Frieden schaffen mit deutschen Waffen
Deutschland liefert erstmals Waffen in ein Konfliktgebiet. Doch die Ziele bleiben unklar. Dabei könnte Berlin den Kriegsverlauf entscheidend beeinflussen.
Nun? Dann werden wir eben kämpfen!“ Mit diesen Worten begrüßt der ukrainische Präsident Wolodymyr Selensky den Sekretär des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrats Oleksij Danilow, als dieser in der Nacht vom 23. auf den 24. Februar 2022 eilig in den Amtssitz stürmt. Der russische Präsident Wladimir Putin hat soeben im Fernsehen in einer langen historischen Vorlesung der UUkraine den Krieg erklärt, auch wenn er dabei von einer „militärischen Spezialoperation“ spricht.
Die Videoüberwachung der Grenzübergänge zeigt Selensky und Danilow, dass russische Kampfpanzer, Schützenpanzer und Lastkraftwagen nur 150 Kilometer nördlich der Hauptstadt auf ukrainisches Territorium vorrollen. Marschflugkörper schlagen am linken Ufer des Dnipro in Sichtweite des Kiewer Stadtzentrums ein. Danilow weist den Präsidenten dringlich auf die vorbereiteten, führungsfähigen Bunker und Gefechtsstände außerhalb Kiews hin, doch Selensky weist ihn an, keine Zeit für eine unnütze Diskussion zu verschwenden. Vielmehr solle er schleunigst an die Arbeit gehen und alle Kräfte für die Verteidigung aufbieten.
In diesen ersten dramatischen Stunden entschied Selensky, dass er sich dem beispiellosen russischen Großangriff direkt entgegenstellen würde. Und fast alle Ukrainerinnen und Ukrainer entschieden sich in diesen Stunden so wie er. Putins erklärter Versuch des Auslöschens der Ukraine als Staat und der Vernichtung der ukrainischen Nation trifft seitdem auf geschlossenen und erbitterten Widerstand, weit über die ukrainischen Streitkräfte hinaus. Vom Präsidenten, der seinen Amtssitz in Kiew nicht verließ, über die Männer und Frauen, die unter der Führung ihrer Bürgermeister und Gouverneure in Kiew, Tschernihiw, Sumy und Charkiw standfest auf ihren Posten blieben, und die Unzähligen, die sich sofort in die langen Schlangen einreihten, um freiwillig der Territorialverteidigung beizutreten, bis hin zur Großmutter, die mit der Einkaufstasche in der Hand russische Soldaten dazu aufrief, die Ukraine schleunigst wieder zu verlassen und ihnen schließlich grimmig Sonnenblumenkerne schenkte, entschied sich die ukrainische Gesellschaft dafür, zu bleiben und wenn nötig bis zum Ende zu kämpfen.
„Wir können leider nichts tun“
Während am Dnipro und überall im Land ab den frühen Morgenstunden des 24. Februar 2022 die gesamtgesellschaftliche Verteidigung anläuft, schreibt man in Berlin die Ukraine bereits ab. Der Tenor vieler erschrockener und hilfloser Statements ist: „Schrecklich, schlimm, aber wir können leider nichts tun.“ „Russland wird die Ukraine überrennen.“ „Die Ukraine ist nicht in der NATO, da können wir nicht helfen.“ „Es ist furchtbar, aber wir müssen dann sehen, wie wir mit Russland klarkommen, wenn die Ukraine weg ist.“
Offenkundig beraten durch Briefings der zuständigen Dienste und militärischer Experten, die vor allem aufgrund von Analysen der Militärpotenziale eine dramatische russische Überlegenheit diagnostizieren, gelangt das politische Berlin zu der einhelligen Auffassung, dass die Ukraine verloren sei. Daraus folgt logisch, dass Waffenlieferungen nichts mehr nützen würden und eine Debatte darüber sich daher erübrige. Die Vorstellungskraft, dass man erst ganz am Anfang eines langen Krieges stehen könnte, fehlt völlig. Fast kann man den Eindruck gewinnen, Berlin wolle den Angriffskrieg zwar rhetorisch scharf verurteilen, aber letztlich achselzuckend hinnehmen, um möglichst rasch wieder zu einer Form der Normalität zurückzukehren.
