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01. Sep 2011

Flucht aus der Verantwortung

Rücküberweisungen beenden Armut nicht

200 Millionen Migranten weltweit überweisen jährlich 325 Milliarden Dollar in ihre Heimatländer. Davon gehen laut Weltbank 20 Milliarden Dollar pro Jahr nach Afrika. Das Volumen der Rücküberweisungen afrikanischer Migranten ist seit 2000 um 55 Prozent gestiegen, obgleich Afrika der einzige Kontinent ist, auf dem dieses Volumen nicht das der Entwicklungshilfe übersteigt (s. Grafik S. 51). Rücküberweisungen sind eine Geldquelle, die IWF, Weltbank und westliche Regierungen gern anzapfen würden, um Afrikas wirtschaftliche Entwicklung voranzutreiben. Offiziellen Studien zufolge sind Rücküberweisungen eine verlässlichere Finanzquelle als Investitionen im privaten Sektor oder sogar als offizielle Entwicklungshilfe. Das mag auch damit zu tun haben, dass der Westen ganz froh wäre, noch weniger Geld für Entwicklungshilfe auszugeben – obwohl es bisher nicht gelungen ist, die entsprechenden UN-Forderungen zu erfüllen.

Tatsächlich machen in einigen afrikanischen Ländern Rücküberweisungen das Siebeneinhalbfache der von ihnen empfangenen Entwicklungshilfe aus. So speist sich etwa auf Kap Verde ein Viertel des Wirtschaftsaufkommens aus den Überweisungen der Migranten. Die Experten der Nationalbank Ghanas schätzen, dass diese Geldströme etwa einem Fünftel des nationalen Exportvolumens entsprechen. Und in Lesotho stammen 30 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) aus Rücküberweisungen, die im benachbarten Südafrika erwirtschaftet werden, dem wichtigsten Zielland innerafrikanischer Migration.

Ein gemeinsamer Bericht der Afrikanischen Entwicklungsbank und des französischen Finanzministeriums, der im Januar 2008 veröffentlicht wurde, betrachtet die Situation in fünf Ländern, die Frankreich traditionell besonders verbunden sind. Der Senegal, Mali und die Komoren waren die auffälligsten Länder der Studie: 2005 wurden 600 Millionen Dollar in den Senegal überwiesen (19 Prozent des BIP und 218 Prozent der offiziellen Entwicklungshilfe), Mali erhielt 394 Millionen Dollar (11 Prozent des BIP, 79 Prozent der offiziellen Entwicklungshilfe) und die Komoren 94 Millionen Dollar (24 Prozent des BIP, 346 Prozent der offiziellen Entwicklungshilfe).

Ein Paradebeispiel dafür ist Nigeria, denn jeder fünfte afrikanische Migrant stammt von dort. Die Weltbank hat das Phänomen untersucht: Seit 1999 haben im Ausland lebende Nigerianer nach Angaben der Weltbank 28 Milliarden Dollar nach Hause geschickt. 30 Prozent des Geldes, die über die US-Bank Western Union im subsaharischen Afrika abgewickelt werden, gehen nach Nigeria. Die First Bank, ein Franchise-Unternehmen der Western Union, unterhält mehr als 200 Zweigstellen im Land, bei denen Auslandsüberweisungen mit Abstand das wichtigste Geschäftsfeld bilden. Das hohe Finanzvolumen der Rücküberweisungen hat afrikanische Regierungen zum Nachdenken gebracht. Hält Afrika hier ausnahmsweise einmal den Schlüssel für seine Entwicklung selbst in der Hand?

Die Interessen des Westens

„Afrika muss eine Strategie entwickeln, um seine im Ausland lebenden Bürger mit einzubeziehen. Nigeria kommt dabei eine besondere Rolle zu“, sagt der ehemalige US-Botschafter in Nigeria, Howard Jeter. „Das finanzielle, technologische und intellektuelle Potenzial der Diaspora ist von unschätzbarem Wert. Afrika muss diese Ressourcen nutzen: für die Entwicklungspolitik, die Ernährungssicherheit, die Energieversorgung, den Kampf gegen Umweltzerstörung und Aids.“ Man wird den Verfechtern dieser These wohl nicht zu nahe treten, wenn man feststellt, dass auch hier eigene Interessen Pate standen. Denn die Gehälter im Ausland arbeitender Afrikaner fließen durch westliche Banken. Diese verbuchen Gewinne aus Devisengeschäften und Transaktionsgebühren. Mit anderen Worten: Afrikanische Länder bezahlen für ihre eigene Entwicklungshilfe.

