Plädoyer für eine progressive Außenpolitik: Prävention braucht Gestaltungswillen
Deutsche Außen- und Sicherheitspolitik kann einiges dazu beitragen, weltweit Krisen zu verhindern und Konflikte zu bewältigen. Nötig sind Innovation, Kreativität und Mut.
Der Bundeswehrabzug aus Afghanistan, Waffenlieferungen an die Ukraine, der Nahost-Konflikt: In diesem Bundestagswahljahr dringen außen- und sicherheitspolitische Themen in die öffentliche Debatte. Das erste Zusammentreffen von Annalena Baerbock, Armin Laschet und Olaf Scholz als Kandidatin und Kandidaten für das Kanzleramt drehte sich im Mai sogar nur um europäische und internationale Fragen. Das ist folgerichtig. Spätestens die Corona-Krise hat gezeigt, wie stark unser aller Leben mit internationalen Entwicklungen verbunden ist. Umso mehr gilt: Wer außenpolitisch gestalten will, sollte präventiv handeln.
Krisenprävention im engeren Sinn ist jedoch eher ein Nischenthema in der außenpolitischen Debatte in Deutschland. Fragen zur Sahel-Politik, zu den Entwicklungen in der mosambikanischen Provinz Cabo Delgado oder in Myanmar kommen selbst in außenpolitisch orientierten Runden mit dem politischen Spitzenpersonal eher selten vor. Das Gleiche gilt für spezialisierte Instrumente der Konfliktbearbeitung, in die Deutschland investiert – wie Friedensmediation, zivile Stabilisierung oder Sicherheitssektorreform. Dabei putschte die von der EU ausgebildete Armee in Mali im Mai 2021 zum zweiten Mal innerhalb eines Jahres. Eine militärische Ausbildungsmission will die EU auch in den Norden Mosambiks schicken, wo eine dschihadistische Gruppe die Bevölkerung terrorisiert. Und in Myanmar warnen die Vereinten Nationen angesichts der blutigen Niederschlagung von Protesten gegen den Putsch vom Februar 2021 vor einem Bürgerkrieg wie in Syrien.
Deutschland ist direkt betroffen
Gewaltkonflikte, Aufstände und staatliche Repression drängen früher oder später auf die innenpolitische Tagesordnung oder schränken die sonstigen Handlungsoptionen ein. Ob Anfragen von Verbündeten, Druck von hiesiger Diaspora, massive Fluchtbewegungen, organisierte Kriminalität, die Gefährdung von Handelswegen und Lieferketten oder steigende humanitäre Bedürfnisse: Es gibt viele Kanäle, durch die internationale Gewaltprozesse Deutschland direkt betreffen.
Dabei gehen Deutschlands eigene Verpflichtung und historische Lehre deutlich tiefer als die Frage, ob ein Konflikt die deutsche Sicherheit unmittelbar berührt. Der Völkermord des sogenannten Islamischen Staates an den Jesiden im Irak, Massaker an der Zivilbevölkerung in Mali oder die gezielte Vertreibung der Rohingya aus Myanmar gehen uns nicht primär wegen möglicher Fluchtbewegungen, eventueller Terrorismusgefahren für Europa oder humanitärer Kosten an. Sich für den Frieden in der Welt und die Würde aller Menschen einzusetzen, ist die Grundbedingung des deutschen Staates, wie sie das Grundgesetz nennt. Die historische Verantwortung Deutschlands nach Shoah und zwei Weltkriegen besteht nicht allein in Vergangenheitsarbeit und Antirassismus im Innern, sondern ist fest in seiner außenpolitischen Identität verankert.
Der pathetische Bezug auf Grundgesetz und deutsche Geschichte mag so manchem Realpolitiker schief erscheinen. Schwierigkeiten mit einer deutschen Führungsrolle einmal beiseite: Haben Interventionen und Stabilisierungsbemühungen der vergangenen Jahrzehnte nicht gezeigt, dass sich Demokratie und Menschenrechte nicht so einfach in autoritäre oder von Stammesbeziehungen geprägte Gesellschaften exportieren lassen? Gab es nicht gerade einen enormen Einsatz von Entwicklungsmitteln, Sicherheitskräften und Diplomatie in Afghanistan, wo jetzt die Taliban mit dem internationalen Truppenabzug Distrikt um Distrikt zurückerobern?
