Europahymne
Buchkritik
Inzwischen ist man fast an sie gewöhnt, die umfassenden Analysen von europäischen Vertragswerken inklusive CD-Rom, angefertigt vom Centrum für angewandte Politikforschung (CAP) in München und der Bertelsmann Stiftung in Gütersloh. Und wieder ist der Truppe um Werner Weidenfeld, dem Herausgeber, mit Blick auf die Analyse des Europäischen Verfassungsvertrags der große Wurf gelungen.
Das 300 Seiten dicke, aber leicht zugängliche und schnell zu erschließende Kompendium zur Europäischen Verfassung bietet dem europapolitischen Kenner wie auch denjenigen, die es werden wollen, genau was sie suchen: eine gut gegliederte, übersichtliche, genaue und sorgfältig abgewogene Analyse der Europäischen Verfassung, eingeordnet in den historischen Kontext, die sowohl Querschnittsaspekte (etwa europäische Werte, Öffentlichkeit oder auch Kompetenzordnung und Methoden) diskutiert, als auch detailliert Fortschritte in den einzelnen europäischen Politikbereichen (Währungsunion, Außenpolitik, Justiz und Inneres) skizziert.
Das Buch ist ein guter Griff für diejenigen, die nur kurz eine präzise Information suchen, wie auch für diejenigen, die sich umfassend über den derzeitigen Integrationsstand informieren wollen. Es gehört somit in das Bücherregal von allen, die mit Europa zu tun haben.
Das Buch ist nüchtern und nicht emphatisch, und doch findet man ganz unaufgeregt knappe, kondensierte Sätze über das, was die EU nun durch die Verfassung geworden ist, und von denen man wünschen würde, dass sie ihren Weg in eine größere Öffentlichkeit finden: „Die Europäsche Integration ist vom relativ bedeutungslosen Ornament der Politik ... zum Kern politischer Machtarchitektur geworden“, schreibt Werner Weidenfeld gleich in der Einleitung und weist damit gleichsam dem Buch die Richtung. Die EU ist „ein politisches System im Werden“, so seine Schlussfolgerung.
Ebenso erfrischend schreibt Almut Metz in ihrem Kapitel über Werte und Ziele der EU: „Die EU besitzt heute in vielerlei Hinsicht Staatsqualität.“ So banal dies klingt, trifft es doch genau den Punkt, der aber in der breiteren Diskussion oft genug negiert wird. Und für den Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik konstatiert Franco Algieri klar, dass sich „der strategische Radius der EU über die Nachbarschaftsregionen der EU hinaus global ausdehnen“ wird.
Die EU als „globaler Akteur“ oder der Begriff einer „europäischen Geostrategie“ kommen den Autoren ganz selbstverständlich über die Lippen, ohne dass es um Machtprojektionen der EU geht, sondern nur darum, das nunmehr durch den Verfassungsvertrag institutionell Erreichte nicht unter den Scheffel zu stellen. Die EU – das, was sie ist und das, wohin sie sich entwickeln kann – wird auf diese Art mit leichten und doch kräftigen Strichen konturiert. In dem Buch lebt die EU, sie ist griffig und anschaulich. Die Europäische Integration wird in der vorgelegten Analyse mehr denn je prozessual und nicht als endgültig verstanden („nach der Verfassung die Verfassung“); sie erspart dem Leser den Pathos der Integrationsverfechter mit ihrem Nörgeln über das Nichterreichte ebenso wie die gebetsmühlenartige Kritik derjenigen, die überall das Gespenst eines europäischen Superstaats sehen.
Alle Beiträge sind exzellent, dicht und klar (einige mit Tabellen, Graphiken und Schaubildern) und umreißen spezifische Politikfelder wie die Grundrechtscharta, die Sozialpolitik und die Währungspolitik. Viele Auflistungen per Spiegelstrich ermöglichen einen raschen Überblick über die Veränderungen und Verbesserungen durch den Verfassungsvertrag. Aber einige Beiträge stechen besonders hervor. Dazu zählen die beiden von Janis Emmanouilidis über die institutionellen Reformen und die neue Flexibilität im institutionellen Gefüge der EU ebenso wie die Beiträge zur Europäischen Außen- und Sicherheitspolitik (Franco Algieri) sowie zur Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (Franco Algieri und Thomas Bauer).
