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01. Aug. 2007

Für ein globales Frühwarnsystem

Russische Vorschläge zur Zukunft der Nichtverbreitung

Das
Nonproliferationsregime aus der Zeit des Kalten Krieges steckt in einer tiefen
Krise. Die „klassischen“ Instrumente zur Gefahrenabwehr –Abschreckung,
Rüstungskontrolle, präventive Nichtverbreitung – reichen in der heutigen Welt
nicht mehr aus. Nötig ist ein neues globales System der Kontrolle, gemeinsam
entwickelt von den USA und Russland.

Im Bereich der Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen ist eine Krisensituation entstanden. Einerseits ist sie eine Folge durchaus objektiver Prozesse, die mit der Globalisierung der Weltwirtschaft zusammenhängen. Andererseits ist sie durch Handlungen führender Kernwaffenmächte bedingt, die dem Regime der Nichtverbreitung schaden.

Das Hauptproblem besteht darin, dass diese Mächte den Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen aus dem Jahr 1968, konkret Artikel 6, der sie zur atomaren Abrüstung verpflichtet, nicht nur nicht erfüllen, sondern ihre Kernwaffenarsenale sogar weiter vervollkommnen und aufstocken.

Besonders eifrig sind hier die USA. Sie haben in den letzten Jahren dem Regime der nuklearen Nichtverbreitung sowie der Rüstungskontrolle insgesamt zwei starke Schläge versetzt. Der erste war der Austritt aus dem Vertrag über Raketenabwehr vom Jahr 1972. Der zweite war eine neue Kernwaffendoktrin der USA. Diese setzte nicht nur die Schwelle des möglichen Einsatzes von Kernwaffen herab, sondern sie überführte faktisch die Kernwaffen aus dem Arsenal der politischen Abschreckung in das Arsenal der Gefechtsfeldwaffen. Die Folgen dieser Schritte können nicht nur für den Zusammenhalt des Nichtverbreitungsvertrags, sondern auch unmittelbar für die Vereinigten Staaten recht gefährlich sein.

Der Kampf gegen die Verbreitung von Massenvernichtungs- und Raketenwaffen ist aber so wichtig wie lange nicht mehr, vor allem wegen der Entwicklung des internationalen Terrorismus in letzter Zeit. Es fällt schwer, sich die Folgen für die ganze Menschheit vorzustellen, sollten solche Waffen in die Hände islamischer Extremisten gelangen. Daher suchen Spezialisten wie Politiker nach neuen Lösungswegen für das Problem der Verbreitung an staatliche und nichtstaatliche Akteure. Unter anderem wird darüber nachgedacht, die heutigen passiven, „klassischen“ Maßnahmen auf dem Gebiet der Nichtverbreitung durch aktive militärische Maßnahmen zu ergänzen. Ein Terminus, den die USA bald nach dem Ende des Ost-West-Konflikts aufbrachten, ist „Counterproliferation“: Es geht dabei um die Bereitschaft der USA, im Zusammenhang mit der Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen und ihren Trägermitteln auch militärische Mittel einzusetzen und ihre Truppen auf Angriffe mit Massenvernichtungswaffen (MVW) einzustellen.

In den Jahren des Kalten Krieges haben die USA zur Gefahrenabwehr erfolgreich drei Instrumente eingesetzt: Abschreckung, Rüstungskontrolle und die präventive Politik der Nichtverbreitung. In der heutigen Welt reichen diese Instrumente unverkennbar nicht mehr aus. Denn das Problem der Verbreitung spitzt sich drastisch zu: Der gegenwärtige Weltmarkt stimuliert den Austausch von Nuklear- und anderen Dual-Use-Technologien trotz verschärfter Kontrollen, wodurch die präventive Politik der Nichtverbreitung in vielerlei Hinsicht ineffektiv zu werden droht.