Natürlich ist es richtig, im demokratischen Diskurs den außenpolitischen Anspruch Deutschlands zu kalibrieren. Keiner schlägt die Trommel für eine Berliner Version einer neokonservativen Regimewandel-Agenda, wie sie seinerzeit die US-Regierung von George W. Bush vertrat. Demokratische Entwicklungsprozesse sind komplex und selten gradlinig. Allerdings wäre es zynisch, wenn die Bundesregierung ihren eigenen Einfluss negierte, wenn sie mit korrupten und putschanfälligen Regierungen zur Terrorismusbekämpfung zusammenarbeitet. Deutschland muss nicht immer alle Antworten haben, aber zumindest die richtigen Fragen stellen.
Wer präventiv handeln will, muss gestalten wollen
Gerade weil fragile Kontexte komplex sind und internationale Bemühungen kontraproduktiv sein können, leben sie von Innovation, Kreativität und Mut. „Für eine(n) neue(n) Kanzler(in) mit politischem Gestaltungsanspruch und Mut zu Weichenstellungen bietet gerade das Feld der Krisendiplomatie Ansatzpunkte für überfällige Veränderung“, schrieb Ekkehard Brose, Präsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik, auf dem PeaceLab Blog. Mehr als das negative Ziel, Krisen zu verhindern, die ja auch produktiv wirken können, sollte eine progressive Außenpolitik sich darum bemühen, Wandelprozesse konstruktiv zu begleiten.
Im Konzert mit seinen europäischen und internationalen Partnern hat Deutschland mehr Handlungsmöglichkeiten, als vielen vielleicht bewusst ist. In den vergangenen Jahren ist Deutschland zu einem der größten Geber in Krisenregionen aufgestiegen, oft in Zusammenarbeit mit internationalen Organisationen und Nichtregierungsorganisationen. 2019 stellte die Bundesregierung laut OECD mehr zivile Mittel für Frieden und Stabilität bereit als die USA oder Großbritannien (nur die EU gab mehr). Damit gehen Steuerungsmöglichkeiten und diplomatische Zugänge einher. Mit seiner begrenzten Kolonialerfahrung, wirtschaftlichen Kraft und offenen Gesellschaft genießt Deutschland in vielen Ländern einen exzellenten Ruf. Die parteinahen Stiftungen und deutschen zivilgesellschaftlichen Organisationen greifen oft tiefer in ihre Gastgesellschaften ein, als Botschaften dies könnten, und bilden langfristige Beziehungen mit sozialen Bewegungen und Parteien aus.
Ende März 2021 veröffentlichte die Bundesregierung einen Zwischenbericht zur Umsetzung der Leitlinien „Krisen verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern“, in dem sie zahlreiche Aktivitäten in dem Bereich auflistet.
Fragiler Übergangsprozess in Sudan
Die Proteste, die im April 2019 den sudanesischen Präsidenten Omar al-Bashir zu Fall brachten und vier Monate später einen zivil-militärischen Übergangsprozess einleiteten, sind ein gutes Beispiel dafür, wie sich Deutschland präventiv gestaltend einbringen kann. In Khartum profitierte die Botschaft von den langjährigen Aktivitäten des Goethe-Instituts und der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES). Aktivistinnen, die Teil des „Young Leaders“-Programms der FES gewesen waren, nahmen führende Rollen in der revolutionären Bewegung ein.
Durch die guten Kontakte wussten die Diplomaten, dass zumindest von der Protestbewegung keine gewaltsame oder ideologische Eskalation zu erwarten war. Heiko Maas war der erste westliche Außenminister, der Anfang September 2019 die zivil-militärische Übergangsregierung traf. Im 30. Jahr nach der friedlichen Revolution in der DDR zogen die Diplomaten Parallelen zwischen der deutschen und der sudanesischen Erfahrung. So gab es auch eine emotionale Verbindung zu der friedlichen, von jungen Leuten angeführten Protestbewegung mit ihrem Slogan „Freiheit, Frieden, Gerechtigkeit“.
