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01. Sep 2007

Ein Sieg des Islams über Europa?

Wohin die Türkei nach dem AKP-Triumpf steuert, hängt auch von der EU ab

Viele Türken haben die Erdogan-Partei gewählt, weil sie dem Land Wachstum und Wohlstand beschert hat. Auch die Öffnung zur EU hat die AKP betrieben, während die säkularen Parteien auf ihrem europafeindlichen Nationalismus beharrten. Doch wenn sich die Tür nach Europa schließen sollte, entfällt der Zwang zur Modernisierung. Was dann?

Seit dem 22. Juli dieses Jahres, als die Gerechtigkeits- und Fortschrittspartei (AKP) die Wahlen in der Türkei haushoch gewann, lassen sich fast alle Debatten im Land auf die eine Frage reduzieren: Wohin geht die AKP? Gemeint ist damit nicht nur das Regierungsprogramm der kommenden Jahre, nicht nur die Frage nach einer Militärintervention im Nordirak oder der zukünftigen Politik gegenüber der EU. Im Prinzip geht es immer noch um die Antwort auf die Frage nach dem Charakter der Partei, oder schlicht: Wie islamisch ist die AKP?

Diese Frage ist auch nach fast fünf Jahren AKP-Regierung durchaus nicht beantwortet. Und sie stellt sich jetzt dringender als zuvor. Konnte man den ersten Wahlsieg der AKP im November 2002 noch überwiegend als Reaktion auf die desaströse Politik der Vorgängerregierung interpretieren, die das Land in eine der schlimmsten Wirtschaftskrisen der türkischen Geschichte geführt hatte, so muss man jetzt konzedieren: Die AKP hat einen Wahlsieg aus eigener Kraft eingefahren, wenn auch begünstigt durch die eklatante Schwäche der Opposition.

Seit diesem Sieg ist die AKP de facto, was sie schon vor fünf Jahren von sich behauptet hat: die neue rechtskonservative Kraft des Landes. Sie hat die Rolle, die in den achtziger und neunziger Jahren Turgut Özal und Süleyman Demirel und deren glücklose Nachfolger Mesut Yilmaz und Tansu Ciller mit ihren Parteien innehatten, übernommen – zumindest aus der Sicht ihrer Wähler.

Die Opposition, inklusive der Generäle, hatten die Türkei vor der Wahl als ein gespaltenes Land dargestellt: Auf der einen Seite die Islamisten, auf der anderen die Verteidiger der laizistischen Republik. Eine der wichtigsten Erkenntnisse aus der Juli-Wahl ist nun, dass ein großer Teil der türkischen Bürger dieses Szenario entweder nicht geglaubt oder nicht ernst genommen hat. Die überwiegende Mehrheit, so ergeben Umfragen nach der Wahl, haben nicht für oder gegen den Islamismus abgestimmt, sondern aus wirtschaftlichen Erwägungen. Die AKP hat gewonnen, weil die Wähler ihr am ehesten zutrauen, auch zukünftig für Stabilität und wirtschaftliches Wachstum zu sorgen.

Es gibt zwar eine über den harten kemalistischen Kern hinausgehende Angst vor einer schleichenden Islamisierung des Landes, doch die Großdemonstrationen im Mai, an denen mehrere Millionen Menschen teilnahmen, haben ein verzerrtes Bild vermittelt. In der Türkei leben immer noch wesentlich mehr Menschen, die mehr Angst um ihr tägliches Brot als um ihren Lebensstil haben. Die Mehrheit dieser Wähler hat Erdogan für sich gewonnen. Was sich bei den Wahlen 2002 bereits andeutete, hat sich jetzt verfestigt: Recep Tayyib Erdogan und die AKP sind die Hoffnungsträger der nach wie vor armen Massen, sowohl auf dem Land als auch in den Städten.