In den folgenden Stunden und Tagen brechen die schrecklichen Bilder und Videos der Realität des Krieges, die menschenfeindliche Brutalität Russlands und der mutige Widerstand der Ukrainerinnen und Ukrainer mit voller Wucht über die deutschen Mobiltelefone und Wohnzimmer herein. Angeführt von den Vereinigten Staaten, dem Vereinigten Königreich und den Staaten Mittel- und Osteuropas beginnen globale Unterstützung und massive Waffenlieferungen für die Ukraine. Die Bundesregierung findet sich isoliert und steht plötzlich unter beispiellosem öffentlichem und internationalem Druck. Die eingenommene Position erweist sich als unhaltbar. In einer dramatischen Wende ruft der Bundeskanzler am 27. Februar die Zeitenwende aus und entscheidet dabei, dass auch Deutschland ab jetzt Waffen an die Ukraine liefern wird.
Die ersten Wochen des Krieges werden vom Widerstand der grenznahen Städte Tschernihiw, Sumy, Charkiw und den Schlachten in Vororten Kiews geprägt. Schnell zeigt sich, dass die russischen militärischen Planungen auf fehlerhaften Annahmen beruhen. Vor allem Rolle und Engagement der Gesellschaft bleiben für Putin und seine Helfer ein blinder Fleck. Im nihilistischen Weltbild der Tschekisten und sowjetisch geprägten Militärs kommen intrinsische Motivation und selbstbewusste, resiliente Bürgerinnen und Bürger nicht vor. Die russische Führung und die russischen Soldaten sind auf die gesamtgesellschaftliche Verteidigung der Ukraine überhaupt nicht vorbereitet.
Die ukrainischen Streitkräfte wirken hingegen gut ausgebildet, motiviert und organisiert. Nach extrem kritischen Situationen zu Beginn des Krieges, bei der die Ukraine Luftlande- und Kommandooperationen abwehrt, die direkt die Einnahme Kiews und Enthauptungsschläge gegen die ukrainische Führung zum Ziel haben, stellen die ukrainischen Streitkräfte die russischen Truppen vor Kiew schnell vor erhebliche Probleme, während Tschernihiw, Sumy und Charkiw weiter standhalten. Russland erleidet hohe Verluste.
Waffenlieferungen der Partner und Käufe moderner Waffen beeinflussen den Kriegsverlauf erkennbar zugunsten der Ukraine. Neben Aufklärungsergebnissen und Daten sind es in den ersten Kriegswochen vor allem die türkischen Bayraktar-TB2-Drohnen, mobile Panzerabwehrwaffen wie Javelin und NLAW sowie mobile Flugabwehrwaffen wie Stinger-Raketen, die die Ukraine in die Lage versetzen, im Jagdkampf den russischen Fahrzeugen, Schützen- und Kampfpanzern zuzusetzen. Gleichzeitig verlangsamt die Ukraine den russischen Vormarsch mit mobiler Verteidigung und Artillerie systematisch, geduldig und geschickt. Ganze russische Kolonnen werden spektakulär vernichtet.
Das moderne dezentrale Führungskonzept der ukrainischen Streitkräfte mit Auftragstaktik und viel Freiraum für Kommandeure erweist sich in der Verteidigung als überlegen gegenüber der starren hierarchischen russischen Führung in sowjetischer Tradition. Die Ukrainer schalten Führungs- und Kommunikationseinrichtungen, Treibstoffnachschub und Munitionslogistik des Gegners aus. Russland verliert den Kampf um Kiew.
