„Für eine kooperative Weltordnung“
Interview mit Bundeskanzler Gerhard Schröder
In einem Gespräch mit Internationale Politik beschreibt der Bundeskanzler die strategischen Perspektiven einer veränderten deutschen Außenpolitik. Aus seiner Sicht gibt es keinen Bruch im transatlantischen Verhältnis, die Partnerschaft zwischen Europa und den USA bleibe von „fundamentaler Bedeutung“ für die internationale Sicherheit und Stabilität, Konfliktprävention und internationale Zusammenarbeit bei der Krisenbewältigung seien für die Bundesregierung oberstes Gebot.
Herr Bundeskanzler, Sie selbst haben erst jüngst wieder gesagt, es käme Ihnen darauf an, „dass wir in der Außen- und Sicherheitspolitik die notwendigen Schlüsse aus der veränderten Realität der Welt ziehen“. Die deutsche Außenpolitik hat sich seit Ihrem Regierungsantritt 1998 in der Tat verändert, seit dem vergangenen Jahr sogar stark. Wie würden Sie die strategischen Perspektiven dieser neuen Politik beschreiben?
Deutschlands Verantwortung und Rolle in der internationalen Politik sind in den letzten Jahren stetig gewachsen. Unser Land leistet heute erhebliche Beiträge bei internationalen Friedenseinsätzen und bei der Bekämpfung des internationalen Terrorismus, im zivilen und im militärischen Bereich. Das wird von der internationalen Gemeinschaft durchweg positiv gewürdigt. Wir leisten unseren Beitrag im Rahmen unserer Möglichkeiten und in enger Abstimmung mit unseren Partnern und Alliierten.
Ausgehend von einem umfassenden Sicherheitsbegriff sind unsere strategischen Schwerpunkte die Konfliktverhütung und Konfliktbeilegung mit friedlichen Mitteln, die Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen und die Stärkung des multilateralen Systems, insbesondere der Vereinten Nationen. Militärische Mittel können – und manchmal müssen sie – als letztes Mittel zur Untermauerung oder Absicherung dieser Politik zum Einsatz kommen. Die Bundesregierung ist dazu bereit, wie der Einsatz unserer Bundeswehr bei den internationalen Friedensmissionen und im Kampf gegen den Terrorismus glaubwürdig unter Beweis stellt.
Über deutsche „nationale Interessen“ zu reden, galt früher als Tabu. Gilt dieses Tabu heute noch oder besteht im Gegenteil geradezu die Notwendigkeit, deutsche Interessen zu definieren?
Selbstverständlich definiert Deutschland, so wie es auch unsere Partner und Alliierten machen, seine nationalen Interessen und bringt sie in den internationalen Foren zur Geltung. Ein Schwerpunkt unserer Politik ist richtigerweise unsere Mitgliedschaft in multilateralen Institutionen wie UN, EU, NATO oder OSZE. Diese Tatsache bringt es wiederum mit sich, dass wir in einem ständigen Prozess des Ausgleichs verschiedener nationaler Interessen leben. Vielleicht bringt Deutschland heute seine Interessen etwas deutlicher oder klarer vor, als dies in der Vergangenheit der Fall war. Aber daran kann ich nichts Negatives erkennen. Unsere Partner und Alliierten finden es jedenfalls ganz selbstverständlich, weil sie es ebenso machen.
Am sichtbarsten verändert haben sich die Rolle der Bundeswehr – man könnte auch von der „Enttabuisierung des Militärischen“ sprechen – und das transatlantische Verhältnis. Zu letzterem: Ist der Bruch repariert?
Wie gesagt, gründet Deutschland seine Sicherheitspolitik auf einen umfassenden Sicherheitsbegriff, unter Betonung von Konfliktprävention und Einsatz von zivilen Mitteln. Der Einsatz militärischer Mittel kann aber, etwa beim Kampf gegen den internationalen Terrorismus, nicht grundsätzlich ausgeschlossen werden. Dies ist übereinstimmende Auffassung auch in der Europäischen Union.
