IP

01. Juni 2006

Frankreich und die deutsche Vereinigung

Warum Mitterrand aus Rücksicht gegenüber Gorbatschow zögerte

Der Literatur über das Ende des Ost- West-Konflikts und Deutschlands Vereinigung hat Frédéric Bozo eine neue Pflichtlektüre hinzugefügt. Kritische Studien, nicht zuletzt die wenig seriösen, aber politisch wirksamen Darlegungen von Jacques Attali aus dem Umkreis der Mitterrandschen Mitarbeiter, hatten die französische Politik in ein kontroverses Licht gerückt: Mitterrand habe die Vereinigung zu bremsen oder gar zu hintertreiben versucht, und die französische Außenpolitik sei damals von den internationalen Entwicklungen überrannt worden und habe sie nicht zu beeinflussen vermocht.

Die hervorragend recherchierte Studie von Bozo, die zum Teil auf bisher nicht ausgewerteten Quellen beruht, bringt nicht nur Klarheit in diese Vorwürfe, sondern verschafft neue Einblicke in die französische Politik dieser Zeit. Sie ist deshalb auch aufschlussreicher als die bisher vorliegenden Untersuchungen (insbesondere die Arbeit von Tilo Schacht „Wie Weltpolitik gemacht wird. Frankreich und die deutsche Einheit“, Stuttgart 2002), greift auch weiter, da sie die Mitterrandschen Konzeptionen, Erfolge und Misserfolge beim Versuch der Beeinflussung der damals ablaufenden Veränderungen des internationalen Systems herausarbeitet und die deutschlandbezogene Strategie als deren Teil behandelt.

Was stimmt nun am Vorwurf der Abbremsung des Prozesses der deutschen Vereinigung? Bozo stellt nicht nur fest, dass auch nach der Durchforstung von erheblichen Aktenbergen hierfür nirgendwo ein Anhaltspunkt zu finden war, sondern er greift auf drei Themenkomplexe zurück, die den Vorwurf widerlegen und die Missverständnisse erklären, die in diesem Zusammenhang entstehen konnten.

Da ist einmal die bemerkenswerte Kontinuität zwischen der Politik Mitterrands und de Gaulles, der das „System von Jalta“ immer abgelehnt und die Wiedervereinigung der beiden Teile Deutschlands als „das normale Schicksal des deutschen Volkes“ (Pressekonferenz vom 25.3.1959) bezeichnet hatte. Die Einheit konnte nur als Resultat der Wiederannäherung und Vereinigung der beiden Teile Europas zustande gebracht werden. (Diese de Gaullesche Konzeption prägte bekanntlich die gleichgerichtete Grundorientierung der Ostpolitik Willy Brandts, die ihrerseits von der Regierung Kohl/Genscher fortgeführt wurde.) Mitterrand formulierte hierfür genau die gleichen Rahmenbedingungen wie schon vorher de Gaulle: friedliche Umsetzung, Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze, Verzicht auf ABC-Waffen, Schaffung eines gesamteuropäischen Rahmens, Vertiefung der europäischen Zusammenarbeit. Auf diese Weise entstand, so Bozo, die „Legende“, dass Frankreich die Vereinigung der Deutschen, deren Handlungsspielraum ohnehin geringer war als viele annahmen (vor allem der der Zweifler an der Endgültigkeit der Oder- Neiße-Grenze), in eine Art Zwangskorsett pressen wollte, das dann als prinzipieller Widerstand gegen die Vereinigung gedeutet wurde.

Davon zu unterscheiden ist nach Bozo das verständliche Zögern Mitterrands, deutscher als die Deutschen zu sein, die auf der Regierungsebene von der Dynamik der Entwicklung ebenfalls überrascht wurden, sie sogar als potenziell gefährlich betrachteten. Deshalb zögerte er, vor allem in der frühen Phase, entweder beschleunigend oder verlangsamend irgendetwas zu tun, und verzichtete deshalb auch darauf, frühe Erklärungen abzugeben oder gar bei der Öffnung des Brandenburger Tores mit dabei zu sein.

