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01. Juni 2008

Europas koloniale Zwickmühle

Lässt die Europäische Union den Balkan erneut im Stich?

Nach der Euphorie des Gipfels von Thessaloniki 2003 ist der hoffnungsvolle Aufbruch der Balkan-Länder in Richtung Europäische Union ins Stocken geraten. Europa muss jetzt seine strategischen Ziele neu abwägen – und es muss realisieren, dass die Krise seiner Politik der Soft Power auf dem Balkan eine Krise des europäischen Projekts an sich ist.

„Der Balkan war eine Gegend, aus der keine neuen Nachrichten kamen, sondern wo man lediglich den Niedergang der Wirtschaft, die Auflösung der Machtstrukturen und eine Geschichte ethnischer Rivalitäten beobachten konnte“, schrieb Robert Kaplan in seinem berühmten, 1993 erschienenen Buch „Die Geister des Balkan“.1 Es hieß damals, dass der amerikanische Präsident Bill Clinton das Buch gelesen und sich daraufhin entschieden habe, während der blutigen serbischen Angriffe auf die muslimische Bevölkerung nicht in Bosnien zu intervenieren. In seinem Vorwort zur Neuauflage von 1996 sprach sich Kaplan dann für Interventionen auf dem Balkan aus, „wo sich überwältigende moralische Überlegungen mit strategischen überlagern“.

Heute, 15 Jahre später, erscheint die Situation auf dem Balkan unverändert, obwohl sich der internationale Kontext gewaltig verändert hat. Zwar gehört Milosevics Blutvergießen der Vergangenheit an, aber die Region ist immer noch nicht in der Lage, positive Nachrichten zu produzieren: Die Wirtschaft entwickelt sich nicht, nationalistisch orientierte Politiker kontrollieren die Machtstrukturen, und die ethnischen Rivalitäten werden in der Alltagspolitik instrumentalisiert. Statt einer Europäisierung des Balkans beobachten wir gegenwärtig eher eine Balkanisierung Europas, wo die Politik von nationalstaatlichen Überlegungen bestimmt ist und die Vision eines gemeinsamen europäischen Projekts in der Öffentlichkeit verdrängt wird von Ängsten vor einer sich verschlechternden Wirtschaft und sozialen Zukunft Europas. Andererseits ist der Wunsch, „den langwierigen Aufenthalt der eigenen Truppen auf dem Balkan zu einem Ende zu bringen“, wie Charles Kupchan es kürzlich in einem Aufsatz in Foreign Affairs formulierte, das Hauptmotiv der amerikanischen Politik in der Region geblieben. Die „moralischen Überlegungen“, die Kaplan in den neunziger Jahren beschwor – im Einklang mit der Mehrheit der westlichen Politiker, Medien und Öffentlichkeit – scheinen sich verflüchtigt zu haben. Lassen Sie uns also einen Blick werfen auf die strategischen Überlegungen und auf mögliche Szenarien für eine mittelfristige Entwicklung des Balkans. Verpasste Gelegenheiten

Um diese Analyse richtig einzuordnen, sollte man sich einige zentrale Fakten in Erinnerung rufen: Die Einwohner des westlichen Balkans machen gerade vier Prozent der gesamten EU-Bevölkerung aus, 22 Millionen Menschen – genauso viel wie die Bevölkerung des neuesten EU-Mitgliedsstaates Rumänien. Der gesamte Handel findet fast ausschließlich mit der EU statt, mit einem immer noch ansteigenden Außenhandelsdefizit von derzeit mehr als 33 Prozent. Dank der beschleunigten Privatisierung von Staatsunternehmen fließen rekordverdächtige Summen direkter ausländischer Investitionen in die Region, die 2007 bis zu zehn Prozent des Bruttosozialprodukts ausmachten. Doch der Mangel an ausreichenden Strukturreformen führt zu einer anhaltend hohen Arbeitslosigkeit. Die Region erhält beeindruckend hohe Zuschüsse der EU – rund 800 Millionen Euro jährlich allein aus dem „Instrument for Pre-Accession Assistance“ (IPA), worin die Kosten für die hier stationierten Truppen und Polizeikräfte noch nicht enthalten sind. Es liegt auf der Hand, dass das Objekt unserer Analyse nur einen relativ kleinen Raum an der EU-Peripherie einnimmt und Hilfen erhält, die nicht zu schnellerer Entwicklung führen, sondern sogar eher zu einer Entwicklungskluft zwischen den Ländern des westlichen Balkans und den neuen EU-Mitgliedsstaaten.