Zwar hat die Regierung Erdogan, unter dem Diktat des Internationalen Währungsfonds, eine neoliberale -Wirtschaftspolitik verfolgt, bei der nach klassischem IWF-Rezept Subventionen gekürzt und der Ausverkauf öffentlicher Unternehmen forciert wurde. Dennoch ist es der Regierung gelungen, gerade ihre Wirtschaftspolitik als Erfolg zu verkaufen. Erdogan hat die Stimmen der Unterprivilegierten nicht nur halten können, seine Politik hat offenbar auch vielen Selbstständigen – und das sind in der Türkei erheblich mehr als solche in sozialversicherten Jobs – die Hoffnung gegeben, dass es aufwärts gehen wird, wenn die AKP für Stabilität und Wachstum sorgt. Nicht die Ideologie hat in diesen Wahlen den Ausschlag gegeben, sondern der alte Clinton-Spruch: „It’s the economy, stupid!“

Vor diesem Hintergrund wird die Niederlage der angeblich linken Opposition erst in ihrem ganzen Ausmaß erkennbar. In der Türkei hat die Rechte trotz IWF-Diktat und neoliberaler Politik mit wirtschaftlichen Argumenten gewonnen, während die Linke mit ihrer ideologischen Polarisierung verloren hat. Jenseits der schon fast lächerlichen Figur des Oppositionsführers Deniz Baykal kann man daraus nur einen Schluss ziehen: Wenn die kemalistische CHP jemals wieder eine Chance haben will, muss sie sich darauf besinnen, welche Ziele und Werte eine sozialdemokratische Partei eigentlich ausmachen. Tut sie das nicht, wird es höchste Zeit für die Gründung einer neuen, unbelasteten Partei, die sich dieser Aufgaben annimmt.

Geglückte Inflationsbekämpfung

Wie konnte die AKP aber mit ihrer Wirtschaftspolitik punkten, obwohl doch die Arbeitslosigkeit konstant hoch blieb und von dem neuen Reichtum unten bislang kaum etwas angekommen ist? Das Geheimnis des Erfolgs dürfte sein, dass Erdogan und seine Mannschaft erstmals seit Jahren wieder das Gefühl verbreiten konnten, mit dem Land gehe es aufwärts. Einer der Gründe, die zu diesem Gefühl beigetragen haben, ist der geglückte Kampf gegen die Inflation. Rund 20 Jahre lang haben die Türken mit einer Inflation zwischen 70 und 100 Prozent gelebt. Längerfristiges wirtschaftliches Handeln war unter diesen Umständen kaum planbar, und Investitionen lohnten sich nicht, weil mit den hohen Zinsen am Kapitalmarkt für Leute mit Geld dort leichter Geld zu verdienen war. Die AKP hat die Inflation auf unter zehn Prozent gesenkt und die türkische Lira gegenüber Euro und Dollar erstaunlich stabilisiert. Zusammen mit der Annäherung an die EU hat das dazu geführt, dass die Türkei erstmals überhaupt für Investoren interessant wurde. In den Jahren der AKP-Regierung kam mehr ausländisches Kapital ins Land als in den 20 Jahren zuvor.

Das hat zunächst vor allem den Großen genutzt. Der Börsenwert von Industrieholdings der großen Familien wie Sabanci, Koc und anderen hat sich fast verfünffacht. Aus Millionären wurden Milliardäre – und zwar in Euro oder Dollar gerechnet. Genutzt hat die neoliberale Politik der AKP aber auch vielen mittelgroßen Unternehmen, die, oft in Anatolien angesiedelt, als so genannte grüne (islamische) Kapitalisten einen wahren Siegeszug angetreten haben. All das hat zu einer Aufbruchstimmung geführt, die sich beispielsweise am Immobilienmarkt mit einer wahren Explosion der Hauspreise bemerkbar gemacht hat.

