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01. Jan. 2005

Europa und Amerika: business as usual?

Die Zeit ist reif für einen US-EU-Vertrag

Zwar ist das neue Zuwanderungsgesetz am 1. Januar Kurz vor dem Amtsantritt der zweiten Bush-Administration deutet manches auf eine pragmatische Neuorientierung in den transatlantischen Beziehungen hin. Die Europäische Union hat manchen materiellen und institutionellen Nachholbedarf, ehe sie zu einem Akteur der Weltpolitik aufsteigen kann. Die USA müssen die EU als wichtigsten europäischen Partner akzeptieren. Ein formeller Vertrag könnte dazu beitragen.

Es ist Ruhe und Pragmatismus eingekehrt in die transatlantischen Beziehungen, die Hitze der letzten Monate hat sich abgekühlt. Der scheidende US-Außenminister Colin Powell hat eine geglückte Abschiedsreise durch Europa hinter sich; Präsident George W. Bush wird im Februar Brüssel besuchen und „ein Angebot für Europa“ mitbringen.1 In der Pressekonferenz, die Bush mit dem britischen Premier Tony Blair nach seiner Wiederwahl gegeben hat, wurde Europa mehrfach erwähnt. Die Zusammenarbeit im Irak ist zwar weiterhin holprig, aber durch die Zusage auch Deutschlands und Frankreichs, sich stärker an der Ausbildung irakischer Soldaten zu beteiligen, etwas entkrampft; gegen-über Iran und seinen Proliferationsabsichten ist man nach anfänglichen Spannungen dabei, eine gemeinsame Sprache zu entwickeln; Afghanistan läuft weiterhin gut; die Friedensmission in Bosnien wurde gerade erfolgreich von der NATO an die EU übergeben. Friede, Freude, Eierkuchen also? Zurück zu „business as usual“?

Jedenfalls scheinen auch die Republikaner eingesehen zu haben, dass man Europa braucht; oder, um es nüchterner zu sagen – denn sicherlich ist Europa keine republikanische Herzensangelegenheit – dass es zumindest nützlich sein kann. Frieden zwischen Israel und den Palästinensern, eine dauerhafte Befriedung des Irak, kreative Lösungen für Iran, das alles wird mit Europa einfacher zu erreichen sein als ohne. Um Churchills Zitat abzuwandeln: Die Europäer sind in republikanischen Augen sicherlich die schlimmsten Partner, mit Ausnahme aller anderen.2

Kreative Neugestaltung der transatlantischen Beziehungen?

Noch geht man auf dünnem Eis in den transatlantischen Beziehungen. Bei allem gegenseitigen Bemühen bleibt die Frage, wie viel von den rhetorischen Nettigkeiten nur dünner Lack ist, der auf hässliche Wunden gepinselt wird, und wie viel nachhaltige Klimaveränderung man von der alt-neuen Bush-Administration erwarten kann. Dahinter wiederum steht die Frage, ob man nun neuen Wein in alte Schläuche gießen will und eine Art forcierte Wiederbe- lebungsaktion für die eingerosteten transatlantischen Institutionen betreiben möchte, allen voran die NATO,3  oder ob man bereit ist, kreativ über eine Um- bzw. Neugestaltung der transatlantischen Beziehungen zu diskutieren, indem man Europa, speziell der Europäischen Union, einen größeren Stellenwert einräumt.

Die NATO war bisher auch institutionell das strukturierende Element der transatlantischen Beziehungen, allerdings im Wesentlichen über vier Dekaden darauf ausgerichtet, die Beziehungen untereinander angesichts der sowjetischen Bedrohung zu organisieren. Jetzt aber geht es darum, das amerikanisch-europäische Miteinander in der Weltpolitik zu organisieren, und dies ist nicht nur – und noch nicht einmal im Wesentlichen – eine  militärische Agenda. Darum müssen auch die transatlantischen Beziehungen institutionell auf andere als NATO-Füße gestellt werden. Anders formuliert: Die Beziehungen zwischen den USA und der EU brauchen ein Haus. Die Amerikaner müssen anerkennen, dass sie ihren gegenwärtigen und zukünftigen Sicherheitsinteressen am besten gerecht werden, wenn sie aus der Europäischen Union einen vollwertigen Partner für das Management internationaler Beziehungen machen.4 Auch viele Amerikaner sehen das inzwischen so.5

