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15. Febr. 2024

Fünf deutsche Illusionen

Mit dem russischen Überfall auf die Ukraine hat sich für die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik einiges geändert. Aber in vielen, oft grundsätzlichen Fragen fällt Berlin der Abschied von alten Gewissheiten schwer: fünf Beispiele.

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Bild: Annalena Baerbock mit Benjamin Netanjahu
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Der russische Angriff auf die Ukraine am 24. Februar 2022 hat einige Grundannahmen der deutschen Politik erschüttert. Bundeskanzler Olaf Scholz sprach drei Tage später von einer Zeitenwende, die der russische Präsident Wladimir Putin ausgelöst habe. Seither wird diskutiert, ob Deutschland die richtigen Schlüsse aus dieser Zeitenwende gezogen hat.

Dabei wurde vor allem auf die Russland- und Vertidigungspolitik geschaut.

Aber die Diskussion ist verengt. Denn spätestens die brutale Hamas-Attacke auf Israel am 7. Oktober 2023 zeigt, dass es in der deutschen Nachkriegsdiplomatie eine ganze Reihe weiterer Positionen gibt, die grundlegend neu gedacht werden müssen, weil sich die Welt dramatisch geändert hat. Ein Überblick über fünf dieser Positionen.

1. Der Preis für die Solidarität mit Israel

Die deutsche Politik entschied nach dem Hamas-Überfall mit mehr als 1400 Toten am 7. Oktober sehr schnell, dem jüdischen Staat die uneingeschränkte Solidarität zu versichern. Gemäß des von Bundeskanzlerin Angela Merkel geprägten Satzes, dass Israels Sicherheit Teil der deutschen Staatsräson sei, stellten sich Kanzler Olaf Scholz und Außenministerin Annalena Baerbock eng an die Seite der israelischen Regierung und betonten, dass Israel jedes Recht auf Selbstverteidigung gegen die Hamas habe. 

Noch stärker als in dem Russland-Ukraine-Konflikt bekam die deutsche Politik allerdings zu spüren, dass der Blick auf den Nahost-Konflikt in weiten Teilen der Welt ganz anders ausfällt als der aus Deutschland. Es kam zu einem echten Zielkonflikt, der weiterhin besteht: Die Solidarität mit Israel kollidiert mit einem außenpolitischen Ziel, das Scholz in seiner bisherigen Amtszeit als strategisch wichtig erklärt hat: dem Werben um die erstarkenden Länder auf der Südhalbkugel.

Dabei gibt es schon seit Jahren eine historisch bedingte Verengung der deutschen Israel-Politik. Die uneingeschränkte Unterstützung ist zwar wegen der deutschen Verantwortung für den Holocaust und die daraus resultierende selbst gesetzte Pflicht zur Verteidigung Israels verständlich. Sie sollte auch ein Beweis Deutschlands sein, aus der Ungeheuerlichkeit der Massenmorde an Juden in Europa für immer gelernt zu haben. 

Aber die Haltung bewirkte, dass die deutsche Außenpolitik auf einem Auge bewusst blind sein wollte: Die fortgesetzte Siedlungspolitik Israels in den besetzten Gebieten und die Schaffung unterschiedlicher Rechtsstandards in Israel selbst und in den besetzten palästinensischen Gebieten wurden und werden zwar immer wieder kritisiert. Aber Israel konnte sich darauf verlassen, dass Deutschland in der EU der Garant gegen die Verhängung von Sanktionen war. 

Erst die umstrittene Justizreform der nationalistisch-konservativen Regierung Netanjahus veränderte die deutsche Haltung etwas. Im Frühjahr 2023 betonte Scholz mehrfach, dass es neben dem Holocaust noch einen weiteren Grund gibt, warum Deutschland an der Seite des jüdischen Staates steht: Israel sei Wertepartner und die einzige liberale Demokratie in der Region. Es schwang die Mahnung mit, dass zumindest diese Begründung für die deutsche Hilfe gefährdet wäre, wenn die Regierung Israel in Richtung eines autoritären Staates entwickeln sollte. 

