Für den Primat der Souveränität
Eine Entgegnung auf Stephen Krasners interventionistische Thesen
Äußere Eingriffe in die Souveränität von Staaten haben zugenommen. Sie sind ein Instrument im Krieg gegen den Terrorismus geworden. Die intellektuelle Konzeption dazu hat Stephen Krasner kürzlich auf den Seiten der IP entworfen. Dabei bleiben, so die Autorin, einige Probleme unberücksichtigt. Dieser Beitrag plädiert für ein sanfteres Modell der Demokratisierung, für eines, das auf die innere Entwicklung von Staaten setzt.
Stephen Krasners Konzept der geteilten Souveränität greift ein wichtiges Problem der heutigen Staatenwelt auf:1 Etliche Staaten haben de facto ihre innere Souveränität verloren, obwohl sie internationale Souveränität genießen, während zugleich die Eingriffsmöglichkeiten von außen begrenzt sind. Beides stellt uns vor erhebliche Herausforderungen. Krasners Modell erscheint auf den ersten Blick verlockend, weil es betroffenen Staaten Stabilität und – wie er anhand des internationalen Öl-Arrangements im Tschad gezeigt hat – womöglich auch ein gewisses Maß an Prosperität in Aussicht stellt.
Das Konzept der geteilten Souveränität entspricht überdies ganz dem Zeitgeist: Seit dem Ende des Ost-West-Konflikts und der Zunahme regionaler Konfliktherde befinden wir uns in einer Ära der externen Stabilisierung und externen Demokratisierung, was sich allein schon daran zeigt, dass zwischen 1948 und 1988 16 UN-Friedensmissionen beschlossen wurden, seit 1989 hingegen weit über 40. Externe Eingriffe in Staatswesen, völkerrechtskonforme wie völkerrechtswidrige, zählen zudem zum Instrumentarium des weltweiten Kampfes gegen den Terrorismus nach dem 11. September 2001. Das Modell von Krasner stellt eine logische konzeptionelle Entsprechung dieser Entwicklung dar. Meines Erachtens weisen dieses Modell der geteilten Souveränität und das dahinter stehende interventionistische Verständnis jedoch elementare Schwächen auf.
1. Vordergründige Stabilität
Krasners Konzept ordnet den Zustand des betroffenen Staates dem Primat einer schnellstmöglichen Stabilisierung unter. Die erreichte Stabilität hat jedoch ihre Schwächen, denn sie birgt die große Gefahr, lediglich vordergründig zu sein, da sie nicht aus dem Staat heraus gewachsen ist und nicht oder nur gering im Inneren des jeweiligen Staatswesens abgesichert ist. Falls geteilte Souveränität nur dann funktionieren soll, wenn eine „ausreichende Anzahl der einheimischen Akteure mit Einnahmen versorgt“ wird, dann handelt es sich doch letztlich nur um erkaufte Stabilität. Da das Modell der geteilten Souveränität ja gerade instabilen Staaten helfen soll, würde zudem eine vermutlich instabile, von kurzfristigen Interessen geleitete Regierung eine Entscheidung fällen, die das Land über lange Zeit bindet. Der Zwangs-charakter dieses Modells wird offenbar, wenn Krasner selbst davon ausgeht, dass die einheimischen Akteure in ihrer Entscheidung für die Teilung von Souveränität durch Habsucht, die Zwangslage einer Okkupation, Ausweglosigkeit und Wahlversprechen motiviert werden.