Zum transatlantischen Verhältnis möchte ich nur sagen, dass wir mit unseren amerikanischen Freunden auf allen Ebenen eng und vertrauensvoll zusammenarbeiten. Das gilt derzeit sehr intensiv in Afghanistan, wie auch von Präsident Bush jüngst hervorgehoben, auf dem Balkan und andernorts bei der Bekämpfung terroristischer Bedrohung. Die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verflechtungen zwischen unseren Ländern sind enorm vielfältig und tragfähig.
Es gibt keinen Bruch im transatlantischen Verhältnis – deshalb würde ich empfehlen, sich nicht zu sehr von Kaffeesatzleserei leiten zu lassen, sondern sich mehr an die Fakten der tagtäglichen guten Zusammenarbeit zu halten.
In Javier Solanas Entwurf für eine europäische Sicherheitsstrategie wird eine Weltordnung gefordert, die auf „effektivem Multilateralismus“ basiert: Es werden eine wichtige Rolle für die internationalen Institutionen verlangt und strategische Partnerschaften mit Russland, Japan, China, Kanada und Indien anvisiert. Setzt die EU sich damit von den USA ab, um einen „Gegenpol“ zur Supermacht zu kreieren?
Zunächst ist es angesichts der innereuropäischen Differenzen in der Irak-Frage bemerkenswert, dass Javier Solanas Entwurf für eine europäische Sicherheitsstrategie von allen EU-Partnern positiv aufgenommen worden ist. Das zeigt die Bereitschaft, nach vorn zu blicken und auf der Grundlage konsentierter Prinzipien zu einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU zu kommen.
Wir teilen uneingeschränkt die Grundaussagen des Solana-Papiers: Ausgehend von einem umfassenden Sicherheitsbegriff muss sich die EU so zentralen Herausforderungen wie internationaler Terrorismus und Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen stellen; militärische Mittel sind unerlässlich, müssen aber eingebettet sein in eine umfassende Strategie der Konfliktprävention und des internationalen Krisenmanagements.
Eine solche Strategie muss die besondere Stärke der Europäischen Union nutzen, die über ein breites Spektrum von politischen, wirtschaftlichen und diplomatischen Instrumenten verfügt. Wir und unsere Partner setzen uns für eine kooperative Weltordnung ein. Das erfordert vielseitige Partnerschaften.
Dazu gehört auch und vor allem eine enge transatlantische Partnerschaft, sowohl bilateral als auch zwischen der EU und den USA und in der NATO. Diese Partnerschaft bleibt von fundamentaler Bedeutung für unsere eigene und für die internationale Sicherheit und Stabilität. Von „Abkoppeln“ kann keine Rede sein. Darin sind wir Europäer uns völlig einig.
In dieser neuen Strategie ist auch die Rede von „präemptivem Engagement“ zur Gefahrenabwehr: Heißt das, dass auch die EU in Zukunft Staaten präventiv angreifen wird, von denen sie sich in irgendeiner Weise bedroht fühlt?
Die EU redet einer Politik der Präventivangriffe auf andere Staaten nicht das Wort. Das geschieht auch nicht im Solana-Papier. Dort wird „präemptives Engagement“ als ein rechtzeitiges Handeln durch Nutzung ziviler Mittel wie Handels- und Entwicklungspolitik definiert. Eine solche Politik der Konfliktprävention vertritt die Bundesregierung seit langem.
Die militärischen Fähigkeiten der Europäer sind schwach: Sie geben nur halb so viel Geld wie die Amerikaner für ihr Militär aus, und dieses auch noch ineffektiv, weil jeder EU-Staat sich eine eigene nationale Armee hält, anstatt dass die Union alle Kräfte für die gemeinsame Verteidigung bündelt. Doch schon die EU-Eingreiftruppe von 60000 Mann, 1999 in Helsinki beschlossen, ist bisher nicht in Sicht. Warum ist das auf EU-Ebene so schwer durchzusetzen?
Die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik hat seit dem Europäischen Rat in Köln im Juni 1999 beachtliche Fortschritte gemacht. Europa ist inzwischen auch in diesem Bereich zu einem Akteur geworden: Derzeit laufen drei Missionen – eine Polizeimission in Bosnien und Herzegowina und zwei militärische Friedensmissionen in Mazedonien und in Bunia (Kongo).