Daraus ergibt sich eine neue Akzentuierung der Politik der Nichtverbreitung: Zu den Aufgaben der präventiven Politik kommt die Aufgabe des Schutzes der USA, ihrer Streitkräfte sowie ihrer Verbündeten in verschiedenen Regionen der Welt hinzu. Russland betrachtet demgegenüber die diplomatischen Bemühungen als vorrangig in der Politik der Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen. Diplomatische Methoden mit politischen und wirtschaftlichen Anreizen haben ihre Wirksamkeit vielfach unter Beweis gestellt: Südafrika, die Ukraine, Weißrussland, Kasachstan, Argentinien, Brasilien, Rumänien, Algerien und schließlich Südkorea haben ihre Atomwaffen bzw. -programme aufgegeben, weil die Aussichten auf eine vorteilhafte Zusammenarbeit mit den hochentwickelten Ländern für sie reizvoller waren als die militärpolitischen Vorteile der Atombewaffung. Hier hat die Präventivdiplomatie, vor allem die der USA, eine gewaltige Rolle gespielt.

Viele Länder kommen auch ohne Raketenprogramme aus. Dazu gehören Australien, Kanada, viele Länder in West- und Osteuropa sowie Japan. Die Entscheidung war in diesen Fällen von politischen und strategischen Faktoren, vom Vorhandensein effektiver Mechanismen der regionalen Sicherheit und vom System der multi- und bilateralen Sicherheitsgarantien getragen. Eine nicht geringe Rolle spielte dabei die wechselseitige wirtschaftliche Abhängigkeit und die Einsicht in die Vorteile der Integration in die Weltwirtschaft.

Die Rolle der Diplomatie

Wie die Praxis zeigt, darf also nicht davon ausgegangen werden, dass das dem einen oder anderen Land zur Verfügung stehende technologische Potenzial zur Ausrüstung seiner Streitkräfte mit Massenvernichtungswaffen und Trägermitteln führen muss. Diplomatische Präventivmaßnahmen sind durchaus wirksam. Aber sie werden unzureichend genutzt. Die USA wussten beispielsweise in den siebziger und achtziger Jahren, dass deutsche Unternehmen Werke für die Produktion von Giftgas in Libyen und im Irak bauten. Sie wussten auch, dass deutsche Firmen Pakistan, Indien und Südafrika wichtige technische Hilfe im Atombereich leisteten. Deutsche Firmen waren auch die größten Lieferanten von Technologien für das gemeinsame Raketenprojekt „Condor-11“ von Argentinien, dem Irak und Ägypten.

Die USA richteten zwar zahlreiche Demarchen an die Bundesregierung, die nicht zu einem Kurswechsel führten; sie unternahmen aber nichts, solange das Werk für die Produktion von Giftgas im libyschen Rabta noch nicht betriebsbereit war. Erst dann begannen amerikanische Regierungsvertreter, sich dazu in der Presse zu äußern. All das hat weltweit Empörung ausgelöst; schließlich sahen die Deutschen sich gezwungen, ihre Exportkontrollgesetze zu verschärfen. Hätte Washington die deutschen Firmen fünf Jahre früher unter Druck gesetzt, wäre die Welt heute sicherer.

Die USA leisteten Pakistan Wirtschaftshilfe, bis dieses Land die Fähigkeit erlangte, eine Atombombe zu bauen. Erst danach wurden die Hilfe eingestellt und ein Handelsverbot, das so genannte Pressler-Amendment, verhängt. Im Falle Nordkoreas hatten die USA nur den Bau und Betrieb eines Forschungs-reaktors beobachtet, während Nordkorea sich weigerte, seinen Verpflichtungen gegenüber der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO) nachzukommen. Trotz der Tatsache, dass Pjöngjang diese Politik seit Mitte der achtziger Jahre betrieb, wurden Verhandlungen mit diesem Land erst dann mit voller Kraft aufgenommen, als sich für Nordkorea die Perspektive eröffnet hatte, bald die Nuklearschwelle zu überschreiten. Unsere Möglichkeiten sind auch deshalb oft so eingeschränkt, weil es uns in der Vergangenheit nicht gelungen ist, Diplomatie effektiv zu nutzen. Das gilt auch für wirtschaftliche und juristische Sank-tionen. Erfolgreicher waren die diplomatischen Anstrengungen, die mit der Nichtverbreitung von Raketen und der Erhöhung der Effektivität des Kontrollregimes über die Raketentechnologien verbunden sind. Dieses Regime gilt schon heute als ein wichtiger politisch-ökonomischer Hebel – obwohl es unvollkommen ist. Es hat schon geholfen, Programme wie das argentinisch-ägyptisch-irakische Projekt „Condor-11“ und den Verkauf chinesischer Raketen vom Typ M-9 zu stoppen.