Deutschland liefert in diesen Wochen tröpfelnd vor allem alte Strela-Raketen, Panzerfäuste, Panzerabwehrminen, Stinger, Fliegerfäuste, Maschinengewehre und Munition – im Vergleich zu den internationalen Partnern spät und im Verhältnis zu Deutschlands Größe und wirtschaftlicher Stärke wenig. Dennoch leistet die Bundesrepublik wertvolle Beiträge, die der Ukraine in dieser Phase des Krieges dabei helfen, Russland zu schlagen.
Gleichzeitig ist bereits klar, dass aufgrund der drastischen ukrainischen Unterlegenheit bei Artillerie, Kampfpanzern und gepanzerten Fahrzeugen für den weiteren Kriegsverlauf andere Waffen gebraucht werden, vor allem sogenannte „schwere“ Waffen. Aufgrund notwendiger Vorläufe für Ausbildung und Logistik müssen Entscheidungen darüber schnell getroffen werden. Die Ukraine drängt auf Hilfe mit schweren Waffen auch aus Deutschland und entwickelt öffentlich hohen Druck, auch unter Verletzung in Friedenszeiten üblicher Gepflogenheiten. Ukrainische Vertreter verhandeln unterdessen mit Herstellern und Industriepartnern auf der ganzen Welt.
Die mittel- und osteuropäischen Staaten gehen bei der Lieferung von Waffen voran, die USA und Großbritannien liefern massiv. Selbst das neutrale Schweden ändert seine Position und sogar indopazifische Staaten wie Australien und Japan leisten signifikante Hilfen.
Endlosschleifen interner Diskussionen
Deutschland verstrickt sich unterdessen in Endlosschleifen interner und öffentlicher Diskussionen, in denen es argumentativ auf der Stelle tritt. Dabei sind die zu treffenden Abwägungen für alle Staaten gleich. Nimmt man auch über längere Zeiträume ein Fehlen im eigenen Bestand in Kauf? Ist es im eigenen Interesse, der Ukraine mit schweren Waffen zu helfen, auch wenn das für die eigenen Streitkräfte Defizite in der Ausbildung und damit Fähigkeitslücken bedeutet? Ist die notwendige Ausbildung der Ukrainer leistbar und in welchen Zeiträumen? Kann man Logistik und Instandsetzung sicherstellen? Genehmigt man Exporte der Industrie für Waffensysteme, die man bisher aus guten Gründen nicht in bestimmte Staaten exportiert hat? Werden die eigenen Entscheidungen Konsequenzen durch Russland nach sich ziehen?
Während andere Staaten diese Abwägungen mit einem Verständnis für die Dringlichkeit treffen und pragmatische Lösungen finden, um der Ukraine immer neuere Waffensysteme zu liefern, kommt die Bundesregierung zu keinen Ergebnissen. Wechselnde Begründungen und widersprüchliche Kommunikation werfen dabei die Frage auf, ob mangelnder politischer Wille verschleiert werden soll. Trotz eines breit getragenen Bundestagsbeschlusses zur Lieferung schwerer Waffen kommt Deutschland von den rhetorischen Bekenntnissen kaum zu konkreten Ergebnissen. Es entsteht erneut eine Drucksituation innerhalb der Koalition, in der Öffentlichkeit und bei den internationalen Partnern, die zur überraschenden Ankündigung der Lieferung von Gepard-Flugabwehrkanonenpanzern führt.
Die militärische Lage in der Ukraine entwickelt sich unterdessen weiter. Nach den Misserfolgen vor Kiew, dem Standhalten von Tschernihiw, Sumy und Charkiw sowie dem Fall von Mariupol passt Moskau sein Vorgehen taktisch an. Durch die Bildung eines Schwerpunkts im Donbass und die Rückbesinnung auf die klassische sowjetisch-russische Militärdoktrin kämpft Russland jetzt stärker mit verbundenen Waffen und verlässt sich auf die Stärke seiner Artillerie. Mit der „Feuerwalze“ aus unaufhörlichem Artilleriebeschuss und anschließendem Vorrücken scheint Russland eine Methode gefunden zu haben, um langsam, aber sicher den Donbass und von dort ausgehend weitere Gebiete der Ukraine zu zerstören und zu erobern.