Alles nicht weiter schlimm, könnte man argumentieren, solange sich Rücküberweisungen positiv auf die Wirtschaft afrikanischer Staaten auswirken. Doch ist das wirklich so? Wir wissen, dass Familien, die Geld von im Ausland arbeitenden Familienmitgliedern erhalten, einen höheren Lebensstandard genießen als der Durchschnitt. Aber wir wissen auch, dass dieses Geld nicht für Langzeitinvestitionen genutzt wird, sondern für kurzfristigen Konsum.

Laut Jean-Pierre Garson, Migrationsexperte bei der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), sind „eindeutige Auswirkungen auf die Entwicklung nicht feststellbar, besonders wenn man den Verlust an Arbeitskräften in Rechnung stellt, den Emigration mit sich bringt“. Zumal in afrikanischen Ländern „Humankapital sehr viel wertvoller ist als Finanzkapital“, wie Ravinder Rena vom Eritrea Institute of Technology ergänzt, „da nur das Humankapital einer Nation in realen Wohlstand umgewandelt werden kann. Unter heutigen Bedingungen bliebe Afrika arm, selbst wenn wir all das Geld dieser Welt dorthin senden würden.“

Und: Diese Transfers können neue Abhängigkeiten schaffen. „Rücküberweisungen sind nicht dazu angetan, die Entwicklung zu fördern“, so Ravinder Rena, „weil sie nicht für Investitionsgüter ausgegeben werden, sondern für unproduktive Zwecke – Unterkunft, Lebensmittel, Landerwerb, Transport, Schuldentilgung; andere horten das Geld oder verprassen es für Luxusgüter.“

Hinzu kommt noch, dass wir in einigen afrikanischen Ländern, die Rücküberweisungen erhalten, einen Teufelskreis aus Bodenspekulation und Preissteigerungen beobachten. In Ghana kam eine Forschergruppe zu dem Schluss, dass das Geld von Migranten „die Preise in die Höhe schnellen lässt und dazu führt, dass es Einheimische schwerer haben, Wohneigentum zu erwerben. Hausbesitzer verkaufen lieber an Migranten als an Ortsansässige, weil jene höhere Preise zahlen können – und zwar in bar.“

Die französische Regierung hat in den vergangenen Jahren einige Initiativen gestartet, um Rücküberweisungsgelder in langfristig angelegte Investitionsprojekte umzuleiten und so einen produktiveren Nutzen des Geldes zu sichern. So können Immigranten, die in Frankreich leben und in ihre Heimatländer investieren möchten, ein besonderes Sparkonto eröffnen, das Entwicklungsinitiativen unterstützt und Steuervergünstigungen in Höhe von 25 Prozent bietet.

Diese Politik verfolgt vornehmlich ein Ziel: Steuerung der Entwicklungsströme durch „Co-Développement“. Die Überweisungen der Migranten sollen in Projekte im Bildungs- und Gesundheitswesen und in Unternehmensgründungen investiert werden, um potenziell Ausreisewillige zu bewegen, in Afrika zu bleiben. Eine Politik, die nach Auffassung von Armand Adotevi, Wirtschaftsanwalt aus Benin, in erster Linie Frankreich selbst zugute kommt: „Sie versuchen uns mit dem Gerede von Steuerbefreiungen und dem Verdoppeln und Verdreifachen von Zinsen, die auf Erspartes anfallen, hinters Licht zu führen und halten uns Vorträge darüber, was gut für uns ist. So stehlen sie sich aus ihrer Verantwortung, Entwicklungshilfe zu leisten. Hat man je davon gehört, dass afrikanische Regierungen Europäern Vorschriften machen, wie sie die nach Hause transferierten Gewinne aus afrikanischen Geschäften anlegen sollen?“

Rücküberweisungen werden die Armut nicht beenden. Ohnehin könnte sich das Volumen der Transfers durch eine neue Finanzkrise dramatisch reduzieren. Ist das wirklich eine verlässliche Finanzquelle für langfristige Entwicklungspolitik, solange sich die Gesetze der Weltwirtschaft und des Welthandels nicht ändern? IWF und Weltbank zementieren mit ihren Vorschlägen die Ungleichheiten des globalen Finanzsystems und liefern eine Ausrede für all jene, die keine Entwicklungshilfe leisten wollen. Sie befreien den Westen und internationale Finanzinstitutionen von ihrer Verantwortung für die Übel der Welt, indem sie die Last den Armen auferlegen.

ANNE-CÉCILE ROBERT ist Redakteurin der Zeitschrift Le Monde diplomatique.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, September/Oktober 2011, S. 46-49

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