Die Brutalität des Hamas-Überfalls auf Israel beendete jede Differenzierung in der Debatte über den richtigen Umgang mit Israel jedoch. Erst als die US-Regierung angesichts des andauernden Krieges im Gazastreifen und immer mehr Toten sowie des Geschehens auch im Westjordanland Sanktionen gegen radikale jüdische Siedler verhängte, ging die Bundesregierung einen Schritt weiter: Erstmals akzeptierte sie mögliche EU-Sanktionen im Zusammenhang mit dem brutalen Vorgehen jüdischer Siedler im Westjordanland gegen die palästinensische Bevölkerung. Die Mahnungen gerade von Außenministerin Baerbock Richtung israelische Regierung wurden zudem immer eindringlicher. „Eine Offensive der israelischen Armee auf Rafah wäre eine humanitäre Katastrophe mit Ansage“, schrieb sie am 11. Februar 2024 auf X. 

Dies ändert allerdings nichts daran, dass Deutschland von vielen Entwicklungs- und Schwellenländern Doppelmoral vorgeworfen wird. Ausgerechnet eine gegenüber vielen Staaten stets legalistisch argumentierende und mahnende Bundesregierung weigert sich, bei Völkerrechtsverletzungen Israels Konsequenzen zu ziehen. Zwar haben arabische Staaten wegen des Holocausts immer ein gewisses Verständnis für die Unterstützung Israels durch die Bundesrepublik gehabt – Deutschland hat im Gegenzug die Palästinenser sehr stark finanziell unterstützt –, aber seit Israel militärisch hart im Gazastreifen vorgeht, gehört der verständnisvolle Blick auf die deutsche Doppelmoral der Vergangenheit an.

Dazu trägt auch bei, dass das Argument der Bundesregierung, die israelische Regierung habe gerade wegen der großen Solidarität ein offenes Ohr für deutsche Bedenken, nicht mehr zieht: Denn weit reicht der deutsche, übrigens auch der amerikanische, Einfluss hinter den Kulissen offenbar nicht. Die israelischen Angriffe im Gazastreifen gegen die Hamas nahmen trotz der internationalen Mahnungen an Heftigkeit nicht ab, die humanitäre Versorgung der Palästinenser erreichte nicht das notwendige Niveau. Ministerpräsident Benjamin Netanjahu machte im Januar 2024 öffentlich klar, dass er die von den USA und Deutschland ausdrücklich geforderte Zweistaatenlösung ablehnt. 

„Deutschland sollte das allerletzte Land sein, das Israel seine Freundschaft und Solidarität aufkündigt“, hatte der damalige Bundespräsident Joachim Gauck zwar 2012 gefordert. Aber bei aller nötigen Solidarität mit Israel sieht sich die Bundesregierung heute der Frage ausgesetzt, ob Deutschland nicht mit dazu beigetragen hat, dass die offiziell immer wieder geforderte Zweistaatenlösung von Monat zu Monat unwahrscheinlicher wird. Denn mit ihrer Siedlungspolitik sorgten Israels Regierungen dafür, dass mittlerweile mehr als 500.000 jüdische Siedler in den besetzten palästinensischen Gebieten leben. 

Deshalb stellen sich heute zumindest drei Fragen: Wie bedingungslos soll deutsche Hilfe für Israel eigentlich sein? Kann die historische Verantwortung für Israel vollkommen von rechtsstaatlichen Entwicklungen in dem jüdischen Staat getrennt werden? Und mit Blick auf die Welt: Welchen Preis ist Deutschland bereit, für diesen Sonderweg zu zahlen?

2. Der Glaube an die Wirkung von Sanktionen

Gerade weil die Deutschen seit Jahrzehnten und historisch bedingt den Einsatz militärischer Gewalt scheuen, plädierten wechselnde Bundesregierungen im Konfliktfall stets für wirtschaftliche Sanktionen in der Auseinandersetzung mit anderen Staaten. Bei einer der größten Exportnationen der Welt mag es auf der Hand liegen, dass sie wirtschaftliche Bestrafungen als scharfe Waffe ansieht. Allerdings hat sich über die Jahrzehnte gezeigt, dass Sanktionen oft nur sehr begrenzten Nutzen haben: Sie haben weder Nordkorea am Bau von Atomwaffen noch den Iran von der Produktion ballistischer Raketen mit großer Reichweite gehindert.