Dennoch ist genau dies die derzeitige Crux der transatlantischen Beziehungen, die man entweder als Quadratur des Kreises oder als „Henne-oder-Ei“-Dilemma begreifen kann. Die Amerikaner pflegen zu sagen, sie würden Europa, genauer: die EU, als Akteur erst dann ernst nehmen, wenn sie geeint, effizient und stark sei. Worauf die Europäer zu antworten pflegen, dass die USA aufhören sollten, durch „cherry-picking“ von Alliierten und Divide-et-impera-Strategien das vermeintlich „alte“ gegen das „neue“ Europa auszuspielen und die NATO als Keil zur Spaltung Europas zu benutzen. Das transatlantische Paar erinnert an jenen Witz, in dem zwei Polen in strömendem Regen vor einer Restauranttür stehen, und eine halbe Stunde lang gegenseitig ‚Nach Ihnen’ sagen, bevor dann einer schließlich ins Warme strebt.6

Die Frage ist damit, wie lange Amerikaner und Europäer noch nass werden wollen, bevor sie gemeinsam die Energie aufbringen, ein transatlantisches Haus zu zimmern, das den neuen Realitäten der Welt nach jenen Ereignissen von tektonischem Ausmaß – 9.11.89 für die Europäer und 11.9.01 für die Amerikaner – auch institutionell gerecht wird. Erst dann wäre das historische Kapitel des Kalten Krieges endgültig geschlossen. Ein amerikanisches Sprichwort lautet: A people choose A people and B people choose C people. Momentan hat man den Eindruck, dass sich zumindest einige in den USA wie ein B benehmen, und Europa allenfalls als C wollen. Wie also werden sowohl die USA wie auch Europa zum A?

Blick auf Europa

Die EU hat viel zu tun, um zum A zu werden, und es ist fraglich, ob sie die Herausforderung bestehen wird. Angefangen mit der zu ratifizierenden EU-Verfassung über die nächste, 2007 anstehende Erweiterungsrunde, der Nervosität über die Verhandlungen mit der Türkei und den für nächstes Jahr anstehenden Budgetverhandlungen, ganz zu schweigen vom zähen Prozess der Lissabon-Agenda – das Arbeitsprogramm der EU ist anstrengend, um es vorsichtig zu formulieren. Wie wird man zum globalen Akteur in Zeiten knapper Kassen, wirtschaftlicher Stagnation, zunehmender Europamüdigkeit und Integrations-kritik, einer überalterten und immi-grationskritischen Bevölkerung mit populistischen Strömungen?

Drei Herausforderungen

Mindestens drei Bedingungen müssten erfüllt werden, damit die Europäische Union zum A und damit zu einem starken transatlantischen Partner für die Vereinigten Staaten wird:

Erstens: Die EU muss schnell und klar zwischen ihrem zivilisatorischen und ihrem politischen Projekt unterscheiden. Dies ist ganz besonders in der Erweiterungsdiskussion virulent. Seitdem der Amerikaner Jeremy Rifkin das Wort vom ‚Europäischen Traum’ geprägt hat,7 in dem „zwischenstaatliche Beziehungen über individuelle Autonomie, nachhaltige Entwicklung über unbegrenztes materielles Wachstum, universelle Menschenrechte über die Natur von Eigentumsrechten und kollektive Verantwortung über unilaterale Macht-ausübung“ gestellt würden, ist die „Idee Europa“ gleichsam zum universellen Projekt erhoben worden. Das kommt konkret dadurch zum Ausdruck, dass eine Reihe von Anrainerstaaten nachdrücklich in die EU hineindrängen. Im Grunde ist auch die Trias der so genannten Kopenhagener Beitrittskriterien aus Menschenrechten, Demokratie und Marktwirtschaft offen formuliert, und allenfalls durch die – allerdings vage – europäische Geographie begrenzt.