Nach der Intervention des Westens im Kosovo 1999 und dem Sturz von Milosevic im Jahr 2000 durchlebte der westliche Balkan ein Jahrzehnt mit keinen (größeren) Konflikten, relativem (aber nicht ausreichendem) Wachstum und einer Annäherung an die EU. Dieser Stabilisierungsprozess erreichte seinen Höhepunkt, als 2003 auf dem Gipfel in Thessaloniki der Region die Mitgliedschaft in der EU in Aussicht gestellt wurde. Die europäische Integration war nicht nur der logische Schritt auf dem Weg, den Balkan wieder dahin zu bringen, wo er hingehört; sie war auch das einzige effektive Instrument, um die Ökonomie, Verwaltung und Gesellschaft der einzelnen Staaten zu transformieren. Die Beispiele Rumäniens und Bulgariens, die noch von einem niedrigeren Niveau als die meisten Länder des westlichen Balkans aus begonnen und alle Facetten des öffentlichen Lebens in ihren Staaten radikal reformiert hatten, waren gewichtige Argumente zugunsten einer Erweiterungsstrategie für die ganze Region. Es hätte ein Wendepunkt der Geschichte sein können, an dem der Balkan die Nullsummenspiele seiner Vergangenheit und die Dominotheorien seiner Gegenwart hätte vergessen können. Und die Europäische Union hätte demonstriert, dass sie tatsächlich die Kraft hat, schwache Staaten und gespaltene Gesellschaften zu transformieren.

Mit den stationierten Truppen und den riesigen Hilfsbeiträgen, die den Ländern des Balkans seit 1999 jährlich gezahlt wurden, lief der Westen – besonders die EU – nach und nach Gefahr, sich auf dem Balkan in eine Kolonialmacht zu verwandeln, die gerade noch in der Lage war, den Status quo aufrechtzuerhalten. Die Glaubwürdigkeit der EU basierte in der gesamten Region und darüber hinaus weitgehend auf ihrem Image einer „sanften Macht“: Ihre Einflussnahme geschah durch die Erweiterungspolitik. Doch die 2005 gescheiterten Referenden über die EU-Verfassung in Frankreich und den Niederlanden und die darauf folgende Krise des europäischen Projekts haben die Integration des westlichen Balkans wieder von der Tagesordnung verdrängt. Das französische und niederländische Misstrauensvotum gegenüber der Politik Brüssels – auf Gebieten, die mit den Problemen des -Balkans nicht das Geringste zu tun hatten – hatten negative Auswirkungen auf die Erweiterungspolitik und machten die Versprechen von Thessaloniki unglaubwürdig.

In ihrer Abschlusserklärung von 2006 hat die Internationale Kommission für den Balkan davor gewarnt, dass die Region angesichts des Mangels von ausreichendem Wirtschaftswachstum, funktionierenden Staaten und glaubwürdigen europäischen Aussichten Gefahr läuft, zu einem Ghetto am Rande der EU zu werden. Das Fehlen einer glaubwürdigen europäischen Zusage für eine Mitgliedschaft hat im Fall des Kosovo den wichtigsten Antrieb für Belgrad und Pristina, sich auf eine gemeinsame Lösung zu einigen, wegfallen lassen.

Neue Führer, neue Nationalismen, neuer Isolationismus

Das „window of opportunity“, das in Folge der europäischen Verfassungskrise auf dem Balkan zugefallen ist, hat andererseits Raum für neue Entwicklungen in der Region geschaffen. Nach außen hinnehmen die politischen Eliten der Balkan-Länder für sich in Anspruch, dass sie immer noch an dem Ziel festhalten, den Reform- und Integrationsprozess voranzutreiben. Mit der schwindenden Aussicht auf eine Mitgliedschaft hat jedoch die Soft Power Brüssels an Kraft verloren – und damit auch die legitimierende Rolle der EU im Verlauf des schmerzhaften Reformprozesses. Eine neue politische Haltung hat die „Technokraten“ der neunziger Jahre ersetzt; eine Gruppe neuer populistischer Führer hat die Bühne betreten, erwachsen aus dem gescheiterten Integrationskonsens.

