen Aktivitäten der internationalen Gemeinschaft in der Region ihren eigenen Reim machen. Doch ohne kritische Aufarbeitung der Vergangenheit wird der Balkan nicht prosperieren.
Lässt sich der Teufelskreis der wiederkehrenden Gewalt auf dem Balkan unterbrechen? Wenn ja, wie? Diese Fragen stellen sich von der internationalen Gemeinschaft bis hin zu extremen Nationalisten alle Akteure der Balkan-Krise. Wenn der Schriftsteller Ivo Andric Recht hat mit seiner Äußerung, dass die hiesigen Völker in der Lage sind, das Böse sowohl zu tun als auch zu ertragen und auf ihre Gelegenheit zur Vergeltung zu warten, dann muss man das Gesamtproblem tiefer und systematischer angehen. Der blutige Zerfall Jugoslawiens, des „demokratischsten Landes“ der kommunistischen Welt, hat die internationale Gemeinschaft militärisch, politisch und wirtschaftlich in den balkanischen Morast hineingezogen. Es war der Revisionismus, der auf politischer Ebene und in den Medien eine Schlüsselrolle bei der Verbreitung populistischer Ideen spielte. Wie gefährlich dieser Prozess ist, wurde im Westen nicht rechtzeitig erkannt.
„Vergesst die Geschichte, genug davon!“, riefen westliche, insbesondere amerikanische Diplomaten, ihren Gesprächspartnern zu. Dabei übersahen sie oft, dass auf dem Balkan das einzige politische (und später auch materielle) Kapital vieler politischer Führer in ihrer persönlichen Interpretation der Vergangenheit lag. Die wirtschaftliche Entwicklung, die Förderung der europäischen (und alten jugoslawischen) Werte von Offenheit und Integration blieben hinter den „nationalen Interessen“ zurück. Die Wiederholung des Mantras vom „nationalen Interesse“ führte zu einer gedankenlosen Neuordnung des Balkans, die sich bis heute fortsetzt. Während die westlichen Nachbarn über die Auseinandersetzung mit ihrer blutigen Vergangenheit zueinander fanden und sich versöhnten, entwickelte sich auf dem Balkan in den vergangenen zwei Jahrzehnten ein gegenläufiger Prozess, der in Tausenden von Kilometern sinnloser Grenzen mündete.
Der Westen ignorierte die Geschichte der Völker in dieser Gegend dauerhaft. So blieb viel Raum für historische Mythen. (Einzelne „Wissenschaftler“ und nationalbewusste Politiker behaupten sogar, Alexander der Große, Aristoteles und verschiedene Nationalhelden zählten zu ihren Vorfahren.) Eine Strategie mit dem Ziel, die Region des ehemaligen Jugoslawien zu beeinflussen, muss eine objektive, historisch-kritische Aufarbeitung der Vergangenheit dieser Gegend beinhalten.
Die Balkanisierung europäischer Werte
Das Fehlen einer solchen Strategie führte in den neu geordneten und isolierten Entitäten des Balkans zu einer ganz eigenen Einstellung gegenüber der internationalen Gemeinschaft und, was noch wichtiger ist, zu ihren Werten. Sie werden in dieser kleinen Region als Gedankengut wahrgenommen, das man dem Nationalismus, der Korruption, jahrhundertealten ethnischen Zielen und überholten Verhaltensweisen anpassen kann. Die bisweilen konfuse, uneinheitliche Haltung der internationalen Gemeinschaft trug ihren Teil dazu bei. Den größten Nutzen aus ihrem widersprüchlichen Vorgehen haben einflussreiche Kriegsprofiteure und die politischen Eliten gezogen. Europäische Werte sind nach bewährtem balkanischen Rezept Teil einer Ideologie geworden. Sie dienen kriminellen Eliten zur Verteidigung all dessen, was sie im Krieg und während der „nationalen Erweckung“ für sich und ihre Clans gewonnen haben.
Es ist ein Paradox, dass man im Kosovo der internationalen Gemeinschaft höchste Ehrerbietung und Dankbarkeit entgegenbringt, während gleichzeitig die Umsetzung europäischer Ideen und Werte und sogar die Lebensqualität auf dem niedrigsten Niveau in der Region liegen. Die Ursache für die internationale Präsenz waren die Opfer auf albanischer Seite. Sie blieben es bis zum 17. März 2004, dem Tag des Ausbruchs ethnisch motivierter Gewalt gegen die Serben und ihr kulturelles und geistliches Erbe. Während die internationalen Akteure der Gesellschaft der Opfer aufmerksam und vorsichtig begegneten, wandelte diese sich in eine Gesellschaft der Täter, und der Kreislauf der Gewalt kehrte sich um. Der internationalen Gemeinschaft fehlten – von Einzelpersonen abgesehen – die Kraft und der politische Wille, um diesen Prozess anzuhalten.