Die Sanktionspolitik krankt zudem daran, dass sie gegenüber großen Staaten gar nicht zum Einsatz kommt oder wenig effektiv ist. Indien und Pakistan mussten etwa keine Konsequenzen wegen ihrer atomaren Bewaffnung befürchten. Auch der Fall Russland zeigt die Problematik: Die westlichen Sanktionen gegen die Atommacht haben trotz gegenteiliger Beteuerungen der Bundesregierung ihr Ziel bis heute nicht erreicht. Sie sollten eigentlich verhindern, dass Russland einen langen Krieg gegen die Ukraine führen kann, und Putins Kriegskasse austrocknen. Aber nun zeigt sich, dass Russlands Wirtschaft keineswegs zusammengebrochen ist, sondern sogar wieder wächst. 

Der Grund: In einer veränderten Welt 2024 sind die westlichen G7- und EU-Staaten schlicht nicht mehr dominant genug, um den Kurs weltweit zu bestimmen. Russland mag auf bestimmte westliche Produkte verzichten müssen: Aber China als größte Handelsnation steht bereit, fast alles zu liefern und den Russen das Gefühl zu vermitteln, dass ihr Land trotz des Überfalls auf einen Nachbarn nicht isoliert ist.

Dazu kommt die offensichtlich erfolgreiche Bemühung Russlands, Sanktionen zu umgehen. Von den sprunghaft gestiegenen deutschen Exporten in die zentralasiatischen Länder dürfte zumindest ein Teil nach Russland gehen. Die Bundesregierung steht ebenso wie die anderen EU-Staaten vor der Frage, ob sie nach dem Zusammenbruch der Wirtschaftskontakte zu Russland nun auch die mit den zentralasiatischen Republiken und der Türkei beschränken soll. 

Einzelne EU-Staaten haben von Anfang an dafür gesorgt, dass die selbst benötigten Produkte aus Russland nicht sanktioniert werden; dazu zählt noch heute Uran. Und der westliche Boykott gegen russisches Öl und Gas läuft weitgehend ins Leere, weil China und Indien seit dem russischen Überfall auf die Ukraine ihre Rohstoffimporte aus Russland drastisch erhöht haben. 

Nun bedeutet dies nicht, dass Sanktionen gar keine Wirkung haben oder komplett sinnlos sind. Russland muss tatsächlich auf einen Teil der Einnahmen verzichten, weil etwa China und Indien nur mit Abschlägen in Russland einkaufen. Aber das Vertrauen darauf, dass Wirtschaftssanktionen ein Allheilmittel gegen missliebige und das Völkerrecht verletzende Staaten sind, ist mittlerweile auch in Teilen der Bundesregierung verflogen. Sanktionen erscheinen in Demokratien vielmehr als Mittel, um wie im Falle der Ukraine einer schockierten Bevölkerung das Gefühl zu geben, dass die Politik handelt – gerade wenn sie nicht willens oder in der Lage ist, zu drastischeren Mitteln zu greifen.

3. Die naiven friedlichen Deutschen

Obwohl die Bundeswehr in der Bundesrepublik bereits 1955 gegründet wurde, entwickelte sich erst in den 1980er Jahren eine Diskussion über eine neue Rolle, die nicht ausschließlich auf die Territorialverteidigung im Falle eines sowjetischen Angriffs ausgerichtet war. Nach dem Mauerfall endete schließlich die Zeit, in der sich die wirtschaftlich erstarkte Bundesrepublik mit einer Scheckbuch-Politik aus der Teilnahme an militärischen Konflikten „herauskaufen“ konnte. 