Die meisten neuen Politiker des Balkans mögen es zwar ablehnen, sich als „Nationalisten“ zu bezeichnen – doch in der Praxis entspricht ihr Verhalten den meisten Merkmalen dieses Begriffs. So werden sie zwar keinen Krieg mit ihren Nachbarn vom Zaun brechen, aber alle Chancen ihrer Nachbarn blockieren. Sie werden zwar kein Großserbien oder Albanien, Kroatien, Mazedonien fordern, aber dennoch hängen sie – weit entfernt von den Vorstellungen der postmodernen Ära – an einem Begriff von „territorialer Integrität“, der möglicherweise nur auf dem Papier existiert und keinen Bezug hat zur Wirklichkeit vor Ort. Die neuen Führer glauben mehr an bilaterale Lösungen als an supranationale Vereinbarungen; symbolische Fragen nationaler Natur haben Vorrang.

Die kürzliche Unabhängigkeitserklärung des Kosovo ist bezeichnend für diese Elemente des neuen politischen Stiles. Natürlich war die Art der Ausrufung den Historikern des Balkans vertraut, seit vor mehr als 100 Jahren die meisten der „älteren“ Balkan-Nationen ihre Nationalstaaten gründeten. Das Kosovo war wahrscheinlich der letzte Staat der Region, dessen Bemühungen um nationale Unabhängigkeit formal befriedigt wurden – nachdem es de facto schon seit 1999 und der Annahme der UN-Resolution 1244 unabhängig von Serbien gewesen war. Auch wenn dem Kosovo bisher noch kein Weg zur Integration in die EU angeboten worden ist, hat der emotionale Prozess im Zusammenhang mit der formalen Erklärung der Unabhängigkeit seither ausreichend Legitimität geschaffen für eine Kooperation mit dem Westen (entlang der Leitlinien des Ahtisaari-Planes) und für die umfangreiche Präsenz von EULEX, der EU-Mission, die entscheidende Teile der Regierungsgewalt im Kosovo übernehmen wird. Im Laufe der Zeit, wenn die Emotionen abkühlen, könnten die gravierenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten jedoch durchaus Spannungen hervorrufen, die sich dann gegen die Fremdaufsicht über die Regierungsgewalt des jungen Landes richten werden. Mit der Unabhängigkeitserklärung hat sich nichts Grundlegendes am Status des Kosovo als einem Quasi-Protektorat des Westens verändert; und die kosovarische Öffentlichkeit wird diese Tatsache früher oder später realisieren.

Der Fall Kosovo hat unglücklicherweise langanhaltende negative Auswirkungen auf die politische Szene Serbiens. Seit der Ermordung von Premierminister Zoran Djindjic im März 2003 haben seine Nachfolger Boris Tadic (als Vorsitzender der Demokratischen Partei/DS und Präsident Serbiens) und Vojislav Koätunica (als Ministerpräsident und Vorsitzender der Demokratischen Partei Serbiens/DSS) das Kosovo ständig ins Zentrum ihrer Kampagnen gestellt. Es erübrigt sich fast zu sagen, dass dies in noch stärkerem Maße für die Radikale Partei, die Partei der serbischen Nationalisten, gilt, die zunächst von Vojislav Seselj geführt wurde und nach dessen Verhaftung durch den Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien von Tomislav Nikolic geleitet wird. Die politischen Unterschiede zwischen den drei Wahlbündnissen in Serbien, die die Wählerschaft in „proeuropäische Demokraten“, „Nationalisten“ und „Neutrale“ aufgespalten hatte, wurden immer unpräziser, je näher die Unabhängig des Kosovo rückte. Als die Mehrheit der politischen Führer Serbiens, unter Einschluss jener vom demokratischen Block, erkannte, dass der Preis für eine schnelle EU-Integration die Abspaltung des Kosovo sein würde, setzten sie auf eine strikt territoriale Strategie. Die Wirtschaftsschwierigkeiten, die hohe Arbeitslosigkeit und die fehlende Integration des Landes in die europäisch-atlantischen Strukturen resultieren aus dieser Entscheidung. Acht Jahre nach dem Sturz Milosevics, und nachdem ausschließlich Politiker der demokratischen Parteien das Land regiert haben, ist Serbien immer noch international isoliert und hinkt in Bezug auf EU-Nähe allen anderen Ländern des westlichen Balkans hinterher. Die Strategie, die Frage des Kosovo von der Integrationsfrage abzukoppeln, die nach den Wahlen vom 11. Mai von der Demokratischen Partei gewählt wurde, könnte Belgrad endlich aus der Isolierung herausführen.