Die friedfertigen Albaner konnten sich der Gewalt nicht entgegenstellen, die Extremisten begriffen, dass ihnen alles erlaubt ist. Die Serben fühlten sich dadurch in ihrem Denken bestätigt, die internationale Gemeinschaft sei ihnen feindlich gesonnen. In diesem Augenblick verlor die internationale Mission ihren Sinn – und die Mehrheit ihrer gut bezahlten Beamten kam nicht einmal auf die Idee, auf Bewusstsein und Werte der heutigen Gesellschaft Einfluss zu nehmen. Im Übrigen waren die Befugnisse der internationalen Gemeinschaft für die kosovarische Gesellschaft, gemessen an denen für Bosnien-Herzegowina, zu klein.
Heute erhalten die nationalen Minderheiten alle offiziellen Dokumente von albanischer Seite in zwei Sprachen. Auch die Gesetze werden ins Serbische übersetzt. In der Realität sieht das bisweilen komisch aus: Als Abgeordneter des kosovarischen Parlaments schlug ich im Juni 2003 vor, ein Gesetz, über das wir in den Tagen zuvor diskutiert hatten, wegen der schlechten Übersetzung ins Serbische erneut in das Gesetzgebungsverfahren einzubringen. Reaktion des Parlaments: lautes Lachen. Ich ergriff wieder das Wort und begann, den übersetzten Gesetzesentwurf laut vorzulesen. Ich hatte noch keinen ganzen Absatz vorgetragen, da war den Abgeordneten das Lachen vergangen – der Text bestand aus einem Haufen unverständlicher Sätze.
Ich habe die einfache Frage gestellt: Wie kann ein Richter aufgrund solch sinnlos formulierter Gesetzesverordnungen eine Entscheidung treffen? Die internationale Gemeinschaft hat sich darum bemüht, dass Gesetze erlassen werden, aber ihre Durchführung ist ein strittiger und langwieriger Prozess.
Der Kern des Missverständnisses zwischen der internationalen Gemeinschaft und Serbien liegt im unterschiedlichen Verständnis der Begriffe „Nation“ und „nationale Minderheit“. Diese Begriffe haben im Kosovo eine andere Bedeutung als im Westen. Auf Serben wirkt der Begriff der nationalen Minderheit demütigend, und er wird zudem als eine ernste Bedrohung für das eigene Überleben wahrgenommen.
Der militärische Einfluss der internationalen Gemeinschaft wird durch die KFOR und die Ausbildung der kosovarischen Schutztruppen (mehrheitlich Angehörige der ehemaligen Befreiungsarmee des Kosovo) deutlich. All dies ist die symbolische Wiederholung dessen, was serbische Polizei und Militär einst darstellten. Es ist eine Macht, die auch die Albaner fürchten und achten. Das ist den Serben sehr wichtig. Die Serben vertrauen der KFOR nicht, wie sie auch sonst niemandem vertrauen. Sie sind aber der Ansicht, „dass sie uns schützen können – wenn sie das wollen“. Spanier und Italiener schützten die Klöster von Decani und Pec und bewahrten sie während der Märzunruhen im Jahr 2004 vor der Zerstörung. Sie retteten zahlreiche Menschenleben in den entlegenen serbischen Enklaven, die in enormer Gefahr waren. Diese Leistung werden ihnen die Serben des Kosovo niemals vergessen.
Die Frage der Rechts(un)sicherheit zeigt sich in dem Dilemma, bei wem rechtlicher Schutz in Anspruch genommen werden kann. Das Vertrauen in die Institutionen ist gering, eigentlich nicht vorhanden. Der Einfluss der Albaner auf das Rechtswesen, sei es auf legalem Wege oder durch Korruption, ist groß. Die UNMIK war, wie vom ersten Tage an klar ersichtlich, proalbanisch ausgerichtet. Erst nach den Gewaltausbrüchen vom 17. März 2004 tauchten Serben zum ersten Mal auch als Opfer in den Berichten auf, die die UNMIK-Verwaltung nach New York sendet.
Nahezu alle Studien internationaler Vertreter behandeln die wirtschaftliche Entwicklung des Kosovo mit großem Ernst. Die Lage stellt sich aber noch schwieriger und komplizierter dar und bewegt sich von Unterschlagung und Veruntreuung von Millionen mit Beteiligung von internationalen Führungskräften (wie das Beispiel des kosovarischen Energieversorgers KEK zeigt, dessen Kapazität nicht die Bedürfnisse der Bevölkerung deckt) bis hin zu scheinbar banalen Fragen wie der notwendigen Anpassung der Arbeitskultur.
Das Kosovo ist ein Gebiet, das über Jahrzehnte ausgehalten wurde. Gelder kamen aus Serbien und von der jugoslawischen Föderation, von Gastarbeitern und heute von der internationalen Gemeinschaft. Diese Mittel werden nicht erarbeitet, sondern sie stammen von westlichen Steuerzahlern. Resultat: Gerade junge Leute finden, dass es sich auch ohne Arbeit angenehm leben lässt.