Was die Ukraine zu diesem Zeitpunkt händeringend braucht, ist 155-Millimeter-Artillerie mit großen Reichweiten und ständigem Munitionsnachschub, da die eigenen 152-Millimeter-Systeme einen zu geringen Radius haben und perspektivisch die Munition ausgeht. Außerdem erleidet die Ukraine in dieser Phase sehr hohe Verluste, weil es im übermächtigen Artilleriefeuer an der sehr langen Frontlinie an geschützter Mobilität mangelt.
Während Deutschland intern mit Argumenten über vermeintliche Eskalationen, mangelnde Bestände oder informelle Absprachen zwischen einzelnen NATO-Staaten zähe Diskussionen führt, die bis heute bei der Lieferung gepanzerter Fahrzeuge nicht zum Ergebnis führen, fallen ukrainische Soldaten an der Front unnötig durch Schrapnelle und Splitter, weil sie für den Transport auf Busse, Pickups und normale Pkw angewiesen sind.
Washington entscheidet sich zur Lieferung moderner 155-Millimeter-Artilleriesysteme an die Ukraine, aber Ausbildung, Lieferung und Integration in die ukrainischen Streitkräfte nehmen Zeit in Anspruch. Erst als die USA, Australien, Kanada und Italien 155-Millimeter-Artillerie liefern, Polen die Lieferung von Krab-Panzerhaubitzen ankündigt und Frankreich sich für die Lieferung von CAESAR-Haubitzen an die Ukraine entscheidet, ringt sich auch Deutschland zur Lieferung von zunächst sieben Panzerhaubitzen 2000 in Kooperation mit den Niederlanden durch.
Die dramatische Lage im Donbass verbessert sich für die Ukraine, nachdem mehrere hundert moderne Artilleriesysteme integriert werden und im Zusammenspiel mit HIMARS-Mehrfachraketenwerfern mit höheren Reichweiten und größerer Präzision russische Führungs- und Kommunikationseinrichtungen, Munitionsdepots und Logistik angegriffen werden können. In der Folge gibt Russland die Schlacht um den verbliebenen Teil des Donbass auf und verlegt Kräfte in den Süden, um das eroberte Gebiet gegen erwartete ukrainische Gegenangriffe zu verteidigen. Damit beginnt das Ringen um die Initiative.
Der weitere Kriegsverlauf ist offen
Mit der vorläufigen Schwäche des russischen Angriffs ist der weitere Kriegsverlauf offen: Wird es ein anhaltender niederschwelliger Grabenkrieg? Kann Russland sich erholen, neu aufstellen und eine neue Angriffswelle starten? Oder kann die Ukraine mit entschlossener, starker und schneller Hilfe die Initiative gewinnen und die Russen zurückdrängen?
Deutschland kann durch weitere Waffenlieferungen beeinflussen, welches Szenario wahrscheinlicher wird. Zum Ende des Sommers 2022 ist damit ein Zeitpunkt gekommen, um die deutsche Militärhilfe und die deutschen Waffenlieferungen an die Ukraine neu zu bewerten. Diese sind insgesamt besser als ihr Ruf. Deutschland leistet signifikante Beiträge, die militärisch für die Ukraine ins Gewicht fallen. So manche Kritik an Deutschland scheint interessengeleitet. Nicht jeder Partner spielt hier immer fair. Dennoch besteht zu Selbstgefälligkeit kein Anlass. Einem ukrainischen Soldaten, der tagelang unter schlimmstem Artilleriebeschuss liegt und sich an der Front nicht geschützt bewegen kann, ist nicht geholfen, wenn Deutschland trotzig darauf hinweist, dass man anerkennen müsse, dass es über seinen Schatten gesprungen ist und Waffen in ein Kriegsgebiet geliefert hat.