2. Fehlende Legitimität
Das Konzept der geteilten Souveränität weist wesentliche Schwächen in der Frage der Legitimität auf. Die Legitimität gilt als Unterbau eines politischen Systems, sie betrifft das Ausmaß ihrer Akzeptanz, ihre Stützung durch die Gesellschaft. Krasner schlägt nun ein Modell vor, in dem die Aufhebung von Souveränität – die eigentlich stets nur einen Ausnahmezustand darstellen sollte – zum Dauerzustand erklärt wird, indem Machtbereiche permanent dem Einfluss des Souveräns entzogen werden. Dadurch sind Politikfelder oder Machtbereiche dauerhaft aus dem Legitimationsprozess eines Staates ausgelagert. Das heißt, dass auch durch Wahlentscheidungen die Bürger nicht mehr über verschiedene Politikmodelle der betroffenen abgetretenen Politikbereiche entscheiden können. Insofern ist geteilte Souveränität nicht partizipativ ausgerichtet, obwohl es eine allgemein anerkannte Erkenntnis politischer Systemforschung ist, dass das Fehlen politischer Teilhabemöglichkeiten die Wahrscheinlichkeit von Politikverdrossenheit, von politischer Lethargie erhöht. Die notwendige Legitimität wird in diesem Modell einer vordergründigen Stabilität geopfert.
3. Geteilte Souveränität als Entwicklungshemmnis
Diese von außen motivierte Stabilität, bei der „ausländische Akteure große Bereiche der inneren Souveränität für unbegrenzte Zeit kontrollieren sollen“, ist zudem starr. Das vertragliche Arrangement der geteilten Souveränität kann nicht oder nur schwerfällig auf einen eventuellen staatlichen und gesellschaftlichen Reifungsprozess reagieren. Ein solcher Reifungsprozess ist jedoch gemeinhin Bestandteil von posttotalitären Transformationsstaaten, er kann prinzipiell jederzeit eine überraschende Dynamik entwickeln.
Mehr noch: Dieses Arrangement der geteilten Souveränität, in dem Verantwortung in bestimmten Staatsbereichen abgetreten werden soll, verhindert potenzielle Reifungsprozesse, da zur Reifung und zum Fortschritt auch stets Eigenverantwortung gehören. Die politischen Entwicklungen in den Staaten Mittel- und Osteuropas nach 1989 haben gezeigt, dass eine Art von „trial and error“ die Transformationsprozesse geprägt haben. Dort gab und gibt es instabile Parteiensysteme und Regierungskoalitionen. Zum politischen Reifungsprozess gehörte es, dass die Macht und Verantwortung maßgeblich bei jenen liegen, die per Wahl legitimiert sind, und nicht bei ungewählten externen Akteuren. Ohne dieses „learning by doing“ bleibt jede staatliche Transformation und jede weitere Demokratisierung, jede Entwicklung weg vom Zustand eines schwachen, scheiternden oder gescheiterten Staates grundsätzlich gehemmt.
Unklar bleibt in dem Modell überdies, was geschieht, wenn nach der externen Machtübernahme für eine „zeitlich unbegrenzte Periode“ die Interessen des Staates sich wandeln, er sich stabilisiert hat, aber die internationalen Akteure nicht von ihrer Souveränitätsteilhabe lassen wollen – vielleicht auch, weil sie selbst davon profitieren. Wird die geteilte Souveränität im Falle potenzieller gesellschaftlicher Reifung nicht die Entmündigung konservieren oder gar Problemlagen zementieren, die der betroffene Staat aus eigener Kraft hätte überwinden können, weil internationale Arrangements noch inflexibler sind als nationale Lösungen?
Es scheint überhaupt ein zentrales Manko der gesamten Euphorie über die externe Demokratisierung zu sein, dass die große Bedeutung innerer gesellschaftlicher Reifung als Voraussetzung nachhaltiger Stabilität nicht ausreichend erwogen wird. Wurde denn nichts aus der Beobachtung der erfolgreichen Demokratisierungen in Europa gelernt? Hat denn das Beispiel Mittel- und Osteuropas nicht gezeigt, dass der richtige Zeitpunkt einer Demokratisierung überaus entscheidend für ihren Erfolg ist?