Allerdings müssen wir besonders im militärischen Bereich unsere Fähigkeiten weiter verbessern. Die europäischen Staaten müssen hier noch intensiver zusammenarbeiten. Deutschland, Frankreich, Belgien und Luxemburg haben hierzu Ende April Initiativen ergriffen, die auf eine engere Zusammenarbeit durch Bündelung und Aufgabenteilung abzielen. Diese Vorschläge werden jetzt im Kreise der EU weiter diskutiert.
Wenn wir in Europa gemeinsam unsere militärischen Fähigkeiten verbessern, wird das auch der NATO zugute kommen. Auch dort geht es in erster Linie darum, dass die Europäer mehr einbringen müssen. Die NATO wird durch eine wirksame europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik nicht geschwächt, sondern im Gegenteil gestärkt: Wir wollen einen starken europäischen Pfeiler in der NATO, gerade weil wir die NATO und die transatlantische Partnerschaft für unsere gemeinsame Sicherheit weiterhin brauchen.
Die Wiederbelebung des deutsch-französischen EU-Motors anlässlich des 40. Jahrestags des Elysée-Vertrags und die Einigkeit Deutschlands und Frankreichs in der Irak-Frage hat viele überrascht. War das ein Ad-hoc-Bündnis, oder steckt mehr dahinter?
Das enge Verhältnis zwischen Deutschland und Frankreich ist nie ein Ad-hoc-Bündnis gewesen. Das deutsch-französische Zusammenwirken ist und bleibt unerlässlich, um in Europa voranzukommen. Ohne den deutsch-französischen Kompromiss, den Präsident Chirac und ich in der Frage der Finanzierung der Agrarpolitik erzielt haben, wäre der Erfolg des Erweiterungsgipfels in Kopenhagen im Dezember 2002 nicht möglich gewesen. Die deutsch-französische Initiative vom Januar 2003 zur institutionellen Reform der EU hat maßgeblichen Einfluss auf die erfolgreiche Arbeit des Konvents unter Vorsitz des früheren französischen Staatspräsidenten Valéry Giscard d‘Estaing gehabt.
Ein deutscher ständiger Sitz im UN-Sicherheitsrat scheint auf absehbare Zeit unmöglich zu sein, ebenso wie ein gemeinsamer europäischer. Wie kann Deutschland als drittgrößter UN-Beitragszahler trotzdem im Sicherheitsrat mehr Gewicht bekommen? Gibt es Bestrebungen, London und Paris auf eine Vertretung der EU-Position im Sicherheitsrat festzulegen?
Deutschland ist 2003/2004 zum insgesamt vierten Mal seit seinem Beitritt zu den Vereinten Nationen Mitglied im UN-Sicherheitsrat. Dies ist ein deutlicher Ausdruck für das Vertrauen, das Deutschland in den Vereinten Nationen genießt. Deutschland hat großes Gewicht in diesem Gremium, und zwar nicht nur aufgrund seiner Eigenschaft als seit langem drittgrößter UN-Beitragszahler, sondern auch aufgrund seiner Rolle in Europa und der Welt. In New York wird seit vielen Jahren über eine Reform und Erweiterung des Sicherheitsrats diskutiert. Deutschland setzt sich für diese Reform ein mit dem Ziel, dieses wichtige Gremium institutionell zu stärken und repräsentativ für die Staatengemeinschaft des 21. Jahrhunderts zu machen.
Das in der UN-Charta verankerte Gewaltmonopol der Vereinten Nationen scheint so nicht durchsetzbar zu sein. Muss das Völkerrecht modernisiert werden?
Wenn von einem Gewaltmonopol der Vereinten Nationen gesprochen wird, bedeutet dies nicht, dass nur die UN befugt sind, militärische Maßnahmen zu ergreifen oder zu autorisieren. Die UN-Charta sieht in Artikel 51 ausdrücklich vor, dass das Recht eines jeden Mitgliedstaats auf individuelle und kollektive Selbstverteidigung nicht beeinträchtigt wird. Es ist aber richtig, dass die UN-Mitgliedstaaten dem Sicherheitsrat die Hauptverantwortung für die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit übertragen haben.
Das Völkerrecht befindet sich in einem ständigen Anpassungsprozess und ist bereits heute moderner als viele glauben. Neues Völkerrecht kann man ja auch nicht einfach beschließen, sondern es geht hier im Wesentlichen um Staatenpraxis, Rechtsüberzeugungen und um schwierige multilaterale Verhandlungen. Die Bundesregierung jedenfalls setzt ihre Politik der Stärkung der Vereinten Nationen und des Völkerrechts, insbesondere der Charta der Vereinten Nationen, konsequent fort.
