IP

01. Nov. 2010

Fairness und Physik

Gerechtigkeit im globalen Klimaschutz

Der gegenwärtige Stillstand der internationalen Klimaverhandlungen hat vor allem eine Ursache: die kontroversen Ansichten in Sachen Lastenteilung. Doch wer jetzt nach weicheren Zielen ruft, anstatt die Gründe für Blockaden zu analysieren und entsprechend zu handeln, der versagt in dieser historischen Frage.

Wenn es überhaupt einen nennenswerten Erfolg bei der Klimakonferenz von Kopenhagen gegeben hat, so liegt dieser in der Bestätigung der 2°C-Leitplanke als Richtschnur für die globale Klimapolitik. Doch will man die 2°C-Linie mit einer akzeptablen Wahrscheinlichkeit halten, dann müssen die globalen CO2-Emissionen bis spätestens 2020 ihren Scheitelpunkt erreicht haben und danach deutlich und kontinuierlich sinken. Die für das anbrechende Jahrzehnt entscheidenden Fragen für die Weltgemeinschaft sind daher: Wie können wir diesen Transformationsprozess auf globaler Ebene gestalten, wie die Lasten gerecht verteilen?

Kürzlich ist eine Reihe von Beiträgen in der IP erschienen, die sich mit Strategien zur Bewältigung des Klimawandels auseinandersetzen.1 So plädieren Michael Shellenberger und Ted Nordhaus für massive staatliche Investitionen in die Forschung und Entwicklung von kohlenstoffarmen Technologien und für die Schaffung dazugehöriger Infrastrukturen. Sie argumentieren, dass marktbasierte Lösungen mittels Kohlenstoffbepreisung und verwandter Instrumente bei konsequenter Anwendung zu stark steigenden Energiepreisen führen und dadurch ein Risiko für politische Entscheidungsträger darstellen. Ein auf Regulierung setzender Klimaschutz dürfte weit hinter dem Notwendigen zurückbleiben – weshalb aus Sicht von Shellenberger und Nordhaus weitere Verhandlungen eines auf Emissionsreduktionen fokussierten internationalen Abkommens nicht sinnvoll erscheinen.

Demgegenüber setzen Sascha Müller-Kraenner und Martin Kremer sehr wohl auf einen multilateralen Verhandlungsansatz im Rahmen der UNFCCC. Allerdings regen sie angesichts der gegenwärtigen Blockaden eine „europäische Klima-Realpolitik“ an, die auch gezielt Bottom-up-Ansätze mit strategischen Partnern in ausgewählten Politikfeldern ermutigt und integriert. Und Oliver Geden fordert angesichts der  tatsächlichen oder vermeintlichen Hürden für eine klimaphysikalisch angemessene und quantitativ nachprüfbare internationale Übereinkunft gar die Abkehr von der aus seiner Sicht mittlerweile illusorischen 2°C-Leitplanke sowie eine exklusive Neuausrichtung auf „kleinerskalige“ Ansätze „von unten“ – mit der EU in einer vage skizzierten Rolle als Vorreiterin des globalen Dekarbonisierungstrosses.

Nun ist die von Geden zusammengestellte Liste von Maßnahmen zur Schaffung einer europäischen „Green Economy“, die weltweit Nachahmer finden könnte, durchaus sinnvoll. Würde uns die Natur ein größeres Zeitfenster zum globalen Umsteuern zur Verfügung stellen und könnten wir uns auf einen globalen Emissionsscheitelpunkt in 20 oder mehr Jahren einlassen, dann gäbe es vielleicht die Möglichkeit, den lästigen multilateralen Verhandlungen mit all den Forderungen nach Finanz- und Technologietransfers aus dem Weg zu gehen. Grüne Technologien könnten durch gezielte Fördermaßnahmen in Industrieländern verbilligt werden und zu gegebener Zeit weltweit zu wettbewerbsfähigen Bedingungen zur Verfügung stehen. Ein derartiges Szenario für „nachholende Dekarbonisierung“ in Entwicklungs- und Schwellenländern, das der Autor wohl suggerieren möchte, hätte in der Tat wenig mit der 2°C-Beschränkung zu tun, ja würde durch das Festhalten an dieser Leitplanke unnötig belastet.