Kurz nach dem Sturz Bashirs gründeten deutsche Diplomaten die „Friends of Sudan“ als informelle Kontaktgruppe, um das internationale Engagement mit der volatilen Situation eng abzustimmen. Im Juni 2020 richtete Deutschland eine virtuelle Partnerschafts- und Geberkonferenz mit und für Sudan aus, um Mittel für die Reformprozesse einzusammeln. Als nichtständiges Mitglied im UN-Sicherheitsrat verhandelte Deutschland zusammen mit Großbritannien die Einrichtung einer neuen politischen UN-Mission, die den Übergangsprozess seit Anfang 2021 begleitet und von dem Deutschen Volker Perthes geleitet wird.
Die deutsche Rolle in Sudan ist nicht ohne Schatten und Herausforderungen. Im Rahmen des Khartum-Prozesses, eines politischen Dialogs von Herkunfts-, Transit- und Zielstaaten von Migration am Horn von Afrika, sprach die Bundesregierung auch mit der Bashir-Regierung darüber, Menschenschmuggel zu verhindern – was diese als diplomatische Aufwertung sah. Im Gegensatz zu anderen Staaten ernannte Deutschland keinen Sondergesandten für Sudan oder das Horn von Afrika, hat weiterhin sehr begrenzte diplomatische Kapazitäten und konnte die sudanesische Regierung nicht überzeugen, die Friedensmission UNAMID in Darfur über das Jahr 2020 hinaus zu belassen.
Der Übergangsprozess in Sudan bleibt fragil. Allein 2021 starben bereits mehrere hundert Menschen in Darfur bei Angriffen von Milizen und bewaffneten Auseinandersetzungen. Die Sicherheitskräfte könnten die ganze Macht an sich reißen. Doch aus einer islamistischen Diktatur, die Frauen, Minderheiten und Andersdenkende unterdrückte, eine Zeitlang internationalen Terroristen wie Osama Bin Laden eine Plattform bot und für Massaker an der Zivilbevölkerung und Bürgerkrieg mit Hunderttausenden Toten und Millionen Vertriebenen verantwortlich war, ist ein Stabilitätsanker für die Region geworden.
Deutschland kann nicht für sich in Anspruch nehmen, diese Entwicklung vorhergesehen oder herbeigeführt zu haben. Die Sudanesinnen und Sudanesen sind zu Recht stolz auf ihre „home-grown revolution“. Doch die Bundesregierung mobilisierte diplomatische Zusammenarbeit, finanzielle Unterstützung und politische Partnerschaft für einen neuen Sudan, um „alles (zu) tun, damit dieses historische Zeitfenster auch genutzt werden kann“, wie Bundeskanzlerin Angela Merkel bei ihrer Pressekonferenz mit Premierminister Abdulla Hamdok im Februar 2020 sagte. Dazu gehörte auch, Staaten wie die Vereinigten Arabischen Emirate oder Saudi-Arabien einzubinden, die eine reine Militärherrschaft in Khartum begrüßt hätten. Eine präventive Einstellung hilft dabei, die eigenen Hebel zu identifizieren und Partner zu mobilisieren.
Drei Weichenstellungen
Das Menschenwürdegebot des Grundgesetzes und die enge internationale Verflechtung Deutschlands verlangen nicht, dass die Bundesregierung jedem Diktator in die Parade fährt. Doch wer außenpolitisch gestalten will, wird im Bereich der Krisenprävention, Konfliktbearbeitung und Friedensförderung breite Möglichkeiten dazu finden. Drei Weichenstellungen in Politik und Gesellschaft können so ein Engagement weiter unterstützen.
Erstens braucht es möglichst differenzierte Analysen der Interessen, Anreize und Machtquellen der handelnden Akteure in Regierungen, bewaffneten Gruppen und deren gesellschaftlichem Umfeld. Gestaltungsmöglichkeiten entstehen dort, wo Handlungsspielräume klar werden, und seien sie noch so klein. Der nächste Außenminister oder die nächste Außenministerin sollte ihren Apparat anweisen, in Vorlagen häufiger mehrere Handlungsoptionen und nicht nur eine konsensuale Hausmeinung aufzuzeigen.