Diplomatisch erfolgreich waren auch die gemeinsamen russisch-amerikanischen Aktivitäten zur Verhinderung der Weiterverbreitung von Nuklearwaffen auf dem Territorium der Ex-UdSSR. Keiner der sowjetischen Nachfolgestaaten (außer Russland) hat nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion die auf seinem Territorium stationierten Nuklearwaffen unter operative Kontrolle gestellt. Alle Staaten bekundeten die Absicht, die Nuklearwaffen loszuwerden, und traten als nichtkernwaffenbesitzende Staaten dem Atomwaffensperrvertrag bei. Die Nuklearwaffen wurden nach Russland überführt und deaktiviert. Die GUS-Länder regelten diese Fragen auf dem Verhandlungswege. Schließlich liegen bis heute keine Beweise dafür vor, dass Nuklearwaffen, nukleare Materialien und Technologien oder Nuklearspezialisten in andere Länder gelangt sind.

Wichtig sind zudem politische Anstrengungen, um die Attraktivität von Massenvernichtungswaffen zu mindern. Das gilt vor allem für die Situation auf der Koreanischen Halbinsel. Die Gefährlichkeit der Politik Nordkoreas besteht darin, dass es die „politische“ Rolle der Nuklearwaffen betont. Dieses Land hat in der Tat die Vorteile einer ambitiösen Nuklearpolitik vor Augen geführt: Die USA, Japan und Südkorea waren letzten Endes gezwungen, Verhandlungen aufzunehmen, um ihre eigene Sicherheit zu gewährleisten. Eine derartige Erpressung der Völkergemeinschaft, um politische und wirtschaftliche Vorteile zu bekommen, war gewissermaßen auch für die Politik der Ukraine kennzeichnend und ist künftig von Seiten anderer Staaten ebenfalls nicht ausgeschlossen.

Das Beispiel Nordkoreas ist auch in dem Sinne aufschlussreich, dass es die Schwäche der Maßnahmen zur gewaltsamen Bekämpfung der Nichtverbreitung demonstriert. Denn:

  • der Versuch, in dem Land umfassende IAEO-Inspektionen durchzuführen, zu denen Nordkorea sich verpflichtet hatte, ist gescheitert;
  • Wirtschaftssanktionen wären wegen Nordkoreas „Bettelwirtschaft“ und seiner schwachen weltwirtschaftlichen Verflechtung unwirksam;
  • die nukleare Abschreckung hat Nordkoreas Ambitionen nicht gezügelt;
  • die Möglichkeit militärischer Maßnahmen der USA hatte keine Auswirkungen auf das Atomprogramm. Der gemeinsame militärpolitische Druck der Nuklearstaaten auf dieses Land erwies sich als ineffektiv.

Zugleich muss zugegeben werden, dass das amerikanisch-nordkoreanische Abkommen, das noch im September 1994 geschlossen wurde, ein recht erfolgreicher Versuch war, das Problem der Nichtverbreitung auf diplomatischem Wege zu lösen. Wie der amerikanische Experte Leonard Spector anmerkte, bewegten sich die USA zu diesem Zeitpunkt von der „Counterproliferation“ zur „Neunichtverbreitung“. Die wichtige Leistung der damaligen US-Diplomatie stellte einen wesentlichen Beitrag – wenn schon nicht zur Überwindung, so doch zum Einfrieren der nordkoreanischen Krise – dar. Die wiederum beweist trotz aller Fehlschläge, dass sich sowohl die Nuklearstaaten als auch die nichtkernwaffenbesitzenden Staaten im Allgemeinen der gegenseitigen Verantwortung für die Nichtverbreitung bewusst sind und in diesem Bereich gemeinsam arbeiten können. Dies muss bei der Lösung der Iran-Frage im Auge behalten werden.

