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01. Sep 2015

Folgen einer Fehlentscheidung

Die Griechenland-Krise enthüllt die Mängel von Maastricht

Die aktuellen Probleme verdeutlichen: Ein tragender Grundkonsens in der EU existiert nicht. Das Griechenland-Paket ist eine vertagte Entscheidung über die Zukunft Europas. Das Spannungsfeld wird sich nicht lichten, wenn die Währungsunion nicht endlich von einer Fiskal und Politischen Union komplettiert wird. Sonst droht die EU zu scheitern.

Nun sei sie wieder da, die deutsche Frage: So lautet der Reim, den sich Roger Cohen, Kolumnist der New York Times, wenige Stunden nach dem Ende des 17-stündigen Euro-Gipfels über Griechenland am 13. Juli auf das Ergebnis des Brüsseler Treffens machte.1 Erneut müsse sich Europa jetzt mit dem Problem herumschlagen, wie man mit deutscher Macht umzugehen habe. Folgen wir Cohen, hat sich die Wiedervereinigung Deutschlands zu westlichen Bedingungen, die Einbindung des viereinhalb Jahrzehnte lang geteilten Landes in das Atlantische Bündnis und die Europäische Union, nicht als die dauerhafte Lösung der deutschen Frage erwiesen, auf die alle Welt 1990 gehofft hatte. Mit der deutschen Frage scheint es sich mithin zu verhalten wie mit jener Figur aus Wilhelm Buschs „Tobias Knopp“, von der es heißt: „Madame Sauerbrot, die schein / tot gewesen, tritt herein.“2

Einen Zusammenhang zwischen der Krise in der Euro-Zone und den Ereignissen von 1989/90 gibt es in der Tat. Unmittelbar nach dem Fall der Berliner Mauer begann der französische Staatspräsident François Mitterrand darüber nachzudenken, wie sich sein Albtraum abwenden ließe: dass der wirtschaftlich ohnehin schon übermächtigen Bundesrepublik nach einer Wiedervereinigung endgültig die Hegemonie über Europa zufallen würde. Deshalb drängte er bereits Anfang Dezember 1989 den Bonner Regierungschef Helmut Kohl zur Lockerung eines deutschen Junktims: der gleichzeitigen Verwirklichung der grundsätzlich schon beschlossenen europäischen Währungsunion und der Umwandlung der Europäischen Gemeinschaft in eine Politische Union.3 Im Klartext: Die Währungsunion sollte vorgezogen, das finanzielle Unterpfand deutscher Stärke, die DM, die Mitterrand 1988 als „Deutschlands Atombombe“ bezeichnet hatte,4 in einer gemeinsamen europäischen Währung aufgehen.

Da Bundeskanzler Kohl die deutsche Einheit nicht mit einem deutsch-französischen Zerwürfnis belasten wollte, stimmte er der Behandlung der Materien „Wirtschafts- und Währungsunion“ und „Politische Union“ in getrennten Regierungskonferenzen zu. Er stellte damit die Weichen für den Vertrag von Maastricht, der der gemeinsamen Währung ein klares, deutschen Vorstellungen entsprechendes Profil gab, in Sachen Politische Union aber weit hinter den Bonner Wünschen zurückblieb.

Ein Gründungsfehler und eine Täuschung

Der Tragweite seines Zugeständnisses war sich der Bundeskanzler schwerlich bewusst. Noch am 6. November 1991, rund einen Monat vor dem Maastrichter Gipfel, nannte er im Bundestag „die Vorstellung, man könne eine Wirtschafts- und Währungsunion ohne Politische Union auf Dauer erhalten“, abwegig.5 Gegen Ende seiner Kanzlerschaft kamen Kohl immer mehr Zweifel an der Weiterentwicklung des bestehenden Staatenverbunds der EU zu einer föderationsähnlichen Politischen Union. Dessen ungeachtet forcierte er 1998 den Eintritt in die dritte und letzte, entscheidende Phase der Währungsunion, und das trotz verbreiteter starker Bedenken hinsichtlich der Euro-Reife einiger Staaten, darunter Italien und Belgien. Als Kohl 2005, knapp sieben Jahre nach dem Ausscheiden aus dem Kanzleramt, seinen 75. Geburtstag feierte, attestierte ihm Jean-Claude Juncker, damals luxemburgischer Ministerpräsident, es gäbe den Euro nicht, „wenn es Kohl in dem Moment nicht gegeben hätte“.6