Die westlichen Partner mahnten immer lauter, dass der Verweis auf die geschichtliche Last der NS-Zeit nicht ewig als Begründung dafür herhalten könne, auf eine angeblich notwendige militärische Zurückhaltung zu pochen und anderen Staaten gefährliche Militäreinsätze zu überlassen, die auch im deutschen Interesse stattfanden. Schritt für Schritt gab es eine „Normalisierung“ der deutschen Sicherheitspolitik, bei der die Bundeswehr zumindest mit „robusten“ Mandaten in Auslandseinsätze geschickt wurde. Heute liefert Deutschland in großem Umfang Waffen in das Nicht-NATO-Land Ukraine und stationiert Soldaten im Baltikum.

Doch die vergangenen Jahre haben gezeigt, dass Deutschland den mentalen Sprung immer noch nicht geschafft hat, sich von der Hoffnung auf eine „Friedensdividende“ nach dem Ende des Kalten Krieges zu verabschieden. Es fehlt das Bewusstsein oder der Glaube, dass militärische Stärke wirklich Sicherheit schafft. So dauerte es beispielsweise Jahre, bis SPD und Grüne die Anschaffung bewaffneter Drohnen akzeptierten. 

Erst der russische Überfall auf die Ukraine ermöglichte Bundeskanzler Scholz 2022, gegen frühere Vorbehalte der SPD-Linken, der Grünen und einer vor allem auf die Verschuldung achtenden FDP eine 100-Milliarden-Euro-Sonderkreditlinie für die Bundeswehr durchzudrücken – zusammen mit der CDU/CSU, für die die angemessene Ausstattung der Bundeswehr zuvor in ihrer Regierungszeit bis 2021 auch keine Priorität gewesen war. Die dauerhafte Anhebung des Wehretats auf die Selbstverpflichtung der NATO-Staaten, 2 oder mehr Prozent der Wirtschaftsleistung für Verteidigung auszugeben, ist noch immer ein Politikum, was schon die Haushaltsaufstellung für 2025 und die mittelfristige Finanzplanung zeigen werden. 

Erst Russlands Überfall auf die Ukraine weckte die deutsche Politik aus einem anderen Tiefschlaf: Die Akteure merkten plötzlich, dass eine einsatzbereite Bundeswehr auch eine in größerem Maßstab leistungsfähige Rüstungsindustrie benötigt. In der öffentlichen Debatte stand bis dahin eher die Begrenzung etwa der Rüstungsexporte im Vordergrund. In der Wissenschaft wurde strikt zwischen (guter) ziviler und (schlechter) militärischer Forschung unterschieden. Mit Russlands Angriff auf die Ukraine aber steht Europa wie im Kalten Krieg vor einer existenziellen Herausforderung. Die angeblich fortschrittliche deutsche Aversion gegen Militär wirkt heute eher naiv.   

Und der 5. November 2024 könnte mit einem Sieg von Donald Trump bei den US-Präsidentschaftswahlen einen weiteren Schock auslösen. Schon jetzt hat der denkbare Entzug des atomaren Schutzschirms der USA eine intensivere Debatte darüber ausgelöst, was jahrzehntelang ein Tabu war: Soll Deutschland sich an einer Europäisierung etwa der französischen Atomwaffen beteiligen?

Dazu kommt ein mentales Problem, wenn es um das Verhältnis zu den deutschen Geheimdiensten geht. Lange herrschte vor allem bei Grünen und der FDP ein Grundmisstrauen gegenüber den Diensten. Auch hier sorgten erst der russische Angriff und die wachsende Sorge vor China für ein langsames Umdenken. Die Schutzfunktion der Geheimdienste erscheint plötzlich wichtiger als das Pochen auf allumfassenden Datenschutz oder vermeintliche Einschränkungen von Bürgerrechten. Dennoch sind Bundesnachrichtendienst und Verfassungsschutz noch weit von der Schlagkraft, den Kompetenzen und vor allem der Akzeptanz in der Gesellschaft entfernt, die andere westliche Geheimdienste haben – und die sie in einer Zeitenwende-Welt haben sollten. 