Sollten Frankreich, Deutschland und Großbritannien sich zu einem „Club of Three“ zusammenschließen, um Europa wirklich voranzubringen? Bisher sperrt sich London eher, vor allem wenn es um die GASP geht. Sehen Sie eine Chance, Ihren Freund Tony Blair als Clubmitglied für dieses Kerneuropa zu werben?
Unsere drei Länder verbindet die Auffassung, dass Europa nur dann eine wirtschaftlich führende Rolle einnehmen kann, wenn wir die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie verstärken. Dies war Grundlage meiner gemeinsamen industriepolitischen Initiative mit Staatspräsident Chirac und Premierminister Blair Anfang des Jahres, der sich die anderen Mitgliedstaaten auf dem Europäischen Rat in Brüssel im März im Wesentlichen angeschlossen haben. Schon weit im Vorfeld von gesetzgeberischen Initiativen der Kommission müssen die möglichen Auswirkungen auf die Industrie berücksichtigt werden.
Auch im Bereich der GASP und der ESVP ist der britische Beitrag ebenso wie der französische unverzichtbar. Dies bedeutet aber nicht, dass unsere drei Länder sich zu einem „Club of Three“ zusammenschließen. Wir wollen Fortschritte gemeinsam mit allen unseren Partnern in der EU.
Der europäische Verfassungsentwurf hat einige Fortschritte gebracht, auf wichtigen Feldern wie der GASP wird jedoch am alten Einstimmigkeitsprinzip festgehalten. Wird dadurch eine gemeinsame Außenpolitik nicht erschwert?
Der Konvent zur Zukunft Europas hat ausgezeichnete Arbeit geleistet. Demokratie, Transparenz und Handlungsfähigkeit der erweiterten EU werden durch den europäischen Verfassungsentwurf deutlich verbessert: Der Kommissionspräsident wird künftig vom Europäischen Parlament gewählt, der Europäische Rat erhält einen gewählten hauptamtlichen Vorsitzenden.
Die Grundrechtscharta wird rechtsverbindlicher Teil der Verfassung, die Regelungen zur Kompetenzabgrenzung werden deutlich verbessert. Und der Anwendungsbereich der EP-Mitentscheidung und der qualifizierten Mehrheit im Rat wird deutlich ausgeweitet.
Selbstverständlich hätte ich mir an der einen oder anderen Stelle weiter reichende Ergebnisse gewünscht, z.B. in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. Aber auch in der GASP konnten große Fortschritte erzielt werden. Ich erinnere nur an das neu geschaffene Amt eines EU-Außenministers sowie die Einrichtung eines europäischen diplomatischen Dienstes.
Auch die Möglichkeiten zur Fortentwicklung der ESVP werden deutlich verbessert. Insgesamt stellt das Konventsergebnis einen fairen Kompromiss dar. Das im Konvent gefundene Gesamtpaket sollte auf der am 4. Oktober beginnenden Regierungskonferenz nicht mehr aufgeschnürt werden.
Die Frankfurter Allgemeine Zeitung attestierte Ihnen, dass Sie einen „grundlegenden Stilwandel in der deutschen Außenpolitik“ eingeleitet hätten: Das wiedervereinigte Deutschland löse sich unter Ihnen „aus der Subalternität“. Welche Art von Macht ist Deutschland heute, und wo wird es in zehn Jahren stehen?
Jeder hat seinen eigenen Stil. Solche Begriffe wie „Lösen aus der Subalternität“ scheinen mir wenig hilfreich und haben auch mit der Realität nichts zu tun. Wie bereits gesagt, ist Deutschlands Verantwortung in der internationalen Politik in den letzten Jahren gewachsen. Deutschland wird auch in Zukunft einen wichtigen und verantwortungsvollen Beitrag leisten, dabei aber stets seine eigenen Möglichkeiten beachten und in enger Abstimmung mit den Partnern und Alliierten arbeiten. Daran wird sich nichts ändern.
Internationale Politik 9, September 2003, S. 13 - 18