Mittlerweile hat sich die Einsicht durchgesetzt, dass die Schaffung einer Währungsunion ohne Fiskal- und Politische Union ein Konstruktionsfehler des Euro oder, wie es Kohls Nachnachfolgerin Angela Merkel am 14. Dezember 2011 im Bundestag ausdrückte, sein „Gründungsfehler“ war.7 Ein anderer Fehler, den auf deutscher Seite die rot-grüne Bundesregierung unter Gerhard Schröder und Finanzminister Hans Eichel zu verantworten hat, erscheint noch um vieles unbegreiflicher: die Aufnahme Griechenlands in die Währungsunion im Jahr 2000. Dass die statistischen Daten aus Athen, die zu diesem Beschluss führten, gefälscht waren, wurde schon damals vielfach vermutet und steht seit 2004 fest. Aber Erfolg hatte die Täuschung nur, weil sich Europa in diesem Fall allzu gerne täuschen ließ. Denn wenn es irgendein Land gibt, dem es immer wieder gelingt, sich und der Umwelt mit der Berufung auf eine besonnte Vergangenheit über die Unvollkommenheiten seiner Gegenwart hinwegzuhelfen, ist es Griechenland.

Griechenlands glorreiche Vergangenheit verdichtet sich in einem Namen: Platon. Man könne Platon doch nicht in der zweiten Liga spielen lassen, soll der französische Staatspräsident Valéry Giscard d’Estaing 1981 bei der Aufnahme Griechenlands in die Europäische Gemeinschaft gesagt haben.8 EU-Kommissionspräsident Juncker fand dieses Argument so schlagend, dass er es dieser Tage in einer Pressekonferenz wiederholte.9 Häufiger noch hört man, und außer in Griechenland selbst kaum irgendwo so oft wie in Frankreich, Europa schulde Griechenland Dank, weil dort die Wiege der Demokratie gestanden habe.

Platon war zwar anderer Meinung: Für ihn hatte sich die von Demagogen manipulierte attische Versammlungsdemokratie, die Herrschaft „der vielen“, schon durch das Todesurteil gegen Sokrates gerichtet. Und die Gründerväter der ersten wirklichen Demokratie, der amerikanischen, die meist gute Kenner der griechisch-römischen Antike waren, sahen im Athen des 5. und 4. Jahrhunderts vor Christus einen Ort der Pöbelherrschaft, von dem man nur lernen konnte, wie sich eine „Demokratie“ ruinieren ließ.10

Doch die Philhellenen unserer Tage ficht das alles nicht an. An ihrem verklärten Bild vom ewigen Hellas pflegen alle Hinweise auf die triste Erbschaft von Byzanz und osmanischer Fremdherrschaft, auf Klientelwesen und Korruption, Steuervermeidung und Verwaltungsversagen, abzuprallen. Wer sich für die beschönigende Sichtweise entschieden hat, den dürfte auch der Einwurf nicht beeindrucken, dass die Mitgliedschaft in der EU und erst recht die in der Euro-Zone Griechenland bisher nur einen Wohlstand auf Pump beschert und eben damit auf den Weg in den Staatsbankrott geführt hat. Offenbar ist eine Pleite, wenn sie sich im Lande Platons ereignet, in einem anderen, milderen Licht zu sehen, als wenn sie anderswo stattfinden würde.

Vertrauen in die gemeinsame Währung oder Bestandssicherung?

Auf dem Brüsseler Euro-Gipfel vom 12. und 13. Juli, auf dem es nur ein Thema, nämlich Griechenland, gab, prallten zwei Positionen aufeinander: die der Hartwährungsländer, zu denen Deutschland, die Niederlande, Irland, Finnland, die baltischen Staaten, die Slowakei, Slowenien und normalerweise, wenn nicht gerade Bundeskanzler Werner Faymann anders zu reden beliebt, auch Österreich gehören, und die der historischen Weichwährungsländer mit Frankreich und Italien an der Spitze. Für die ersteren, die die Mehrheit innerhalb der Euro-Gruppe bilden, hat das Vertrauen in die gemeinsame Währung Vorrang vor der Sicherung der Euro-Zone in ihrem derzeitigen Bestand. Deswegen legen die Hartwährungsländer Wert auf die Einhaltung der Maastricht-Kriterien, also die Beschränkung des maximalen Haushaltsdefizits auf 3 Prozent und des öffentlichen Schuldenstands auf höchstens 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Die Weichwährungsländer halten die strikten Vorgaben des Vertragswerks von Maastricht für Fesseln, die es zu lockern gilt. Im Zweifelsfall argumentieren sie national und nicht europäisch: Eine Verletzung der Maastricht-Regeln ist für sie kein Sakrileg, sondern notfalls ein souveränes Recht.