4. Die Mär von unverbrüchlichen Freundschaften

Über Jahrzehnte setzten Bundesregierungen auf zwei unerschütterliche Grundüberzeugungen: Die USA sind der Sicherheitsgarant Deutschlands. Die EU ist die einzige Möglichkeit, damit Deutschland und seine europäischen Nachbarn in der veränderten Welt des 21. Jahrhunderts noch ein Machtfaktor sein werden und in Frieden und Wohlstand leben können. Basis dafür ist wiederum die deutsch-französische Freundschaft. Nach drei schrecklichen Kriegen der früheren „Erzfeinde“ ist dies eine verständliche und richtige Haltung: Frankreich und die USA sind die stärksten und wichtigsten deutschen Partner. 

Doch spätestens seit der französischen Präsidentschaftswahl 2022 und der amerikanischen Präsidentschaftswahl 2016 ist klar: Die frühere Gewissheit unverbrüchlicher Freundschaften gibt es nicht mehr. In den USA versetzte der damalige Präsident Trump die Europäer mit dem Gedanken in Angst und Schrecken, die NATO sei „obsolet“. Zugleich schürte er Ängste, dass er an den demokratischen Grundlagen der USA rütteln könnte. Nun könnte Trump Anfang 2025 wieder an die Macht kommen.

Und Frankreich steht 2027 vor sehr schwierigen Präsidentschaftswahlen, bei denen nach dem Abgang von Emmanuel Macron auch Marine Le Pen vom rechtsradikalen Rassemblement National ein Sieg zugetraut wird. Dies muss nicht so kommen. Aber die deutsch-französische Achse könnte von einem Tag auf den anderen zerbrechen, wenn in Paris eine rechtsnationalistische Regierung an die Macht kommt. Für dieses Szenario gibt es keine echte Strategie. Es regiert das Prinzip Hoffnung, dass es schon nicht so schlimm kommen wird – wie vor der ersten Wahl Trumps.

In beiden Fällen muss sich die deutsche Politik fragen lassen, ob sie nicht dazu beigetragen hat, dass solche Entwicklungen fatale Folgen haben könnten. Im Fall der USA vertrauen die Deutschen bis heute darauf, dass die Supermacht USA gigantische Summen für ihren Verteidigungsapparat ausgibt, woraus sich auch ein Schutzraum für Deutschland ergibt. Trump aber stellt die durchaus berechtigte Frage, wieso auch in Deutschland immer weiter über neue innen- und sozialpolitische Träume diskutiert wird, während amerikanische Steuerzahler bei dieser für sie teuren Arbeitsteilung für die Sicherheit zuständig sein sollen. Im Fall Frankreichs stellt sich die Frage, ob das Beharren auf eine sehr strikte deutsche Finanzpolitik nicht eine tiefere Integration gerade in der Eurozone verhindert hat, die einen Bruch selbst für Rechtspopulisten auf beiden Seiten unmöglich machen würde.

Dazu kommt ein zweiter Irrglaube in der deutschen Politik: Gerade in den beiden vergangenen Jahren wurde so getan, als ob es ausreichen würde, sich von autoritären Regierungen unabhängiger zu machen. Das hat die Debatte über den Risikoabbau im China-Geschäft forciert. Dass auch westliche Wertepartner nationale Politik gegen deutsche Interessen betreiben können, wurde dagegen weniger diskutiert – zumal in Washington der Deutschland-Freund Joe Biden regiert. 

Erst Bidens gigantisches Subventionsprogramm („Inflation Reduction Act“) für klimafreundliche Technologien und die Umlenkung von Investitionen aus Europa Richtung USA erinnerte daran, wie hart eine Konkurrenz auch mit den engsten Partnern sein kann. Dabei ist die naive Überraschung darüber, dass US-Geheimdienste auch eine deutsche Kanzlerin abhörten, noch gar nicht lange her. Es geriet in Vergessenheit, dass der beste Schutz gegen unerwünschte politische Entwicklungen nicht nur in einer tieferen Kooperation mit den allerbesten Freunden liegt, sondern auch im Streben nach eigener technologischer, wirtschaftlicher und militärischer Stärke. 