Grundrichtungen der gemeinsamen Arbeit

Nach dem Ende des Kalten Krieges ist die frühere Teilung der Staaten in Ost und West durch eine kompliziertere, aber zugleich weniger präzise Klassifizierung abgelöst worden. In Sachen nukleare Nichtverbreitung lassen sich vier Gruppierungen von Staaten unterscheiden:

  • die koordinierenden Länder (zum Beispiel USA und Russland), die an fast allen Nonproliferationsregimen und an der Exportkontrolle teilnehmen;
  • die kooperierenden Staaten (zum Beispiel China), die an einigen Nonproliferationsregimen und an einem Teil der Exportkontrollen teilnehmen sowie die Absicht bekundet haben, in alle Regime einzusteigen bzw. in deren Rahmen zusammenzuarbeiten;
  • die sensiblen Länder (zum Beispiel Indien), die, obwohl sie über die gesetzlichen und organisatorischen Grundlagen für die Einführung des Exportkontrollsystems verfügen, gegenwärtig den Druck der koordinierenden Länder zur Einführung dieses Systems als Einmischung in ihre inneren Angelegenheiten betrachten; zurzeit stellen die sensiblen Länder keine direkte Gefahr für die Sicherheit der koordinierenden Staaten dar;
  • die bedrohenden Staaten (zum Beispiel Iran, früher auch Irak), die in den Besitz von Dual-Use-Technologien gelangen möchten, wobei sie gegen die vorhandenen Exportkontrollen verstoßen. Das gefährdet die Interessen der koordinierenden Staaten.

Die Politik der koordinierenden Länder im Handel, bei der Übergabe von Technologien und im Bereich der Exportkontrolle gegenüber den einzelnen Ländergruppen muss unterschiedlich angelegt werden. So kann die Exportpolitik der USA und Russlands gegenüber den anderen koordinierenden Ländern ohne Einschränkungen offen betrieben werden. Was die kooperierenden Länder betrifft, so muss diese Politik gewisse Vorbehalte und auch Elemente der Kontrolle enthalten. Gegenüber den sensiblen Ländern haben die USA und Russland harte Kontrollmethoden einzuführen und mehrere Bedingungen zu stellen. Gegenüber den bedrohenden Staaten müssen eine maximale Kontrolle und Embargos gelten. Gegenwärtig sind die USA der Ansicht, dass im letzteren Fall auch die Anwendung von militärischer Gewalt möglich wäre, selbst ohne Genehmigung des UN-Sicherheitsrats.

Die Politik der koordinierenden Länder muss darauf ausgerichtet sein, dass die kooperierenden, die sensiblen, vielleicht sogar die bedrohenden Staaten die Normen der Exportkontrolle übernehmen und akzeptieren. Dieses Konzept muss in den Vordergrund der Diskussion zu Format und Funktionieren der Exportkontrollregime gestellt werden, zu denen das Wassenaar-Abkommen1 gehört, das CoCom ersetzt hat. An diesen Abkommen nimmt auch Russland teil. Bei der Analyse der Motive, die einige Länder zur Beschaffung von Massenvernichtungswaffen anspornen, wird klar, dass sie häufig aus langjährigen regionalen Konflikten resultieren, die tiefe historische Wurzeln haben. Diese Motive sind in den Zonen traditioneller Regionalkonflikte besonders gut erkennbar: im Nahen Osten, in Südostasien, auf der Koreanischen Halbinsel. Deshalb wäre es sinnlos, die betreffenden Nuklearwaffenstaaten Indien, Pakistan und Israel aufzurufen, sich dem Atomwaffensperrvertrag anzuschließen. Auch Debatten über die Schaffung atomwaffenfreier Zonen würden kaum helfen. Atomwaffen sind keine Ursache, sondern eine Folge von Konflikten. Deshalb können Atombewaffnungsprobleme nur im Kontext einer umfassenden politischen Regelung in der -Region gelöst werden.

Ein markantes Beispiel für eine solche Regelung liefert der Süden Afrikas: Die Republik Südafrika verzichtete auf Atomwaffen, vernichtete bereits gebaute Systeme und trat dem Atomwaffensperrvertrag bei. Mit der politischen Regelung wurde auch im Nahen Osten begonnen. Dabei hat jede regionale Krise ihre Ursachen. Deshalb können für jede konkrete Region nur eigene spezifische Möglichkeiten zur Beilegung der Krise gefunden werden. Das Wichtigste ist, die Teilnehmer dieser Regionalkonflikte von der Notwendigkeit zu überzeugen, sich an den Verhandlungstisch zu setzen.