Käme es zu einem Grexit, gleichviel ob auf Zeit oder auf Dauer, wäre das aus der Sicht von Paris oder Rom folglich ein Menetekel: Was heute an Griechenland vollzogen wird, könnte eines Tages auch Frankreich oder Italien widerfahren. Daher das Beharren von François Hollande und Matteo Renzi auf einem Verbleib Athens in der Euro-Zone um nahezu jeden Preis.

Einen Bruch mit Frankreich und Italien konnte Deutschland nicht wollen, einen Konflikt mit den härtesten Widersachern eines laxen Umgangs mit den Maastricht-Kriterien in Nord- und Ostmitteleuropa aber auch nicht. Deshalb der Verzicht auf das konsequente Durchziehen der Hartwährungslinie bis zu einem zumindest zeitweisen Ausscheiden Griechenlands aus der Währungsunion und stattdessen ein Junktim: Athen behält den Euro, muss aber Bedingungen akzeptieren, die tiefe Einschnitte in die griechische Souveränität bedeuten, zugleich jedoch die Voraussetzungen dafür schaffen sollen, dass das Land endlich die Strukturreformen einleitet, die es seit vielen Jahrzehnten verschleppt hat. Dass die Brüsseler Forderungen auch kontraproduktive, weil wachstumshemmende Elemente wie die Erhöhung der Mehrwertsteuer just zu diesem Zeitpunkt enthalten, ist freilich eine höchst berechtigte Kritik.

Das Brüsseler Griechenland-Paket ist, um einen Begriff des ebenso berühmten wie berüchtigten Staatsrechtlers Carl Schmitt zu verwenden, ein unechter oder dilatorischer Formelkompromiss. Sein Wesen besteht darin, dass die ­eigentliche Entscheidung vertagt und hinausgeschoben und durch eine Formel ersetzt wird, „die allen widerstrebenden Forderungen genügt und in einer mehrdeutigen Redewendung die eigentlichen Streitpunkte unentschieden lässt“.11 Die eigentliche Entscheidung würde eine Antwort auf die Frage verlangen, ob eine gemeinsame Währung von Staaten höchst unterschiedlicher Haushaltskulturen Bestand haben kann, wenn die einen Regeln für verbindlich halten, während die anderen sie immer wieder zur Disposition gestellt sehen wollen. Anders gewendet: Lässt sich der Euro dauerhaft stabilisieren, ohne dass die Währungsunion von einer Fiskal- und letztlich einer Politischen Union flankiert wird?

Die Logik einer Union verlangt die Einhaltung von Regeln

Manche Verteidiger der von Frankreich und Italien verfolgten Linie, unter ihnen hochangesehene amerikanische Wirtschaftswissenschaftler, haben Deutschland vorgeworfen, gegenüber Griechenland eine nationalistische Politik zu betreiben. Aber ist es nicht genau umgekehrt? Die Logik einer Währungsunion verlangt die Einhaltung der gemeinsam vereinbarten Regeln, nicht ihre Aufweichung oder Verletzung. National denken und handeln Länder, die dem wie immer definierten Nationalinteresse Vorrang vor dem gemeinsamen Interesse der Währungsunion einräumen, europäisch diejenigen, für die die Glaubwürdigkeit und Krisenfestigkeit des Euro das höhere Gut ist. Deutschland, das heute an der Spitze der Regelverteidiger steht, hat zu Beginn des neuen Jahrhunderts, im Zeichen des ehrgeizigen Reformprogramms der Agenda 2010, selbst gegen die Maastricht-Kriterien verstoßen und dadurch viel an politischer Glaubwürdigkeit verloren. Aber falsch macht das heute die Linie der Hartwährungsländer nicht.

Ein anderes Argument der Kritiker der Berliner Politik ist sehr viel plausibler. Es war ein Fehler, den Eindruck aufkommen zu lassen, als sei „Sparen“ ein ausreichendes Rezept, um Wohlstand zu erzeugen, als garantiere Austerität bereits Prosperität. Viel zu spät rückte der Begriff der Strukturreformen in den Vordergrund. Sehr viel früher hätten Deutschland und die anderen Hartwährungsländer einer Wachstumspolitik das Wort reden müssen, die auf die Förderung ebendieser Reformen zielt. Die „schwarze Null“ ist kein deutscher Exportartikel, wohl aber könnte es der Gedanke sein, dass die Länder der Währungsunion ihre Schuldentragfähigkeit ständig im Blick behalten müssen. Ähnlich verallgemeinerbar sollte die Einsicht sein, dass ein noch so großzügiges „deficit spending“ à la Keynes kein geeignetes Mittel ist, um das Ausbleiben überfälliger, nicht zuletzt wachstums- und wettbewerbsfreundlicher Reformen zu kompensieren.

