Schlusspunkt

28. Febr. 2011

Europäer, sprecht mit einem Mund!

Denn mit einer Stimme, das klappt (noch) nicht

Zu den schönsten Floskeln der Politik zählt die Forderung, Europa solle auf der Weltbühne „mit einer Stimme sprechen“. Das klingt seit 40 Jahren so plausibel wie unrealistisch, weil Europas Restnationalismus ein Förderinstrument für Kakophonie ist. So schreitet jene Machterosion voran, die 1914 begann und durch die europäische Einigung gestoppt werden sollte. Heute beschleunigt der Aufstieg der Schwellenländer den Machtverfall.

Der klügste Vorschlag, diesen Prozess zu bremsen, stammt von Pascal Lamy. Als Generaldirektor der Welthandelsorganisation kennt er die Realitäten der Global Governance: „Wenn ein Europäer das Wort ergreift und danach noch ein Europäer zum selben Thema spricht, hört niemand zu. Entweder sagen sie dasselbe, dann wird es langweilig; oder sie sagen nicht dasselbe, dann beeinflussen sie das Ergebnis nicht. Die Lösung sollte deshalb sein, dass die Europäer mit einem Mund sprechen. Nicht mit einer Stimme, sondern mit einem Mund.“

Eine Stimme? Ein Mund? Was wie Sophisterei klingt, beschreibt einen wichtigen Unterschied, nämlich jenen zwischen Chor und Solo, zwischen einem Europa der Staaten und einer einheitlichen Außenrepräsentation aller. Nur noch ein Mund öffnet sich, um für Europa zu sprechen, zu jedem Thema. Welch ein Fortschritt! Welch eine Hürde! Lamy weiterzudenken, bedeutet, ein Experimentierfeld für seine Ein-Mund-Politik zu finden. Dafür bietet sich die G-20 an.

Die Vorzüge der Ein-Mund-Politik wären immens: Die Schwellenländer müssten jenes Europa ernst nehmen, das sie bislang für einen Flohzirkus halten. Zweitens stärkte die Erwartung eines virtuosen Kreises mit weiteren Einigungsschritten Europa zusätzlich. Drittens verbreiterte sich Europas Repräsentation. Kein mittelgroßer EU-Staat liefe künftig Gefahr, ausgeladen zu werden. Und viertens würde damit die Effektivität der G-20 verbessert. Dadurch erhöhte sich die Chance, dass die wichtigsten Elemente der gegenwärtigen Weltordnung erhalten bleiben, was im Interesse der europäischen Status-quo-Mächte liegt.

Einen Haken freilich hat die schöne neue Ein-Mund-Politik: Nicolas Sarkozy und Angela Merkel, David Cameron und Silvio Berlusconi dürften sich kaum selbst zugunsten „Europas“ ausladen. Die G-20, auch wenn sie die Welt der souveränitätsfeindlichen Globalisierung ordnen soll, ist ein Refugium klassischer Nationalstaaten. Darum empfehlen sich Zwischenschritte: Alle fahren zum G-20-Gipfel, aber zu jedem Themengebiet spricht nur einer. Das löst Koordinierungsdruck aus. Wie heilsam der ist, wissen sie aus der Iran-Politik. Dort sprechen sie schon mit einem Mund. Deshalb ahnen sie längst, dass auf Dauer nur die Ein-Mund-Politik garantiert, dass niemand weghört, wenn Europa spricht.

Thomas Kleine-Brockhoff ist Senior Director beim German Marshall Fund.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, April 2011, S. 144-145

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