Dass auch die Armen, die bislang vom Wirtschaftswachstum überhaupt nicht profitiert haben, dennoch weiterhin die AKP wählen, hat mit einigen wenigen, aber durchschlagenden Maßnahmen Erdogans zu tun, Stichwort: islamische Wohlfahrt. Die AKP-Regierung hat zwar Gewerkschaften bekämpft und durch den forcierten Verkauf von Staatsbetrieben auch etliche Arbeitsplätze vernichtet, aber sie hat Schulbücher für alle freigestellt und die kostenlose Gesundheitsversorgung für Mittellose erheblich ausgeweitet. Beides kam gerade den armen Familien zugute.

Dazu kommt das System islamischer Wohlfahrt. Erdogan und seine Mannschaft tun nichts für den Sozialstaat im europäischen Sinn; stattdessen verteilt seine Partei, wie andere islamische Formationen es in anderen muslimischen Ländern auch schon praktiziert haben, Unterstützung im Namen Allahs. Die im Gegensatz zu den anderen türkischen Parteien sehr mitgliederstarke AKP kümmert sich um Arme und Bedürftige in der Nachbarschaft und gibt – natürlich besonders vor Wahlen – Nahrungsmittel, Kohlen und Gutscheine aus. Dieser Kommunitarismus auf islamisch ist allenthalben sehr erfolgreich.

Für die Mehrheit der Wähler ist die AKP eine konservative, wirtschaftsliberale Partei, deren Rolle der der CDU/CSU in den fünfziger und sechziger Jahren der Bundesrepublik ähnelt. Doch weiß das auch die AKP? Die Kritiker aus dem laizistischen Lager werfen der Partei vor, sie habe bislang ihre wahren Absichten lediglich gut kaschiert, um ihre eigentliche Agenda erst dann auch öffentlich zu vertreten, wenn sie stark genug sei. Laut Parteiprogramm spielt die Religion für die AKP politisch keine Rolle. Die Mitglieder der AKP seien zwar fromme Muslime, doch das sei ihre Privatsache. Tatsächlich kommt Allah weder im Parteiprogramm noch in den großen Wahlkampfauftritten vor. Trotzdem hatte die Wahlkampagne der AKP einen nicht unwichtigen Subtext, der da lautete: Das gottlose Militär habe verhindert, dass ein bekennender Muslim Präsident wird. Deshalb müsse man den verhinderten Präsidentschaftskandidaten Abdullah Gül – und Ministerpräsident Erdogan – nun erst recht unterstützen. Auf der Grundlage dieses Subtextes hat Gül dann ja auch seinen Anspruch auf das Präsidentenamt nach der Wahl begründet und sich geweigert, Erdogans Druck nachzugeben (der eigentlich im zweiten Anlauf lieber einen Kompromisskandidaten aufgestellt hätte).

Auch wenn der Alarmismus der orthodoxen Kemalisten übertrieben ist, auch wenn die AKP keine geheime Agenda zur Errichtung eines Gottesstaats verfolgt, ist doch noch keinesfalls geklärt, welchen Weg die Partei gehen wird. Als in den fünfziger Jahren die CDU/CSU in Deutschland noch wegen ihres „C“ im Namen gewählt wurde, war dennoch schon damals klar, dass dieses Moment an Bedeutung verlieren würde. Die Säkularisierung der Gesellschaft war nicht zu übersehen, die Religion als sinnstiftendes Bindeglied zwischen Partei und Wählerschaft war bereits ein Auslaufmodell.

Das ist heute ganz anders. Die Renaissance der Religion – nicht nur in den islamischen Ländern, sondern auch in den USA – ist unübersehbar. Nicht die fortschreitende Säkularisierung, sondern das wachsende Gewicht des Islams kennzeichnet die heutige türkische Gesellschaft. Das führt zu dem Gefühl der Bedrohung für die westliche Lebensweise, zu einer Vertiefung der gesellschaftlichen Kluft zwischen Gläubigen und Laizisten. Weil die AKP von der Renaissance der Religion profitiert, auch wenn sie selbst gar nicht offensiv mit ihren islamischen Wurzeln für sich wirbt, ignoriert sie die sich vertiefende Spaltung. In dieser Phase ist es von entscheidender Bedeutung, wie sich das Verhältnis der Türkei zu Europa weiter entwickelt. Es gehört zu den Paradoxien der gegenwärtigen politischen Lage der Türkei, dass die AKP, deren Mitglieder mit der vorherrschenden liberalen Lebensweise in Europa wenig im Sinn haben, sich um die Integration der Türkei in die EU bemüht, während die laizistischen Parteien, deren Basis der westlich orientierte Teil der Bevölkerung ist, aus einem nationalistischen Impuls heraus die Annäherung an die EU beharrlich boykottieren.