Die europäische Integration könnte nur dann voranschreiten, wenn als erste Frankreich und Deutschland sich auf einen echten Kompromiss verständigen würden: die Festlegung auf ein ausgewogenes Verhältnis von fiskalischer Konsolidierung und wirtschaftlichem Wachstum. Solange es dieses Einverständnis nicht gibt, sind alle Diskussionen über die institutionelle Ausgestaltung der Währungsunion oder gar die Finalität des europäischen Einigungsprozesses müßige Gedankenspiele. Es ist zweifelhaft, ob es vor der französischen Präsidentenwahl 2017 zu einem solchen „historischen Kompromiss“ zwischen Paris und Berlin kommen wird, und für die Zeit danach gilt dasselbe. Es ist noch nicht einmal sicher, ob beide Länder nach der Verabschiedung eines dritten Hilfspakets für Griechenland gemeinsam reagieren werden, wenn die Regierung Tsipras die Reformen, die sie nach eigenem Bekunden großteils für falsch hält, nicht zügig in Angriff nimmt. Ein viertes Hilfspaket wäre in diesem Fall so gut wie ausgeschlossen.

Wenn es so kommen sollte, wird sich erneut die Frage stellen, ob ein Grexit im Sommer 2015 nicht doch die ehrlichere, vielleicht sogar die auch für Griechenland bessere Lösung gewesen wäre. Einen klassischen Schuldenschnitt, wie ihn Athen fordert und viele Experten aus guten Gründen befürworten, kann es unter Geltung des Bailout-Verbots des Maastricht-Vertrags nicht geben. Nach einem Ausscheiden aus dem Euro wäre ein Schuldenerlass sehr viel leichter möglich. Einem währungspolitisch autonomen Griechenland, das sich mit aller Kraft darum bemüht, wettbewerbsfähig zu werden, würde Europa sehr viel mehr als nur humanitäre Hilfe leisten müssen. Aber die Befürchtung, Geld in ein Fass ohne Boden zu schütten, fände dann keine Nahrung mehr. Und das würde der Hilfsbereitschaft der anderen Europäer, und nicht nur der Europäer, zugute kommen.

Der Euro hat entgegen den Erwartungen seiner Schöpfer die Völker Europas nicht näher zusammengeführt. Bislang hat er vielmehr dazu beigetragen, sie einander zu entfremden. Er hat wechselseitige Negativklischees verstärkt, alte Ressentiments wiederbelebt und neue Animositäten geweckt. Einstweilen ist Europa durch den Euro nicht europäischer, sondern nationalistischer geworden. Die gemeinsame Währung hat, so sieht es derzeit aus, die Völker der Euro-Zone überfordert, und zwar auf unterschiedliche Weise sowohl die der Weich- wie die der Hartwährungsländer. Die einen fühlen sich einem Diktat Deutschlands ausgeliefert, die anderen sehen sich durch ständige Appelle an ihre Solidarität ausgenutzt.

Vieles deutet darauf hin, dass die zentrifugalen Kräfte innerhalb der Währungsunion noch wachsen werden. Wenn es bei den bevorstehenden Parlamentswahlen auf der iberischen Halbinsel, in Portugal im September und in Spanien spätestens im Dezember, zu Regierungswechseln kommt, werden die neuen Kabinette in Lissabon und Madrid sich vermutlich eher den Positionen von Paris und Rom als denen von Berlin anschließen. In den Hartwährungsländern würde sich in diesem Fall die Opposition gegen weitere Konzessionen an die Mittelmeer-Länder verstärken. In Helsinki, Riga und Bratislava, und wohl nicht nur dort, müsste früher oder später mit einem gouvernementalen oder parlamentarischen Nein zu neuerlichen Hilfsmaßnahmen für Griechenland oder andere Weichwährungsländer gerechnet werden. Die Euro-Zone würde zerbrechen, die Europäische Union in einer Zeit großer Herausforderungen, in der sie mehr denn je mit einer Stimme sprechen müsste, in eine existenzielle Krise stürzen.