Globale Trippelschritte

Wer aber die Realpolitik einfordert, darf sich erst recht nicht um die Realphysik herummogeln. Soll das Ziel der internationalen Klimapolitik – die Vermeidung gefährlicher Erderwärmung – nicht gleich mit dem diplomatischen Bade ausgeschüttet werden, dann kann die Zeitlichkeit einer Strategie nicht ignoriert werden. Dies tut jedoch eine politische Philosophie, die etwa als nationale Zielvorgabe den Zustand der Null-Emissionen in unbestimmter Zukunft anregt. Dass diese Transformation also viel zu spät erfolgen könnte, um gefährliche Klimaveränderungen zu verhindern, kann auch dem Realpolitiker nicht gleichgültig sein.

Was in Gedens Analyse weitgehend ausgeblendet wird, ist die Verantwortung der Industrieländer über ihre Landesgrenzen hinweg, ein globales Dekarbonisierungsprojekt noch in dieser Dekade zu starten – und ihren Beitrag dafür zu leisten, den Scheitelpunkt der weltweiten Emissionen tatsächlich in den nächsten Jahren herbeizuführen. Dies setzt allerdings die Bereitschaft insbesondere Deutschlands und der EU voraus, die unzureichenden Strukturen des Kyoto-Protokolls zu reformieren und deutlich mehr Verhandlungsmasse in den Prozess einzubringen. Als Alternative ins Spiel gebrachte multilaterale Abkommen mit Entwicklungsländern können allzu leicht als Feigenblatt dafür dienen, den relevanten Verteilungslösungen als Voraussetzung ambitionierter globaler Emissionsminderungen aus dem Weg zu gehen. Das Ergebnis wären nicht Zugewinne bei der Treibhausgasvermeidung, wie sie Geden vorschweben, sondern weitere globale Trippelschritte, die hinter die notwendigen Fortschritte zurückfielen.

Denn die Zeit für einen echten Durchbruch bei den Klimaverhandlungen drängt mit jedem verlorenen Jahr stärker. Deutschland und die EU sollten sich in Cancún gerade nicht mit „Klima-Realpolitik“ begnügen, sondern entschieden versuchen, große Schwellenländer wie China, Indien oder Brasilien  einzubinden. Emissionssteigerungen in diesen stark wachsenden Volkswirtschaften werden den globalen Treib-hausgasausstoß maßgeblich bestimmen und über Wohl und Wehe globaler Klimaschutzbemühungen entscheiden. Nur wenn kooperationswillige Staaten jetzt das Ruder ergreifen, lässt sich ein Zerfall des Verhandlungsprozesses in Richtung kleinster gemeinsamer Nenner vermeiden.

Soll die 2°C-Leitplanke nicht nur auf dem Papier Bestand haben, muss über eine faire Aufteilung des begrenzten Deponieraums für Treib-hausgase in der Atmosphäre verhandelt werden. In Cancún und bei Folgeverhandlungen müssen wirksame Politikinstrumente gefunden werden, um den verbleibenden „Kohlenstoffkredit“ der Menschheit bei der Natur optimal zu nutzen. Der im September 2009 vorgestellte Budgetansatz des WBGU hat diesen Kredit auf weniger als 1000 Milliarden Tonnen Kohlendioxid bis zum Ende des 21. Jahrhunderts quantifiziert und angeregt, ihn mit gleichen Anrechten pro Kopf auf die Weltbevölkerung zu verteilen. Ein solches Verteilungsprinzip wird auch von Forscherkollegen aus den großen Schwellenländern gefordert, wobei die Wahl des Basisjahrs für die Berechnung nationaler Budgets weiter stark debattiert wird.

Die bisher von den Industrieländern verfolgte Strategie, Reduktionsverpflichtungen auf eigene Referenz-emissionen zu beziehen, greift zu kurz. Eine strukturelle Weiterentwicklung des bisherigen Klimaregimes ist dringend geboten, verbunden mit einer Neuausrichtung der Klimaverhandlungen auf ein gerechtes und praktikables Burden Sharing zwischen den großen Treibhausgasverursachern. Zentral für das Gelingen eines solchen Global Deal ist der Einsatz leistungsfähiger Emissionshandelsmechanismen. Sie sind eine notwendige Bedingung für die weltweite Emissionstrendwende, auf deren Basis sich eine Technologiepolitik im Sinne von Shellenberger/Nordhaus überhaupt erst voll entfalten kann.