Innerhalb des Rahmens, der für die Integration der Länder Mittel- und Osteuropas in EU und NATO aufgestellt worden war, endete der NATO-Gipfel in Bukarest Anfang April für Kroatien und Albanien mit einem Seufzer der Erleichterung: Sie wurden eingeladen, sich um eine Mitgliedschaft zu bewerben. Obwohl die Parameter für ihre potenzielle EU-Mitgliedschaft noch nicht klar sind, wurde damit der erste Schritt in die Richtung gemacht, „Teil des Klubs“ zu werden – so zumindest wurde es von der jeweiligen Öffentlichkeit empfunden. Unter diesem Gesichtspunkt war jedoch die Blockade der Kandidatur Mazedoniens für die NATO und anschließend auch der für die EU ein Doppelschlag gegen die Reformbestrebungen in diesem Land. Die Erfüllung der Mitgliedschaftskriterien, das Schritthalten im Reformprozess trotz eines schwierigen interethnischen Gleichgewichts, scheint nach Bukarest keine Rolle mehr zu spielen. Darüber hinaus etablierte das griechische Veto gegen Mazedonien den neuen Politikstil, in dem politische Führer rückwärtsorientierte, defensive nationale Politik betreiben. Das Fehlen entschiedenen Druckes auf Griechenland – sowohl aus den Reihen der EU als auch der befreundeten Partner aus der NATO – demonstriert, dass sich solches Verhalten bezahlt macht. Der Serbe Koätunica und der Grieche Karamanlis werden so zu siegreichen Vorbildern, denen es nachzueifern gilt. Fast ein Jahrzehnt nach dem Abkommen von Dayton funktioniert Bosnien weiterhin als ein internationales bzw. EU-Protektorat, in dem der Hohe Repräsentant über die „Bonn-Powers“ verfügt. Die Probleme im Zusammenhang mit der berüchtigten Polizeireform offenbaren zwei fundamentale Fragen in Bosniens Staatswesen.

Eine betrifft die inneren Strukturen: Wird Bosnien eher als Föderation oder als Zentralstaat Erfolg haben? Experten der internationalen Gemeinschaft und unter Bosniens politischen Akteuren meinen, dass Bosnien ein einheitlicher Staat sein sollte. Nach seiner gültigen Verfassung ist Bosnien jedoch eine Föderation. Die zweite Frage betrifft die Macht der internationalen Gemeinschaft. Zunächst verordnete das Büro des Hohen Vertreters in einer Frage, die einer ernsthaften Debatte bedurft hätte, seine Sicht der Dinge. Dann nahm es zur Kenntnis, dass die Polizeireform nicht verordnet werden konnte, da die EU sehen wollte, dass diese von den bosnischen Politikern umgesetzt wurde. Jedoch geht der Einfluss Brüssels auch deshalb allmählich zurück, weil man bisher an der Unterzeichnung eines Stabilitäts- und Assoziierungsabkommens mit Bosnien gescheitert ist. Es ist somit das letzte Land der Region geblieben, das ein solches Abkommen noch nicht unterschrieben hat.

Die Spekulationen über eine mögliche Abspaltung der Republika Srpska werden zunehmend populärer – auch wenn das bisher noch keine Auswirkungen auf die nationale Politik hat.