Nun spricht nichts gegen die Ausdehnung des zivilisatorischen Projekts; sicherlich wünschen alle Europäer, dass die Regionen jenseits der EU-Grenzen – Kaukasus, Schwarzmeerraum, der Mittlere und Nahe Osten, der Maghreb-Raum bis hinein nach Afrika – sich in Zukunft dieser Trias verpflichten. Aber eine EU-Mitgliedschaft ist kein Preis für Menschenrechte und Demokratie.8 Das politische Projekt Europas darf dabei nicht verschütt gehen. Das ‚politische’ Projekt muss in der EU Identität bewahren und Effizienz sichern, und dafür braucht die EU klare Grenzen. Nicht für die Ewigkeit, denn eine große Stärke der EU ist es gerade, nicht statisch zu sein. Aber zumindest eine klare Sprachregelung für die nächsten Jahre, die auch in jenen europäischen Hauptstädten respektiert wird, die sich bereits als Pate für Beitrittsaspiranten hervortun.

Zweitens: Die EU muss das Wort Interesse in ihr Vokabular aufnehmen. Allzu oft gewinnt man den Eindruck, die EU handle nur aus Altruismus. Sie übernimmt Verantwortung und fordert wenig Gegenleistung. Sie verteilt Gelder, konditioniert aber selten, und wenn, dann wenig erfolgreich. Dabei braucht ein globaler Akteur eine interessengeleitete Außenpolitik, nicht nur eine, die auf Idealen beruht. Die Europäische Nachbarschaftspolitik ist das beste Beispiel. Denn es geht nicht nur um Mitgliedschaft. Für die EU stehen dabei auch Energieversorgung und Ressourcen auf dem Spiel, aber die Debatte darüber wird nicht offen geführt.

Drittens: Die EU muss von einem Binnenmarkt mit großen Redistributionselementen zu einem globalen außenpolitischen Akteur werden. In der Vergangenheit wurde der Erfolg der EU am Binnenmarkt gemessen; der Erfolg der EU in der Zukunft aber wird von ihren außenpolitischen Fähigkeiten abhängen. Dies ist doppelt schwierig. Ein wesentliches Argument, skeptischen Bürgern die EU schmackhaft zu machen, waren bisher immer die wirtschaftlichen Vorteile durch den Binnenmarkt. In Zukunft aber wird man bezahlen müssen, denn eine globale Rolle ist für die EU nicht umsonst zu haben. Militäreinsätze und „state-building“ kosten Geld, für Handelsabkommen zahlt man zumindest den Preis der Marktöffnung.

Auch das EU-Budget muss daher von der Umverteilung zur Wahrnehmung internationaler Aufgaben umgeschichtet werden. In zukünftigen Budgetverhandlungen wird es vielleicht weniger darum gehen, wie viel Geld französische oder polnische Bauern bekommen, sondern wie viel Geld zum Beispiel für den Aufbau einer demokratischen Ukraine fließt, ganz unabhängig davon, ob diese der EU nun beitreten soll oder nicht. Systemisch wird dieser Weg von A nach B schwer durchzusetzen sein, denn jeder Regierungschef muss mit nationalen Erfolgen für sein Land von einem EU-Gipfel nach Hause kommen. Wie den Blick auf eine gemeinsame europäische Geostrategie lenken, wenn in jedem der 25 Mitgliedsstaaten innenpolitische Themen (Migration, Arbeitsmarkt, Verteilungskämpfe) die Debatten bestimmen?9 Der „trade-off“ zwischen kurzfristigen Kosten und langfristigen Gewinnen zählte schon immer zu den größten strukturellen Problemen der EU, und bei der Formulierung einer Europäischen Geostrategie ist er akuter denn je. Zum anderen sind die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU (GASP) sowie die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) trotz beachtlicher Erfolge in den letzten Jahren immer noch das schwächste Element der EU, da der nationale Souveränitätsverzicht hier am schwierigsten ist. Der zukünftige gemeinsame Außenminister und der Aufbau eines Europäischen Diplomatischen Dienstes sind Elemente, um diese Schwierigkeit zu überwinden. Gerade deswegen braucht Europa die europäische Verfassung so sehr, um zum A-Partner der USA zu werden.