Besonders aufmerksam muss die riesige zentralasiatische Region behandelt werden, wo politische Instabilität und die erbärmliche Wirtschaftslage unter Einfluss oder mit Hilfe benachbarter Länder zum Nährboden für nationalreligiösen Fanatismus werden könnten. Die Entwicklung eigener Atom- und Raketenwaffen dieser Länder ist nicht ganz auszuschließen – insbesondere deshalb, weil die ehemaligen Sowjetrepubliken dieser Region über einzelne Elemente des Atomkreislaufs verfügen, so die Förderung und Anreicherung von Uran. In der Region gibt es nicht wenige Fachleute, die an der Entwicklung der sowjetischen Atomwaffen in verschiedenen Stadien beteiligt waren. Nach dem schlimmsten Szenario könnte die Kombination all dieser Faktoren eine qualitativ neue geostrategische Situation in der gesamten asiatischen Region – von Japan bis zum Mittelmeer – zur Folge haben. Hier liegen besonders ernsthafte Gefahren der potenziellen Ausbreitung von Massenvernichtungswaffen und Trägermitteln.

Abschreckung und Abwehrsysteme

Die Länder des Atom-Clubs haben bislang keine effektive Doktrin zur Unterbindung der Ausbreitung von Massenvernichtungswaffen, Raketen und Raketentechnologien geschaffen. Der Besitz nuklearer Arsenale durch fünf Länder konnte lokale bewaffnete Konflikte, bei denen auch Raketen eingesetzt wurden, nicht verhindern. Für regionale „Kräftezentren“ war es auch kein Hindernis, sich solche Raketen zu beschaffen, und diese sogar gegen die Raketen- und Atommächte einzusetzen, wie es zum Beispiel Irak während der Golf-Kriege tat. Zur Verhinderung der Ausbreitung ist der Einsatz von Abwehrsystemen, insbesondere der Kräfte der Luftverteidigung und der taktischen Raketenabwehr, nicht auszuschließen. Das betrifft Situationen, wo Raketen bereits vorhanden sind. Für solche Fälle entwickelt Russland taktische Fla-Komplexe des Typs S-300 und - S-400. Die USA arbeiten an mehreren Raketenabwehrsystemen – von der Modifizierung des Patriot-Systems bis hin zur Entwicklung luft- und seegestützter THAAD-Systeme (Terminal High Altitude Area Defense).

Systeme der Luftverteidigung und der Raketenabwehr könnten auch in dem hypothetischen Fall nützlich sein, dass dieses oder jenes Land seine Nachbarn mit Raketenangriffen bedroht und so Führungsansprüche in seiner Region erhebt. Ohne Abwehrsysteme kann der politische Wille der Großmächte, in diesen Situationen einzugreifen, lahmgelegt werden. Das Vorhandensein von Systemen zur Raketenabwehr, die das Potenzial regionaler Aggressoren neutralisieren, wird die politische Entschlossenheit fördern, den Aggressor zum Frieden zu zwingen.

Auch im Kontext einer politisch-diplomatischen Nichtverbreitungsstrategie könnten offensive (militärische) Maßnahmen als letztes Mittel der Nonproliferation unter Umständen notwendig sein, wenn sich alle anderen Mittel, einschließlich der lokalen Raketenabwehr, als ineffektiv erwiesen haben. Zu diesen Maßnahmen könnten gehören:

  • Präzisionsschläge zur Vernichtung von Raketenkomplexen und sonstigen Militärobjekten;
  • Verlegung von militärischen Einheiten, die über Atomwaffen verfügen, in diese Regionen, vor allem unter Einsatz see- und luftgestützter Träger;
  • Landeoperationen zur Neutralisierung der Angriffsfähigkeit von Abschussanlagen oder Produktionsstätten von MVW, Einsatz spezieller Aufklärungs- und Einsatzkräfte, die herkömmliche Präzisionswaffen zur Zerstörung unterirdischer Objekte verwenden können, aber auch andere Maßnahmen.