Bundeskanzler Olaf Scholz, Außenministerin Annalena Baerbock und die gesamte Bundesregierung haben mehrfach klare Ziele formuliert: Die Ukraine darf nicht verlieren. Russland darf nicht gewinnen. In der Erklärung der G7-Staaten, die sich auf Schloss Elmau trafen, heißt es, dass alles getan werden müsse, um die Ukraine in die Lage zu versetzen, den Krieg zu beenden.
Um diese von der deutschen Politik formulierten und mitgetragenen Ziele zu erreichen, wird es notwendig sein, die Waffenlieferungen konsequenter an der militärischen Lage auszurichten, auch wenn das in manchen Fällen bedeutet, voranzugehen, statt wie bisher nur den Partnern zu folgen. Hinzu kommt, dass Deutschland im Unterschied zu den meisten anderen Staaten Systeme wie Marder, Leopard und andere gelagert hat und über eine sehr leistungsfähige Verteidigungsindustrie verfügt.
Nimmt die Bundesregierung die von ihr formulierten Ziele ernst, müssen ihr Waffenlieferungen ein eigenes Anliegen sein und sollten nicht nur wegen öffentlichen Drucks oder drohendem weiterem internationalem Ansehensverlust erfolgen. Deutschland kann deutlich mehr Artillerie und gepanzerte Fahrzeuge, auch Schützen- und Kampfpanzer, mehr Munition und Treibstoffe liefern und dabei schneller sein: mit dem Willen, einen Unterschied zu machen – mit Kreativität, Pragmatismus und größerer Ownership.
Die politische Logik muss der militärischen Logik folgen, auch das ist Teil der Zeitenwende. Das wird auch heißen, fest an der Seite der Ukraine zu bleiben, sollte Russland aufgrund vorläufiger eigener Schwäche plötzlich Verhandlungsbereitschaft zeigen oder sogar einen einseitigen Waffenstillstand ausrufen. Diese schwierige Prüfung könnte der deutschen Politik sehr bald bevorstehen.
Nach mehr als sechs Monaten Krieg lässt sich konstatieren, dass die großen Ministerialbürokratien der Bundesrepublik auf Stabilität in Friedenszeiten ausgerichtet und damit schwerfällig, langsam und prozessorientiert sind, während gerade im Krieg Agilität, Schnelligkeit und rasche Ergebnisse gefragt sind. Ohnehin können die bürokratischen Prozesse in der Regierung, Vorlagen mit breiter Beteiligung und Umlaufverfahren die politischen Abwägungen und politische Führung nur unterstützen, aber keine politischen Lösungen liefern.
Eine politische Aufgabe
Bei einigen Beobachtern entstand seit Kriegsbeginn in Bezug auf Waffenlieferungen an die Ukraine der Eindruck, dass die im Friedens- und Verwaltungsbetrieb immer weiter ausdifferenzierte Militärbürokratie der Bundeswehr einer zögerlichen Politik entschuldigende Argumente liefert, statt sie zu treiben. Natürlich trägt die militärische Führung zuerst Verantwortung für Einsatzbereitschaft, Ausstattung und Ausbildung der Bundeswehr. Es ist auch verständlich, dass die Traumatisierung durch die Jahre des Mangels es besonders schwer macht, mühsam errungene Waffensysteme an die Ukraine abzugeben.
Doch die damit zusammenhängenden schwierigen Abwägungen und Priorisierungen sind Aufgabe der Politik. Es ist ein hoher Preis, wenn eine Artilleriebatterie unter Umständen jahrelang nicht einsatznah ausbilden kann oder wenn gepanzerte Fahrzeuge für den Übungsbetrieb fehlen. Sollte jedoch die Ukraine verlieren und Russland gewinnen, werden politisch und militärisch noch höhere Preise zu zahlen sein.