Zur Analyse gehört auch, politische Gewalt differenzierter zu betrachten. Es macht einen Unterschied, ob Gewaltakteure gezielt gegen die Zivilbevölkerung vorgehen, Gemeinschaften sich gegen Aggression verteidigen oder Bewaffnete direkt aufeinandertreffen. Eine Strategie zur Prävention von Massenverbrechen, wie sie die deutsche NGO Genocide Alert seit Jahren fordert, würde Beamtinnen und Beamten als auch Durchführungsorganisationen bei dieser Sensibilisierung helfen.
Zweitens sollte die Bundesregierung ihre Präventionsarchitektur stärken. Wenn die nächste Koalition einen nationalen Sicherheitsrat auf Kabinettsebene einrichtet, wie einige Parteien vorschlagen, sollte sie ihn eng mit Krisenpräventionsmechanismen verbinden. Dazu gehören regelmäßige Analysen von Eskalations- und Präventionsmöglichkeiten, flexibel einsetzbare Instrumente, ausreichend ausgestattete Auslandsvertretungen und Regionalreferate, ein effizienter Entscheidungs- und bürokratischer Eskalationsprozess sowie die regelmäßige Überprüfung und Reflexion des eigenen Ansatzes. Für alle Mechanismen sollten die zuständigen Ressorts konstruktiver zusammenarbeiten und Instrumente wie die gemeinsame Analyse und abgestimmte Planung von Auswärtigem Amt und Bundesentwicklungsministerium weniger als bürokratische Pflichtübung sehen.
Der in den vergangenen Jahren eingeführte Prozess zur Krisenfrüherkennung bietet ebenfalls ressortgemeinsame Anknüpfungspunkte. Oft bestehen präventive Handlungsspielräume gerade in der Zusammenarbeit zwischen Ressorts, beispielsweise bei wirtschaftlichen Investitionen oder Anpassungsmaßnahmen an den Klimawandel. Zu all diesen Fragen sollte Deutschland eng mit seinen Partnern in EU, AU, UN und den USA zusammenarbeiten, die von ihren Erfahrungen mit dem Aufbau einer bürokratischen und operativen Präventionsarchitektur berichten können.
Drittens sollten die deutsche Zivilgesellschaft und die Bundesregierung konstruktiver in der Konfliktbearbeitung zusammenarbeiten. Sarah Brockmeier und Philipp Rotmann vom Global Public Policy Institute wiesen 2019 darauf hin, dass die Friedensbewegung stärker darauf dringen könnte, „den gesellschaftlichen Großkonsens für Friedensförderung und Krisenprävention in praktisches staatliches Handeln umzusetzen“, um jeden Handlungsspielraum auszunutzen. Umgekehrt tut sich die Bundesregierung mit ihrer zurückhaltenden Kommunikation des eigenen Konfliktengagements keinen Gefallen. Bundestag und Expertinnen und Experten sind mangels Informationen kaum in der Lage, die Aktivitäten der Bundesregierung eingehend zu bewerten – und letztlich wirklich konstruktive Vorschläge zu machen. Zu einer angemessenen Kommunikationsarbeit der Bundesregierung würde auch gehören, eigene Fehlschläge und bewusst in Kauf genommene Kosten des Krisenengagements offenzulegen. Der Zwischenbericht zu den Leitlinien geht darauf praktisch nicht ein.
Krisenprävention geht uns alle an
Ob seine Bürgerinnen und Bürger das wollen oder nicht, Deutschlands Einfluss in der Welt ist gewachsen. Je mehr nationalistische Stimmen bei seinen engsten Verbündeten Auftrieb gewinnen, desto weniger kann Deutschland sich auf Initiativen und Prioritäten seiner Partner verlassen. Eine präventive, gestaltende Außenpolitik darf sich nicht in Floskeln erschöpfen, sondern sollte jeden Spielraum nutzen, um menschliches Leid zu mindern.
Dr. Gerrit Kurtz ist Research Fellow für Krisenprävention und Diplomatie in Afrika bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP).
Internationale Politik 4, Juli/August 2021, S. 91-95