Entscheidend ist, dass jeder Militäreinsatz oder jede Gewaltanwendung zur Unterbindung der nuklearen Proliferation völkerrechtlich legitimiert und vom UN-Sicherheitsrat genehmigt wird. Diese Funktionen müssen sich dann künftig im Kompetenzbereich und unter dem Kommando der UN befinden.

Angesichts der Krise ist es dringend notwendig, eine integrierte langfristige Strategie der Nonproliferation zu erarbeiten, in der diplomatische, wirtschaftliche und sonstige Mittel gebündelt sind. Die Förderung globaler und regionaler Sicherheitsstrukturen, die Vervollkommnung des Zusammenwirkens von Aufklärungsdiensten, internationale Sicherheitsgarantien, aber auch die Planung militärischer Gewaltoperationen als äußerstes Mittel gelten als Hauptanliegen von heute. Es kommt darauf an, die Exportkontrolle zu verschärfen und für den Handel mit Ländern, die in den Besitz von Dual-Use-Technologien, etwa im Bereich der Kernenergie, gelangen wollen, die Bedingung zu stellen, jede mögliche militärische Verwendung kategorisch auszuschließen. Es gilt, das Regime der Kontrolle über die Nichtausbreitung von Raketentechnologien zu vervollkommnen und auch in diesem Bereich Inspektionen nach dem Vorbild der IAEO einzuführen. Militärische Operationen als universelle Methode zur Lösung von Nonproliferationsproblemen müssen jedoch verworfen werden. Diskussionen über einen möglichen Einsatz militärischer Stärke dürfen nicht im Pentagon, sondern müssen im UN-Sicherheitsrat geführt werden, der derartigen Aktivitäten die entsprechende völkerrechtliche Legitimität geben muss.

Bilaterale Zusammenarbeit

Die Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen und deren Trägermitteln ist ein allgemein anerkannter Bereich des Zusammenwirkens zwischen Russland und den USA. Jede der Seiten hat erkannt, dass sie nicht in der Lage ist, dieses Problem im Alleingang zu lösen. Sogar die Gegner der russisch-amerikanischen Partnerschaft sind gezwungen, zuzugeben, dass die Nichtverbreitung ein Gebiet der internationalen Politik darstellt, auf dem die nationalen Interessen Russlands und der USA praktisch vollständig übereinstimmen. Es liegt im Interesse Russlands, zusätzliche, mit den USA abgestimmte Bemühungen zu unternehmen, um die Stabilität des Nichtverbreitungsvertrags, der 1995 unbefristet verlängert wurde, zu sichern. Auch bei Maßnahmen gegen die Verbreitung müssen beide Seiten kooperieren.

Im Zentrum des bilateralen Zusammenwirkens steht natürlich die Diplomatie. Es geht dabei um die Festigung der Regime der Nichtverbreitung, um die Transformation des Regimes zur Kontrolle über die Raketentechnologien in eine effektive Organisation in der Art einer weltweiten Raketen-IAEO, um die Festigung des Regimes der Garantien der IAEO selbst, um die Stabilisierung des NPT-Regimes und die Wiederbelebung des Überprüfungsprozesses sowie die Schaffung eines Post-CoCom-Mechanismus und um vieles mehr.

Ein Sonderbereich der diplomatischen Kooperation ist die koordinierte Zusammenarbeit bei der Beilegung von regionalen Konflikten. Äußerst wichtig ist dabei die koordinierte individuelle Arbeit mit potenziellen „Verbreitern“ in der Region wie Nordkorea, Iran, Libyen, Pakistan, Israel, um nur einige Staaten zu nennen. Hier sollten Russland und die USA die Ausarbeitung eines abgestuften Regimes wirtschaftlicher, politischer und militärischer Sanktionen initiieren.

Was die US-Strategie der „Counterproliferation“ betrifft, die sich von der „klassischen“  Politik der Nichtverbreitung unterscheidet, so gibt es in dieser Frage zwischen Russland und den USA einige Meinungsverschiedenheiten. In erster Linie ist umstritten, wie effektiv diese Strategie in der heutigen Welt sein kann. In Russland ist man der Meinung, dass diese Strategie einige Stereotypen der amerikanischen Denkweise in der Zeit nach dem Kalten Krieg, die bereits festen Fuß gefasst haben, widerspiegelt: den Amerikano-Zentrismus; die Vorstellung, dass lediglich eine Supermacht in der Welt vorherrscht; das Streben, politische Probleme mit militärischen Mitteln zu lösen; die Abwertung der internationalen Diplomatie und der politischen Instrumente. All das müsste zum Gegenstand einer ernsthaften Diskussion zwischen den beiden Ländern werden.