Die Lage ist so ernst, dass ihr mit pathetischen Beschwörungen von Idealen aus den Anfangsjahren der europäischen Einigungsbewegung nicht mehr beizukommen ist. Die Situation erfordert es vielmehr, radikal im Sinne von Karl Marx (und zugleich im Wortsinn) zu sein, also „die Sache an der Wurzel (zu) packen“.12 Der fast schon chronischen Krise der Euro-Zone liegt das zugrunde, was die alten Griechen das „proton pseudos“, die Urlüge, nannten. Die Bildung einer Währungsunion ohne gleichzeitige Errichtung einer Fiskal- und Politischen Union ist die tiefere Ursache der Probleme, mit denen sich die Euro-Zone herumschlagen muss. „Das eben ist der Fluch der bösen Tat, dass sie fortzeugend immer Böses muss gebären“: So heißt es in Schillers „Piccolomini“.13 Die isolierte Einführung des Euro war keine böse Tat, sie war eine gut gemeinte, aber folgenschwere Fehlentscheidung. Ob sie korrigiert werden kann, indem das in den neunziger Jahren Versäumte jetzt nachgeholt wird, ist offen. Gelingt die Korrektur nicht, droht nicht nur der Euro zu scheitern, sondern mit ihm das supranationale Projekt Europa, so wie es bisher verstanden wurde.

Der eingangs zitierte Roger Cohen ist nicht der erste, der von einer Rückkehr der deutschen Frage spricht. Vor allem in den USA und Großbritannien ist diese These seit mehreren Jahren im Umlauf, und auch in Deutschland hat sie einigen Zuspruch gefunden.14 Sie ist falsch. Nicht die 1990 gelöste deutsche Frage ist wieder offen, sondern die europäische Frage ist dem Vertrag von Lissabon zum Trotz weiterhin so offen, wie sie 1991 in Maastricht gelassen wurde. Die Erweiterung der Europäischen Union ist ihrer Vertiefung weit voraus­geeilt. So wie Griechenland den Zusammenhalt der Euro-Zone in Frage stellt, so tun dies Länder wie Ungarn und Rumänien durch ihre Verstöße gegen Grundprinzipien der EU im Hinblick auf den Staatenverbund im Ganzen. Von einem tragenden politischen Grundkonsens kann zurzeit weder in der engeren Union der 19 Euro-Länder noch in der EU der 28 die Rede sein. Der europäische Einigungsprozess sei unumkehrbar, so heißt es, und die Gemeinschaft aus Krisen immer gestärkt hervorgegangen. Wir sollten uns nicht darauf verlassen, dass es sich bei diesen Lehrsätzen um historische Gesetzmäßigkeiten handelt.

Prof. Dr. Heinrich August Winkler lehrte bis 2007 Neueste Geschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin und schrieb die Geschichte des Westens“ in vier Bänden.
 

  • 1oger Cohen: The German Question Redux, The New York Times, 13.7.2015.
  • 2Wilhelm Busch: Tobias Knopp, Kapitel 34.
  • 3Heinrich August Winkler: Geschichte des Westens. Band III: Vom Kalten Krieg zum Mauerfall, München 2014, S. 1018 f.
  • 4Jacques Attali: Verbatim. Tome 3: Chronique des années 1988–1991, Paris 1995, S. 74.
  • 5Deutscher Bundestag: Stenographischer Bericht, 12. Wahlperiode, S. 4367.
  • 6Hans-Peter Schwarz: Helmut Kohl. Eine politische Biographie. München 2012, S. 802.
  • 7Deutscher Bundestag: Stenographischer Bericht, 17. Wahlperiode, S. 17 685.
  • 8Yves Clarisse: La Grèce et l’Union européenne, un mariage de déraison, Reuters, 12.10.2011.
  • 9Ein Transkript der entsprechenden Rede vom 29.6.2015 findet sich unter http://europa.eu/rapid/press-release_SPEECH-15-5274_en.htm.
  • 10Heinrich August Winkler: Geschichte des Westens. Band I: Von den Anfängen in der Antike bis zur Gegenwart, München 2009, S. 301.
  • 11Carl Schmitt: Verfassungslehre, München 19281, S. 31 f.
  • 12Karl Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung (1843/44), in: ders.: Die Frühschriften, hrsg. von Siegfried Landshut, Stuttgart 1955, S. 207–224 (216).
  • 13Friedrich Schiller: Die Piccolomini (5, 21).
  • 14Heinrich August Winkler: Von der deutschen zur europäischen Frage. Gedanken über ein Jahrhundertproblem, Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 63 (2015), Heft 4 (Oktober).
Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, September/Oktober 2015, S. 17--23

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