Ein zweites Handlungsmotiv prägte die Mitterrandsche Politik: das Ziel, um jeden Preis Gorbatschow und seine Politik zu stützen, d.h. alles zu vermeiden, was seinen Widersachern in Moskau helfen könnte. In dieser Hinsicht dachte Mitterrand nicht anders als George Bush und Helmut Kohl. Bozo identifiziert einen daraus entspringenden Attentismus der französischen Politik: abwarten, bis klar war, dass Gorbatschow zustimmte oder ihm nicht geschadet werden konnte, damit dem übergeordenten Ziel der Mitterrandschen Strategie, der Überwindung Jaltas, gedient wurde. Daraus konnte dann leicht eine bremsende oder widerstrebende Haltung zur deutschen Vereinigung konstruiert werden. Die Rücksichtnahme auf Gorbatschow hatte jedoch noch eine andere Konsequenz auf der Ebene des europäischen Staatensystems. Bozo zeigt, wie die französische Politik mit allen Kräften die amerikanischen Bemühungen zu konterkarieren versuchte, die NATO zu reformieren und ihr eine neue politische Orientierung zu geben. Ganz in der Tradition de Gaulles versuchte Frankreich, das Prinzip durchzusetzen, die Allianz bei ihren militärischen Leisten bleiben zu lassen. Am Ende musste es jedoch nachgeben und einer Reform der NATO zustimmen, weil nur so Russland die Entlassung der DDR in das Bündnis zugemutet werden konnte, ohne dass Gorbatschow gefährdet wurde. Da bis zum heutigen Tage der Widerstand gegen eine weitere Ausdehnung der politischen Aufgaben des Bündnisses wesentlicher Bestandteil französischer NATO-Politik geblieben ist, bleibt es ein Kuriosum, dass die Zustimmung Frankreichs zur Neuausrichtung der NATO maßgeblich der Rücksichtnahme auf Gorbatschow zu verdanken ist.

Das nach Auffassung Bozos wichtigste Handlungsmotiv Mitterrands war jedoch die sein außenpolitisches Denken beherrschende Europa-Konzeption und in ihrem Zentrum das deutsch-französische Verhältnis. Hierin liegt wohl die interessanteste und ergiebigste Dimension dieses Buches, die sich durch die gesamte Untersuchung hindurchzieht. Bozo zeichnet anschaulich die internen französischen Diskussionen und Entscheidungen nach, die zu jenem bemerkenswerten Zusammenspiel zwischen Kohl und Mitterrand führte – zwar nicht ohne Schwierigkeiten, doch letztlich als neubelebter deutsch-französischer Motor einer Entwicklung, die zum Maastrichter Vertrag, insbesondere seiner Wirtschafts- und Währungsunion, führte.

Bozos Untersuchung hilft, die bis heute wirksamen Grund- wie auch Konfliktlinien der französischen Politik in den europäischen und transatlantischen Beziehungen zu verstehen. Frankreichs heutiger Widerstand gegen eine globale Neuorientierung der NATO lässt sich bis zu Mitterrands und de Gaulles Politik zurückverfolgen. Chiracs Fehleinschätzung der Bindung der zentraleuropäischen Staaten an die USA in der Kontroverse über den Irak-Krieg hat ihren Vorläufer, als Mitterrands Grand Design einer europäischen Konföderation u.a. am Wunsch der neuen Demokratien scheiterte, engere Beziehungen zum Westen und damit insbesondere zu den USA zu pflegen. Dieser hervorragenden Studie kann man nur eine deutsche Ausgabe wünschen.

Frédéric Bozo: Mitterrand, la fin de la guerre froide et l’unification allemande. De Yalta a Maastricht. Odile Jacob, Paris 2005. 518 Seiten, € 29.

Prof. Dr. Karl Kaiser, geb. 1934, ist Ralph I. Straus Visiting Professor an der Harvard University, Cambridge, MA.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, Juni 2006, S. 134-135

Teilen