Strategievorschlag

Ein Strategievorschlag mit angemessener Zeitlichkeit ist der 2°max-Ansatz, der im April 2010 vorgestellt wurde.2 Die Sicherstellung des Gipfelns der globalen Emissionskurve im Jahr 2015 steht im Zentrum der Überlegungen. Anstelle des bisherigen „Klimabasars“ von individuell zu verhandelnden Reduktionsverpflichtungen, bei denen die Entwicklungsländer kaum beteiligt sind, wird eine am Klimaziel ausgerichtete Mengenbegrenzung angeregt, die möglichst global definiert wird. Durch eine Gleichverteilung der über einen längeren Zeitraum kumulierten Emissionsrechte auf Pro-Kopf-Basis würden die Entwicklungsländer aktiv in das System eingebunden, da sie bei nachhaltiger klimafreundlicher Entwicklung Einnahmen aus dem Verkauf nicht benötigter Emissionsrechte erzielen würden. Gleichzeitig stellt ein leistungsfähiges Emissionshandelssystem auf Brennstoffebene sicher, dass die Emissionsbeschränkungen nicht nur auf dem Papier existieren, sondern mittels eines einheitlichen CO2-Marktpreises auch länderübergreifend eingehalten werden. Dabei wird dem Faktum Rechnung getragen, dass viele einflussreiche Länder, wie etwa China, national definierte Emissionsgrenzen ablehnen. Deshalb ist es wichtig, eine globale Emissionsbeschränkung einzuführen und dadurch Flexibilität und Effizienz bei der Erreichung von gemeinsamen Zielen zu schaffen, während der Allokationsschlüssel der Gerechtigkeit Rechnung trägt.

Angesichts der derzeitigen Blockadehaltung der USA und konträrer Interessen bei den großen Exportländern fossiler Energieträger ist es unwahrscheinlich, einen ambitionierten globalen Ansatz bereits in naher Zukunft vollständig umzusetzen. Aus strategischer Sicht kommt es darauf an, dass die an einem entstehenden integrierten Klimaschutzsystem beteiligten Staaten ihre Wettbewerbsfähigkeit gegenüber Trittbrettfahrern, die nicht zur Kooperation bereit sind, schützen. Klimazölle könnten ein Mittel sein, diesem Problem zu begegnen und die Kooperationswilligkeit zu erhöhen, da sich Untätigkeit nicht auszahlen würde. Technologiekooperation innerhalb der Koalition könnte ebenfalls dazu beitragen, die Anreize für Mitarbeit zu erhöhen und neue Partner zu gewinnen.

Wenn die Klimaverhandler in Cancún zusammentreffen, darf es nicht wieder einen unverbindlichen Formelkompromiss wie in Kopenhagen geben. Noch verbleibt etwas Zeit, die nötigen Weichenstellungen vorzunehmen, um gefährlichen Klimawandel abzuwenden. Die 2°C-Leitplanke lässt sich mit akzeptabler Wahrscheinlichkeit einhalten, konkrete Vorschläge dafür liegen auf dem Tisch. Wer angesichts des stockenden Verhandlungsprozesses jetzt nach weicheren Zielen ruft, anstelle die Gründe für Blockaden zu analysieren und entsprechend zu handeln, der versagt in dieser historischen Frage. Das können Deutschland und die EU nicht verantworten, das kann sich die Welt nicht leisten.

Prof. Dr. HANS JOACHIM SCHELLNHUBER ist Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (PIK).

DANIEL KLINGENFELD ist Referent beim Wissenschaftlichen Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU).

  • 1Michael Shellenberger und Ted Nordhaus: Vergesst Kyoto! Investieren – nicht regulieren, IP, 
Februar 2009; Shellenberger/Nordhaus: Emission und Illusion. Was einem Wandel der amerikanischen Energiewirtschaft entgegensteht, IP – Online Exklusiv, März 2010; Sascha Müller-Kraenner und Martin Kremer: Von Kopenhagen nach Cancún. Roadmap für eine europäische Klima-Real-politik, IP – Online Exklusiv, Juli 2010; Oliver Geden: Abschied vom Zwei-Grad-Ziel. Eine kluge 
Klimapolitik sollte sich von der Festlegung einer Obergrenze lösen, IP, September/Oktober 2010.
  • 2Lutz Wicke, Hans Joachim Schellnhuber und Daniel Klingenfeld: Nach Kopenhagen: Neue Strategie zur Realisierung des 2°max-Klimazieles, PIK Report Nr. 116, April 2010. In überarbeiteter Fassung: Die 2°max-Klimastrategie – Ein Memorandum, Münster, September 2010.
Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, November/Dezember 2010, S. 114-117

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