Es ist ein kluger Grundsatz, immer abgestimmt mit Partnern zu handeln. Allerdings sollte für ein Land wie Deutschland, an das aufgrund seiner Lage, seiner Größe und seiner wirtschaftlichen Stärke mit Recht der Anspruch einer Führungsrolle gestellt wird, das Handeln „gemeinsam mit den Partnern“ nicht bedeuten, als Letzter schließlich auch ein wenig von dem zu tun, was alle anderen bereits gemacht haben. Deutschland muss sich an denen orientieren, die führen und die dabei die militärische Lage im Blick haben wie die Amerikaner, die als Teil des neuesten Hilfspakets für die Ukraine auch radarsuchende Raketen geliefert haben. Das Vorgehen der Bundesregierung bei der raschen Nachlieferung weiterer Panzerhaubitzen 2000 und vor allem das gemeinsame Handeln der USA, Großbritanniens und Deutschlands bei HIMARS und Mars-2-Raketenwerfern weisen in die richtige Richtung.
Mit zunehmender Dauer des Krieges wächst die relative Bedeutung Deutschlands als Industriemacht. Bisher haben neben den USA vor allem die Länder Mittel- und Osteuropas sehr viel und schnell geleistet, häufig aus eigenen Beständen mit sehr hohen eigenen Kosten. Es bedarf jetzt eines Übergangs von spontanen, improvisierten Lieferungen zu systematischer Planung, regelmäßiger Abstimmung mit Industrie, Partnern und der Ukraine, der Verabredung von Meilensteinen und der speziellen Produktion von Material und Munition, schon jetzt bezahlte Lieferaufträge, die im Winter 2022 und im Frühjahr 2023 erfüllt werden sollen.
Dann eben kämpfen
Viele der ursprünglichen Analysen und Bewertungen des russischen Angriffskriegs waren falsch. Es ist höchste Zeit, sich endgültig von ihnen zu trennen. Russland hat die Ukraine nicht überrannt; es ist nicht hoffnungslos überlegen. Russland hat die westlichen Waffenlieferungen nicht angegriffen. Die Lieferung selbst sehr kampfstarker und weitreichender Artilleriesysteme führt zu keiner weiteren unbegrenzten Eskalation durch Russland. Die Ukrainer lernen sehr schnell, erfolgreich mit modernen westlichen Waffen umzugehen. Für Logistik und Instandsetzung gibt es pragmatische Lösungen.
Um die im Frühjahr eingeleitete Zeitenwende umzusetzen, muss Deutschland sich im Herbst mit den Fragen konfrontieren, die allen Partnern permanent ins Gesicht geschrieben stehen: Wie kann die große, wirtschaftlich und industriell starke Bundesrepublik in der Auseinandersetzung mit Russland einen entscheidenden Beitrag leisten? Wie kann Deutschland in einer Führungsrolle die Ukraine mit Militärhilfe und Waffen so unterstützen, dass sie den Krieg beenden und den Frieden schaffen kann, den sich alle wünschen?
Die Ukraine steht nach sechs Monaten des Krieges besser da, als viele das nach den ersten sechs Stunden überhaupt für möglich hielten. Das Land kämpft, hält zusammen, organisiert, improvisiert, wächst dabei oft über sich hinaus, involviert möglichst alle und kommuniziert inspirierend. Politische und militärische Führung bleiben abgeklärt, ruhig und entschlossen. Die Ukrainerinnen und Ukrainer zeigen sich beeindruckend resilient, gehen dabei mit den brutalsten Situationen und schlimmsten Verlusten um und lassen sich nicht von Angst und Panik treiben.
Deutsche Politik, Regierungsbürokratie und Militär sollten sich von dieser Haltung dringend inspirieren lassen, denn auch die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger in Deutschland scheint nach aktuellen Umfragen und vielen Unkenrufen zum Trotz längst zu denken: „Nun? Dann werden wir eben kämpfen!“
Internationale Politik 5, September/Oktober 2022, S. 58-64
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