Wann immer die internationale Gemeinschaft die albanischen Regierenden kritisierte, kam es anschließend zu einer Verbesserung der Beziehungen mit den Serben. Dieser Trend hält bis heute an. Dennoch kann man nicht von rundum guten Beziehungen sprechen. Immer wieder tauchen Spannungen auf, beide Seiten hegen ein beträchtliches und nicht ungerechtfertigtes Misstrauen gegeneinander. Allerdings gab es auf Seiten der internationalen Vertreter immer Einzelne, die sich um die Lage der Serben gekümmert haben. Sie waren mutig genug, Berichte über die tatsächliche Lage vor Ort zu verfassen.
Ethnische Empfindlichkeiten
Kleine Völker mit großer Geschichte und schweren Opfern haben ein hohes Maß an ethnischer Empfindlichkeit. Deshalb ist die Bildung einer kosovarischen Identität nicht nur für die Serben vollkommen inakzeptabel. Aus internationaler Sicht gibt es kosovarische Albaner und kosovarische Serben. In den Dokumenten der internationalen Gemeinschaft finden sich die Abkürzungen K/A und K/S. Auf die Neudefinition unserer Identität wird auch Serbien Einfluss nehmen. Wir sind buchstäblich an den Zug aus Belgrad gekoppelt. Serben und Albaner im Kosovo werden sich parallel und getrennt voneinander entwickeln. Aber sie werden sich in dem gleichen langfristigen Ziel, der Mitgliedschaft in der Europäischen Union, treffen. Wie der ermordete Ministerpräsident Zoran DjindjiŤ sagte: „Irgendwo in der Zukunft werden ihr und ich uns treffen.“
Die Serben aus dem Kosovo brauchen eine grundlegende Veränderung ihres Verständnisses von der Welt, die sie umgibt und in der sie heute ohne Einfluss und bisweilen gegen ihren Willen leben. Das ist ein schwieriger und langwieriger Prozess. Die einzige Chance für die Serben ist die Teilhabe an den kosovarischen Institutionen, die ich für unvermeidlich halte. Dazu gehört das Recht auf ein Veto bei Verfassungsänderungen, die in jedem Land nationale Identität und kollektive Rechte schützen. Die internationale Gemeinschaft hat großen Einfluss auf die Region des ehemaligen Jugoslawien genommen. Mazedonien, das der Westen noch immer kontrolliert, ist ein gutes Beispiel. Der ethnische Konflikt ist eingefroren, aber das Land ist bis heute nicht langfristig stabilisiert. Neue Konflikte sind nahezu unausweichlich. Diese nur zu verwalten, führt nicht zu einer dauerhaften Lösung.
Der Balkan funktioniert trotz seiner zahlreichen Grenzen nach dem Prinzip der kommunizierenden Röhren. Deshalb wird die Nachgiebigkeit der inter-nationalen Gemeinschaft im Kosovo ein Signal für diejenigen Kräfte sein, die Bosnien-Herzegowina nicht als ihren eigenen Staat erleben. Das Verhalten gegenüber Serbien wird ebenfalls als ambivalent empfunden. Dabei verfügt nur Serbien über ein klares, kritisches europäisches Vermächtnis und ein proeuropäisches politisches Denken mit einer ununterbrochenen geschichtlichen Kontinuität. Die demokratischen Kräfte Serbiens, ausgenommen Ministerpräsident Koštunica und seine Partei, haben nie rückwärts gewandte Ideen verteidigt. Deshalb werden die Vertreter der internationalen Gemeinschaft in Serbien nicht als originäre Vertreter prowestlicher Werte wahrgenommen. Diese Rolle übernehmen einzelne Parteien und Intellektuelle, die in der Vergangenheit allzu oft als Verräter gebrandmarkt wurden.
Das politische Bewusstsein auf dem Balkan wird sich in dem Tempo verändern, in dem sich die jetzigen nationalen Entitäten öffnen. Notwendig sind ein beschleunigtes Wirtschaftswachstum und eine beherzte Anwendung der Standards der Europäischen Union. Die internationalen Fachkräfte müssen derweil alte Stereotypen darüber ablegen, wer der Gute und wer der Schlechte ist; Vorurteilen, denen sie, wenn sie auf den Balkan kommen, allzu leicht erliegen. Damit gefährden sie nicht nur ernstlich die Menschenrechte der Serben und anderer Ethnien, sondern unterstützen einen aggressiven Nationalismus. Die Vertreter der internationalen Gemeinschaft sind mit der Aufgabe angetreten, eine multiethnische Gesellschaft aufzubauen – und nicht, die ethnische Homogenisierung zu fördern oder gar nationalistische Diskurse zu stützen.
Der Balkan funktioniert nach seinen eigenen Regeln, die die Vertreter der internationalen Gemeinschaft verstehen müssen. Europäische Werte müssen keineswegs dem Balkan angepasst werden, auch wenn er ein Teil Europas ist.
OLIVER IVANOVIC, geb. 1953, ist Vorsitzender der serbischen Sozialdemokratischen Partei im Kosovo. Von 2001 bis 2007 war er serbisches Mitglied im kosovarischen Parlament. Seit 1998 ist er Direktor des Industriekomplexes „Feronikl“ in Glogovac.
Internationale Politik 6, Juni 2011, S. 49 - 53