Die Zusammenarbeit bei der Abschreckung von neuen Nuklearwaffenstaaten oder solchen, die schon in Kürze über MVW verfügen werden, könnte die Ausarbeitung entsprechender Szenarien sowie die Bestimmung des notwendigen Minimums an Kernwaffenkräften einschließen, die für ihre Realisierung notwendig sind. Gemeinsame Übungen auf diesem Gebiet und, sollte es notwendig sein, auch gemeinsame Kampfoperationen sollten in der Perspektive der Kooperation nicht ausgeschlossen werden. Aussichtsreich ist auch die Zusammenarbeit bei Systemen der taktischen Raketenabwehr. Auf diesem Gebiet finden schon gemeinsame Übungen statt. Schließlich sollten beide Seiten über die Zusammenarbeit bei Planung, Ausarbeitung und Durchführung von gemeinsamen Übungen und Operationen unter UN-Schirmherrschaft nachdenken.

Für ein globales Frühwarnsystem

Äußerst wichtig für die Koordinierung all dieser Bemühungen könnte die Schaffung eines globalen Frühwarnsystems und die Verifikation der Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen und deren Trägermitteln werden. Diese Aufgabe kann durch die Schaffung eines einheitlichen Systems der globalen Kontrolle mit Hilfe modernster Verifikationstechnologie über die Nichtverbreitung von Kernwaffen und deren Tests gelöst werden. Grundlage sollten in den USA und Russland schon bestehende automatisierte Systeme der Kontrolle über Kernwaffentests sein.

Es muss betont werden, dass heute nur die USA und Russland hinreichend entwickelte Netze haben, die rund um die Uhr den Erdball kontrollieren. Ihre Vereinigung zu einem globalen Netz – mit der Aufteilung der Beobachtungsregionen und dem operativen Informationsaustausch, der Vervollkommnung seiner technischen Grundlagen, der gegenseitigen Hilfe bei der Ausarbeitung der Software für Systeme, Apparaturen und andere kostspielige Baugruppen etc. – könnten zu einem starken Stabilisierungsfaktor mit großem Einfluss auf die internationalen Beziehungen werden. Hierin muss auch das Verifikationssystem integriert werden, das im Kontext des umfassenden Teststoppvertrags aufgebaut wird, vor allem wenn die Fähigkeiten anderer Industriestaaten einbezogen werden. Das Ergebnis einer derartigen Zusammenarbeit könnte die Schaffung eines kollektiven Systems der globalen Sicherheit sein. In letzter Konsequenz könnte ein System geschaffen werden, das die Sicherheit aller, darunter auch jener Länder gewährleistet, die an der Ausarbeitung des Systems nicht teilgenommen, aber die entsprechenden internationalen Abkommen unterzeichnet haben. Ein solches System könnte die bestehenden Gefahren der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen und deren Trägermitteln operativ und objektiv bewerten und realistische Entscheidungen für ihre international mandatierten Gegenmaßnahmen treffen.

Bei der Schaffung eines solchen internationalen Mechanismus könnten die schon bestehenden Organisationen eine Rolle spielen. Man sollte die UN-Schirmherrschaft nutzen und bei den Vereinten Nationen eine Datenbank und eine Internationale Agentur für die Kontrolle über die Nichtverbreitung als Sonderstruktur des UN-Sekretariats einrichten, die die IAEO aufnimmt und stärkt. Diese Agentur würde die Verletzer des Regimes der Nichtverbreitung ermitteln und mit Hilfe anderer internationaler Organisationen gesetzeswidrige Aktionen unterbinden.

Dr. SERGEJ KORTUNOW, geb. 1956, ist stellvertretender Vorsitzender des Gutachterrats des außenpolitischen Ausschusses des Föderationsrats der Russischen Föderation.