Auf die Erkenntnisse, die sich aus diesen jüngeren Beispielen für Systemwechselprozesse und erfolgreiche Stabilisierungen und Demokratisierungen gewinnen lassen, wird bei den aktuellen Herausforderungen durch Failed States und Diktaturen viel zu selten zurückgegriffen. Die neuen EU-Mitglieder waren 1989 augenscheinlich reif für die Demokratisierung und haben sich deswegen stabil entwickelt. Die Ukraine musste hingegen auf ihre Demokratisierung noch eineinhalb Jahrzehnte warten, hat sich aber nun immerhin ohne Bürgerkrieg oder Spaltung des Landes, wie befürchtet worden war, auf diesen Weg begeben. Für Weißrussland ist die Zeit zur Demokratisierung leider noch nicht gekommen. Was würde hier eine externe Demokratisierung bewirken? Sie könnte wohl kaum unblutig verlaufen.
Auch die Erkenntnisse der Transformationstheorien legen einen größtmöglichen Schwerpunkt auf innere Prozesse. Beispielhaft sei hier eine Argumentation der Strukturtheorie angeführt, die eindeutig gegen die Idee der geteilten Souveränität spricht: Die Wahrscheinlichkeit einer Demokratisierung steigt, wenn relevante Machtressourcen sozial breit gestreut sind und nicht nur in den Händen einer kleinen Elitenklasse verbleiben. Die geteilte Souveränität will genau das Gegenteil, sie „beinhaltet die Beteiligung ausländischer Akteure an den inneren Machtstrukturen für einen unbegrenzten Zeitraum“, das bedeutet eine Ansiedlung von Machtressourcen sogar noch oberhalb der nationalen Eliten.
4. Okkupation und Verfassungsblockaden
Ein Motiv für die Entwicklung des Modells der geteilten Souveränität war für Krasner auch die Betrachtung von Defiziten in aktuellen Okkupa-tionsregimen. Okkupationen gehören inzwischen mehr und mehr zum selbstverständlichen Instrument der Weltpolitik – wie die Zunahme von Friedensmissionen zeigt oder amerikanische Überlegungen, wonach unilaterale externe Demokratisierung auch nach dem Irak-Krieg weiterhin Element der Außenpolitik sein wird2 – und gelten somit als probates Mittel von Nation Building und Demokratisierung. Bei aller Sinnhaftigkeit völkerrechtlich abgesicherter Okkupationen wird dabei derzeit zu wenig wahrgenommen, dass Okkupations-regime grundsätzlich verschiedene Funktionsdefizite aufweisen.
Ein Kennzeichen von Okkupationsregimen ist, dass sie nahezu immer zu einer militärischen Logik neigen und eine Dominanz des Militärischen auch dort aufweisen, wo diese zur Herrschaftssicherung nicht unbedingt notwendig wäre. Okkupationsregime haben zudem stets eine Tendenz zu autoritären Strukturen und sind ihrer Funktionslogik entsprechend kaum partizipativ ausgerichtet: Sie sind Herrschaftszustände, in denen die Teilhabe der Betroffenen nachrangig ist. Die Nutzung inklusiver Entscheidungsstrukturen, wie beispielsweise von „runden Tischen“ gemeinsam mit lokalen Akteuren, was sowohl die Legitimität als auch die Effektivität des Regimes erhöhen könnte, fällt ihnen schwer. Nicht selten hemmen Kompetenzkonkurrenzen zwischen militärischen und zivilen Strukturen ihr Agieren. Okkupationsregime und das Modell der geteilten Souveränität zeigen typische Schwächen interventionistischer Politik.3
Krasner zieht zudem sein Modell der geteilten Souveränität Verfassungsgebungsprozessen in Okkupationsregimen vor. Geteilte Souveränität sei „Erfolg versprechender als das Schreiben von Verfassungen, worauf bei den jüngsten Besatzungsregimen das Hauptaugenmerk gerichtet war“. Den Problemen extern motivierter Verfassungsgebungen in den aktuellen Besatzungsbeispielen Afghanistan und Irak das Modell der geteilten Souveränität als suggerierte Alternative gegenüberzustellen, ist nicht akzeptabel. Nicht die Verfassungsgebung an sich ist das Problem, sondern der Kontext, also der externe Druck, von dem Krasner selbst schreibt. Die Bedingungen der Verfassungsgebung in Okkupations- oder Postokkupationssituationen gilt es also zu ändern.