 5. Der ewige Traum von der EU-Erweiterung

Ein Mantra von Kanzler Scholz ist seit Amtsantritt, den Beitrittsprozess mit den sechs Westbalkanstaaten in die EU entschiedener voranzutreiben oder gar abzuschließen – mehr als 20 Jahre nach dessen Beginn. Aber trotz energischer Worte und etlicher Sondergipfel muss man sich fragen, ob die Deutschen nicht auch hier einer Illusion erliegen: Wie realistisch ist die Aufnahme neuer EU-Mitglieder wirklich, auch wenn sie geopolitisch für Europa dringend notwendig wäre? Die Kluft zwischen Versprechen und Plänen sowie der Realität droht jedenfalls eher größer als kleiner zu werden. 

Denn es hat einen Grund, warum es jahrelang nur wenige Fortschritte mit den Westbalkanstaaten gab. In der Region schwelt beispielsweise das ungelöste Problem zwischen Serbien und dessen ehemaliger Provinz Kosovo. Dort entladen sich immer wieder nationalistische Spannungen. Aber auch in der EU gibt es Blockaden. Einige EU-Mitglieder haben den Beitrittskandidaten Kosovo noch nicht einmal als eigenständigen Staat anerkannt. 

Zudem haben Frankreich, die Niederlande, Dänemark, Spanien, Bulgarien oder Griechenland aus völlig unterschiedlichen innenpolitischen Gründen Vorbehalte gegen Fortschritte mit dem ein oder anderen Westbalkanland vorgebracht. Das Erstarken rechtspopulistischer und nationalistischer Gruppen sorgt in vielen EU-Staaten dafür, dass der Beitrittsprozess nicht etwa beschleunigt, sondern verlangsamt werden könnte. Und solange die EU nur einstimmig über das Öffnen und Schließen jedes einzelnen Beitrittskapitels entscheiden kann, bleibt die Vetomöglichkeit der EU-Mitglieder in jeder Phase der Beitrittsgespräche bestehen. Am Ende wartet dann noch ein Ratifizierungsverfahren über die Beitritte in jedem der 27 EU-Mitgliedstaaten. 

Ironischerweise hat die EU aber ungeachtet dieser Probleme ihre Ambitionen noch vergrößert: Erst im Dezember beschlossen die 27 EU-Regierungen, dass nun auch noch Beitrittsgespräche mit der Ukraine und der Republik Moldau eröffnet werden, perspektivisch sogar mit Georgien. Das ist angesichts der gewünschten Solidarität mit den von Russland angegriffenen oder bedrohten Staaten politisch verständlich. Aber die Entscheidung könnte in den kommenden Jahren für eine Menge Frust sorgen – wie früher beim ewigen Beitrittskandidaten Türkei, dem etwas versprochen wurde, was nie einzuhalten war.  

Heute gelten die Zweifel vor allem für die Ukraine. Politisch und psychologisch war es verständlich, dem kriegsgebeutelten Land angesichts der schwierigen militärischen Lage zumindest einen Weg in die EU zu ebnen, um Ukrainerinnen und Ukrainern zu zeigen, dass sie als Teil der europäischen Gemeinschaft willkommen sind. 

Aber zum einen können Länder mit ungelösten Territorialkonflikten ohnehin nicht beitreten. Und zum andern hat man bisher elegant die Frage umschifft, wer eigentlich für einen EU-Beitritt der Ukraine zahlen soll: Bleibt es bei der bisherigen EU-Agrarstrukturpolitik, würde die Ukraine nach einer Aufnahme einen erheblichen Teil des Geldes absaugen, das bisher für andere osteuropäische Staaten wie Polen vorgesehen ist. Unterhalb der Solidaritätsbekundungen für die Ukraine zeigen sich Probleme schon jetzt, wenn etwa polnische oder slowakische Bauern gegen die neue Konkurrenz auf dem EU-Agrarmarkt protestieren. Deshalb ist das Ziel einer EU-Erweiterung nicht falsch. Aber die genährten Erwartungen schneller Beitritte bleiben eine Illusion.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik, online exklusiv, 15. Februar 2024

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Dr. Andreas Rinke ist Chefkorrespondent der Nachrichtenagentur Reuters in Berlin.

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