Spiegelbilder

Vor dem Hintergrund einer sich verschlechternden Performance der jüngsten EU-Mitglieder, die alle aus Südosteuropa kommen, ist auf dem Balkan heute eine Politik im Stil des 19. Jahrhunderts en vogue. Was Bulgarien und Rumänien im ersten Jahr seit ihrem Eintritt in die Union geleistet haben, begeisterte weder die europäischen Bürokraten noch die Öffentlichkeit und die Politiker in der EU. Wenn nun aber Politik und Politiker im Stil des 19. Jahrhunderts auf dem Balkan kritisiert werden, muss man sich unausweichlich fragen: Ist Europa selbst denn immer noch ein postnationales Territorium, in der Alle-Gewinnen-Strategien die Nullsummenspiele der Vergangenheit ein für alle Mal abgelöst haben? Das Beispiel Griechenlands – das mit Unterstützung von Frankreich Mazedoniens Integration zunächst in die NATO und dann auch in die EU wegen einer symbolischen Streitfrage, die für Athen von nationaler Bedeutung ist, blockiert hat –, sendet da andere Signale auf den Balkan. Die Rhetorik von Solidarität und die moralischen Argumente aus den Anfängen dieses Jahrzehnts sind ersetzt worden durch eine harte, vom Nationalstaatsgedanken bestimmte Realpolitik, die keine Rücksicht nimmt auf regionale Sicherheit und gemeinsame strategische Ziele für eine Entwicklung durch Stabilität.

Ähnlich gefährliche Signale kommen aus dem fast vor dem Zerfall stehenden Belgien, neben der Schweiz einer der beiden Staaten Europas, in dem es keine einzelne dominierende ethnische Mehrheit gibt. Mit dem Beispiel Belgien im Hinterkopf erscheint dem biethnischen Mazedonien oder den Albanern und Serben im Kosovo der Multikulturalismus als ein Mythos, der von der internationalen Gemeinschaft entwickelt worden ist, um die Länder des Balkans in Gefolgschaft zu zwingen, während im „alten Europa“ mit unterschiedlichen Maßstäben gemessen wird. Es ist eine Tatsache, dass Multikulturalismus sich auf dem gesamten Balkan als unhaltbar erwiesen hat, mit der Ausnahme einiger kleinerer Gemeinschaften, in denen die Macht der Mehrheit und die Homogenität nie gefährdet waren. In ganz Südosteuropa haben bedrohte Mehrheiten ihre Schwierigkeiten während der Transformation auf ihre international geschützten nationalen Minderheiten projiziert.

Das dritte Beispiel, das die Nationen des Balkans entmutigt und ihnen die Hoffnung raubt, ist das Schicksal ihres südöstlichen Nachbarn. Die endlosen Verhandlungen der Türkei mit der EU und die Einführung der Begrifflichkeit einer „privilegierten Partnerschaft“ (die mit Blick auf die diplomatischen Bemühungen kreiert wurde, die Aussicht auf eine türkische Mitgliedschaft nicht zu offen verweigern zu müssen) haben auf dem Balkan noch mehr Skepsis gefördert. Diese Auseinandersetzungen haben einen nur zu vertrauten Klang besonders für Mazedonien, dem von der Europäischen Kommission noch immer kein Zeitpunkt für den Beginn der Verhandlungen genannt worden ist, obwohl das Land schon seit Dezember 2005 Kandidatenstatus hat. Es gibt keinen Grund, warum Bosnien-Herzogowina, Albanien und das Kosovo keine gleichartige Behandlung erwarten sollten. Wenn es um die Mitgliedschaft der Türkei geht, könnte eine paranoide Sichtweise zu dem Schluss kommen, die „christliche Natur“ Europas spiele dabei eine Rolle – was auch das Vorhandensein einer muslimischen Bevölkerung in den erwähnten Ländern akzentuieren würde.

Ein vierter Faktor, der eine wichtige Rolle in den Überlegungen der Politiker auf dem Balkan spielt, ist der Aufstieg Russlands. Durch seine aggressiven Ziele in der Energie- und Handelspolitik – für die Russland im Tausch Hilfe für strategisch wichtige Anliegen der Länder des Balkans, wie etwa die Unterstützung der Serben im Fall des Kosovo, anbietet – gelingt es Moskau, ein paralleles Machtzentrum in der Region zu installieren. Die russische Botschaft lautet, dass Südosteuropa nicht mehr die alleinige Domäne der EU ist, sondern dass man sich auch auf die Unterstützung des Kremls verlassen kann – zu einem angemessenen Preis. Man könnte argumentieren, dass die russische Kosovo-Politik allein dazu dient, die Rückkehr Moskaus auf die Weltbühne anzukündigen, und dass sie nicht darauf ausgerichtet ist, die Regierungen des Balkans zu beeindrucken. Doch Russlands Strategie und Taktik basieren auf einem vom 19. Jahrhundert geprägten Bild einer Welt, in der es Großmächte und kleine Staaten gibt. Eine solche Politik der Einflusssphären und des Wucherns mit politischen Pfunden verführen die Länder des westlichen Balkans zu Strukturen zwischenstaatlicher Beziehungen, die eine Alternative zur EU sind.