Die Tatsache, dass die Verfassungen unter Druck entstanden sind, diskreditiert nicht die Verfassungsgebung an sich, sondern ist ein Problem der nichtsouveränen Verfassungsgebungssituation, der fehlenden gesellschaftlichen Reife und des durch externe Akteure motivierten Zeitplans. Auch hier hilft wieder ein Blick auf die Staaten Mittel- und Osteuropas. Es hat sich gezeigt, dass Verfassungsgebungsprozesse in Systemwechselsituationen stets ein sensibler Kristallisationspunkt der Transformation sind. Selbst im vergleichsweise konsolidierten Polen – das immerhin bereits unter der kommunistischen Diktatur über eine vergleichsweise vitale Zivilgesellschaft verfügte – hat der Verfassungsgebungsprozess acht Jahre in Anspruch genommen. Ist vor diesem Hintergrund der hohe externe Druck auf die demokratieunerfahrenen, kriegsgeschädigten und überdies ethnisch stark diversifizierten Staaten Afghanistan und Irak, die sich nicht friedlich von innen heraus demokratisiert haben, nicht gerade eines der zentralen Probleme?
Die sanfte Alternative
Der im Krasnerschen Modell deutlich werdende grundsätzliche Souveränitätspessimismus und die fehlende Erwartung einer Entwicklungsfähigkeit der jeweiligen Staaten scheint angesichts erfolgreicher Beispiele von Demokratisierungen in den vergangenen 15 Jahren nicht angemessen. Warum versäumt Krasner zudem darauf hinzuweisen, dass das Ziel auch dieser Form von ausländischer Intervention die Befähigung zur Zurückerlangung der vollen Souveränität sein muss? Denn nur dieser Schritt kann die dauerhafte Legitimität eines Staates garantieren.
Was könnten also Alternativmodelle zum Konzept der geteilten Souveränität sein? Für das Ziel der Stabilisierung eines Staates sollte auch in der heutigen Weltlage die Strategie möglichst intensiver externer Unterstützung der jeweiligen Zivilgesellschaften und lokalen politischen Akteure im Vordergrund stehen. Diese Posi- tion steht im Einklang mit den kürzlich vorgebrachten Thesen von Ernst-Otto Czempiel: „Demokratisierung von außen kann nur heißen, die internen Demokratisierungstendenzen zu fördern und zu erleichtern.“4 Konkret schlägt Czempiel beispielsweise das Vorbild des Marshall-Plans im Nachkriegsdeutschland vor, der Finanzzuwendungen an Demokratisierungserfolge knüpfte. Czempiel verweist zudem auf die EU-Demokratisierungs- und Stabilisierungsstrategie der „unauffälligen Sozialisation“ potenzieller Demokraten, beispielsweise durch Journalistenausbildung in schwachen Staaten. Dieser Weg, die Reifung der Zivilgesellschaften in den Vordergrund zu stellen, ist langwierig und mühselig und bringt nur schrittweise Erfolge, ermöglicht jedoch Nachhaltigkeit.
Die Schwierigkeit der Wahl des geeigneten Mittels im Umgang mit schwachen oder zerfallenden Staaten, die in dieser Debatte offenbar wird, hängt wohl insgesamt von der jeweiligen normativen Grundentscheidung ab und dem jeweiligen Glauben an den Erfolg partizipativ ausgerichteter oder oktroyierender Strategien, sanfter oder interventionistischer Demokratisierung. Noch ist die Entscheidung nicht gefallen, welche Strategien die westliche Staatengemeinschaft im schwierigen Geschäft der Demokratisierung und Stabilisierung in den kommenden Jahren vorziehen wird.
1 Stephen Krasner: Alternativen zur Souveränität. Neue Institutionen für kollabierte und scheiternde Staaten, Internationale Politik (IP), September 2005, S. 44–53.
Internationale Politik 10, Oktober 2005, S. 86 - 90