Janis Emmanouilidis führt den Leser klar strukturiert durch die verschiedenen institutionellen Errungenschaften des Verfassungsvertrags – die Reduzierung der Kommission, die Abschaffung der Rotation, die Einführung der „doppelten Mehrheit“. Er versteht es, die historischen Weichenstellungen für das politische System der EU, die der Verfassungsvertrag in sich birgt, sorgsam aufzudröseln in die Elemente Personalisierung, Entwicklungsdynamik, Parlamentarisierung und Politisierung.
Der Leser erhält damit einen Einblick in die Entwicklungstendenzen des politischen Systems der EU. Die Kommission etwa ist dem Risiko ausgesetzt, ins strategische Abseits zu geraten; gleichzeitig wird das Europäische Parlament (erneut) aufgewertet; vor allem aber ist der Europäische Rat, der durch die Verfassung offizielles Unionsorgan wird, Gewinner der Verfassung. Hervorgehoben werden auch die Entwicklungspotenziale der EU durch dynamische Regelungen, wie etwa die „Passerelle-Klausel“, die einen Übergang von Einstimmigkeit zu qualifizierten Mehrheitsentscheidungen ermöglicht: „Das neue konstitutionelle Fundament stärkt die Fähigkeit der Europäischen Union, sich auch in Zukunft dynamisch weiterzuentwickeln.“
Franco Algieri und Thomas Bauer wiederum skizzieren nicht nur die Entwicklungssprünge in der ESVP im Verlauf des Konvents, sondern ihnen gelingt es auch, diese in den größeren historischen Kontext und insbesondere in die transatlantische Dimension einzuordnen. Die Implikationen der Entwicklung der ESVP für das Verhältnis zwischen EU und NATO werden knapp, aber scharf umrissen und in die derzeitige Debatte eingeordnet; und auch hier fehlen klare Aussagen nicht: „Ein neuer ‚Atlantizismus‘ setzt voraus, dass eine global ausgerichtete und militärisch handlungsfähige EU von den USA als ein umfassender internationaler Akteur wahrgenommen wird.“
Für den deutschen Leser besonders interessant ist auch der Beitrag von Thomas Fischer zur neuen Kompetenzordnung in der EU, da diese das deutsche Steckenpferd im Konvent gewesen ist. Der Beitrag ist vielleicht etwas zu detailverliebt ausgefallen und wird dadurch streckenweise un-übersichtlich, wodurch er an Klarheit verliert, aber in der Beurteilung des alt-neuen Kompetenzdickichts der EU ist er dafür um so klarer: Der EU ist es in weiten Teilen nicht gelungen, das europäische Aufgabenprofil auf der Ebene der Zuständigkeitsverteilung zu schärfen, aber kleine Schritte sind eben auch Schritte, gerade in Europa. Entschädigt wird der Leser durch eine sehr anschauliche Synopse am Ende des Textes.
Wenn überhaupt ein kritisches Wort angemessen ist, dann könnte man anmerken, dass der Beitrag von Volker Stör zu den weiteren Wegmarken des Verfassungsprozesses – gemeint sind die anstehenden Referenden – „politischer“ hätte sein können. Man vermisst Einschätzungen dessen, was ein mögliches Scheitern des Referendums beispielsweise in Großbritannien oder aber sogar in Frankreich für Konsequenzen haben könnte („Kerneuropa“?). Und schließlich, so sehr im Gesamtkontext willkommen, fällt der Beitrag über die Europäische Nachbarschaftspolitik etwas aus dem Rahmen. Denn die Verfassung ist nicht das Dokument, das etwas Verbindliches zu außenpolitischen Fragen, Fragen der Finalität Europas (und seiner Grenzen) sowie zur Zukunft einer gesamteuropäischen Ordnung sagen kann – wie die Autorin Iris Kempe auch einräumt. Aber vielleicht wird die EU bei ihrer nächsten Reformrunde dazu mehr zu sagen haben.
Abschließend möchte man eigentlich nur wünschen, dass jemand auf die Idee kommt, aus diesem Buch eine Art Kurzfassung zu machen, am besten ein Taschenformat in Großdruck und in mehreren Sprachen, damit sein Inhalt aus dem Kreis der Europaspezialisten heraus seinen Weg in eine breite Öffentlichkeit finden könnte: Aufklärung über den Verfassungsvertrag wird notwendig sein im EU-Schicksalsjahr der zehn Referenden.
Werner Weidenfeld (Hrsg.): Die europäische Verfassung in der Analyse. Verlag Bertelsmann Stiftung, Gütersloh 2005. 300 Seiten, 40 Euro.
Internationale Politik 3, März 2005, S. 127 - 129.