Darüber hinaus hat Russland durch seinen jüngsten Geschäftsabschluss mit Serbiens monopolistischer Ölgesellschaft NIS einen tiefen Fußabdruck in Serbien hinterlassen, der noch weitgehende regionale Auswirkungen – vor allem auf dem Gebiet der europäischen Energiepolitik – haben wird. Serbien ist ein Transit-Kernland, und Russland bemüht sich, die serbische Energieinfrastruktur unter seine Kontrolle zu bekommen. Sollte dies gelingen, wäre dies das Ende der westlichen Pläne, seine Energieversorger zu diversifizieren, und es würde den Kontinent in noch stärkere Abhängigkeit von Russlands staatskontrolliertem Monopolisten Gazprom bringen.

Aussichten

Der generelle Niedergang der amerikanischen Macht sowie Amerikas Tendenz, „die Rolle des ethnischen Nationalismus in der Politik herunterzuspielen“, wie Jerry Z. Muller festgestellt hat, minimieren die Möglichkeiten für ein langfristiges Engagement der Vereinigten Staaten auf dem Balkan. Mit der letzten Erweiterungswelle und der offenkundig in der EU grassierenden „Erweiterungsmüdigkeit“ sind wir in ein neues Zeitalter der Vernachlässigung des Balkans eingetreten. Zu Beginn der neunziger Jahre standen nach dem Fall der Berliner Mauer Mittel- und Osteuropa im Blickfeld der Öffentlichkeit, und der Balkan war an die Peripherie des Weltinteresses gedrängt worden. Während die EU noch die Erfahrungen mit ihrer Osterweiterung verarbeiten muss, wird der westliche Balkan jeglicher echten Perspektive einer Integration beraubt.

In den neunziger Jahren konnte man die Länder des Balkans eher als Kolonien denn als zukünftige EU-Mitglieder ansehen. Die Verheißungen eines Konzepts für die regionale Integration auf dem Gipfel von Thessaloniki 2003 sind weitgehend ein frommer Wunsch statt einer mittelfristigen Möglichkeit geblieben. (Ironischerweise ist es gerade Griechenland, das heute seinen Teil zur Isolierung des westlichen Balkans beiträgt.) Die EU-Integration ist heute nicht das einzige Thema, auf das es in der Balkan-Politik ankommt. Und obwohl die Grenzen in der Region weitgehend klar definiert sind und keine Kriege mehr darum geführt werden müssen, sind wir doch immer noch mit schwachen Staaten, populistischen Führern und nationalistischer Rhetorik konfrontiert.

Europa muss seine strategischen Ziele abwägen und realisieren, dass die Krise seiner Politik der Soft Power auf dem Balkan eine Krise des europäischen Projekts an sich ist. Wenn es gelingt, den Balkan innerhalb der nächsten Dekade in Europa ankommen zu lassen, würde dies einen Zyklus von Instabilität und Aushöhlung des demokratischen Modells beenden.

Vessela Tcherneva,  geb. 1974, ist Programmdirektorin für außenpolitische Studien am Centre for Liberal Strategies in Sofia. Sie koordinierte die Aktivitäten der Internationalen Balkan-Kommission unter dem Vorsitz von Giuliano Amato.

  • 1Robert D. Kaplan: Die Geister des Balkan. Eine Reise durch die Geschichte und Politik eines Krisengebietes, Hamburg 1993. VESSELA TCHERNEVA, geb. 1974, ist Programmdirektorin für außenpolitische Studien am Centre for Liberal Strategies in Sofia. Sie koordinierte die Aktivitäten der Internationalen Balkan-Kommission unter dem Vorsitz von Giuliano Amato.