In dieser Paradoxie liegt eine enorme Chance, die die EU bislang jedoch leider nicht realisiert hat. Erdogan und seine Mannschaft haben die Annäherung an Europa aus wirtschaftlichen Erwägungen gesucht, aber auch, weil sie damit die Macht des Militärs ausbalancieren konnten. Dafür haben sie viele „Zumutungen“ auf sich genommen, die ihrer Klientel eher gegen den Strich gehen, (beispielsweise im Familienrecht), die aber dazu beitragen, das Land zu modernisieren – und letztlich im europäischen Kontext auch weiter zu säkularisieren. Wie lange werden sie noch bereit sein, diesen Kurs – gegen den Widerstand eines Teiles der eigenen Basis und der Nationalisten insgesamt – fortzuführen? Man muss sich nur vorstellen, welche Kämpfe in Polen jetzt stattfänden, wenn das Land nicht EU-Mitglied wäre und nicht eingebettet in ein System, dass der innenpolitischen Auseinandersetzung einen größeren Rahmen gibt und damit die schlimmste Zuspitzung entschärft! Die EU hat der Türkei diese potenziell pazifizierende Wirkung, Teil eines größeren Ganzen zu sein, bislang verweigert. Die enttäuschten Hoffnungen auf eine EU-Mitgliedschaft waren ein wichtiger Grund dafür, warum der Konflikt um den zukünftigen Präsidenten in der Türkei mit solcher Schärfe ausgetragen wurde.

Es ist durchaus fraglich, ob Erdogan sich angesichts der weit verbreiteten Ablehnung seines angeblich islamischen Landes in Europa weiterhin intensiv um eine EU-Mitgliedschaft bemühen wird. Der wirtschaftliche Aufschwung scheint auch so anzuhalten, und angesichts des großen Wahlsiegs könnte die AKP-Führung geneigt sein zu glauben, zukünftig das Militär nicht mehr fürchten zu müssen. Die EU und fast alle europäischen Regierungen haben den Wahlsieg der AKP begrüßt und als demokratischen Erfolg gefeiert. Es wäre wünschenswert, wenn daraufhin jetzt nach Ankara signalisiert würde, dass man nach Abschluss der EU-Verfassungsdebatte noch einmal eine neue Anstrengung zu ernsthaften Verhandlungen unternehmen will. Bleibt ein solches Signal aus, dürfte die lange Beziehungsgeschichte der Türkei mit der EU zu Ende gehen, auch wenn beide Seiten formal weiter daran festhalten.

Innenpolitisch kann das in der Türkei nur zu weiteren Verhärtungen führen. Die AKP strebt sicher keinen Gottesstaat nach iranischem Vorbild an, aber sie wird sich einer Reislamisierung des Landes kaum in den Weg stellen. Da die laizistischen Parteien so schwach sind, wird das gegebenenfalls das Militär tun. Die AKP läuft dann Gefahr, ihren großen Sieg in einen Pyrrhussieg zu verwandeln.

JÜRGEN GOTTSCHLICH, geb. 1954, ist seit 1998 Korrespondent mehrerer deutscher Zeitungen in Istanbul. Letzte Publikationen: „Die Türkei auf dem Weg nach Europa“ (2005), „Der Mann, der Günter Wallraff ist“ (2007).

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 9, September 2007, S. 80 - 84.

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