Keine Zeit für Krisenszenarien

Krisenszenarien hat es für die EU schon immer gegeben, und es gibt sie heute wieder angesichts der gebündelten Schwierigkeiten, vor allem mit Blick auf die zu bestehenden Referenda in 13 Ländern über die EU-Verfassung. Was wird passieren, wenn die Bevölkerung nicht nur in einem Land – Großbritannien – sondern gleich in mehreren Ländern, darunter womöglich Frankreich, die Verfassung ablehnt? Stillstand oder gar Auflösung der EU für die einen Kerneuropa für die anderen? Schon jetzt werden in großem Umfang legale Möglichkeiten und Fall-Back-Optionen diskutiert,10 und es wird gefragt, unter welchen Umständen ein Mitgliedsstaat gegebenenfalls die EU verlassen könnte. Solche Krisenszenarien sind nicht angebracht. Die EU ist nicht nur ein erstaunlich zähes Gebilde, sondern im Krisenmanagement meistens sogar erstaunlich gut. Es ist wenig wahrscheinlich, dass tatsächlich eines oder mehrere Länder aus der EU austreten werden. Allerdings müsste bei der Ablehnung der Verfassung in einem Land erhebliche politische Energie aufgebracht werden, um die konstitutionelle Lage der EU zu klären. Damit wäre die Gemeinschaft womöglich monatelang politisch handlungsunfähig. Das allein reicht  aus, um erheblichen Schaden anzurichten, denn gerade Zeit wird knapp sein in den nächsten Monaten, in denen die EU vieles bewerkstelligen muss. Man kann nicht zum globalen Akteur werden, wenn man nicht weiß, auf welchem Fundament man steht.

Blick auf Amerika

In Amerika gibt es, grob gesprochen, drei Haltungen gegenüber der EU. Es gibt diejenigen, die von der EU gar nichts erwarten, und bei denen die EU vom Radarschirm verschwunden ist. Dann gibt es diejenigen, die nichts Gutes erwarten, sondern beim Wort EU ein irrationales Bedrohungsszenario entwickeln. In dessen Mittelpunkt steht die europäische Verfassung, „die größte Herausforderung für amerikanische Sicherheitsinteressen seit Ende des Zweiten Weltkriegs“.11 Dies wiederum ruft bei so manchem Europäer ein Déjà-vu-Erlebnis hervor. Schließlich hatte in den neunziger Jahren schon einmal der Euro als mögliches „Konfliktrisiko“ zwischen Europa und den USA gegolten.12 Die Haltung ist Ausdruck jener amerikanischen Schizophrenie, mit der einerseits stets mehr europäische Eigenständigkeit gefordert wird, andererseits aber jeder Schritt der europäischen Integration, derzeit also die Verfassung, zur Bedrohung stilisiert wird. Und drittens schließlich gibt es diejenigen, die Europa schätzen und mehr Europa wünschen, bei denen Europa freilich als Synonym für NATO steht. „When Americans say Europe, they mean NATO“, meinte kürzlich ein alter Kenner des transatlantischen Geschäfts.13 Kurz gesagt steht also die Europäische Union bei dieser bunten Mischung aus EU-Ignoranten, EU-Skeptikern und NATO-Nostalgikern nirgendwo hoch im Kurs. Und wenn sich die USA für die EU interessieren, dann eher für ihre rasche Erweiterung als für ihre Vertiefung und weitere Integration.

Das sollten sie aber, denn die europäische Integration ist quasi die Lebensader vieler europäischer Staaten, insbesondere für Deutschland, dem vielleicht wichtigsten Partner der USA in Europa. Natürlich beanspruchen auch die Briten diesen Platz für sich, aber die Briten sind eben (Euro, Schengen) nur halb in Europa, weshalb die strategische Mediatorrolle in den transatlantischen Beziehungen auch in Zukunft Deutschland zufallen dürfte.14 Für Deutschland aber ist die europäische Integration nicht nur ein Projekt, sondern von fundamentalem sicherheitspolitischem Interesse und damit seine erste außenpolitische Priorität. Durch den fast 50-jährigen Integrationsprozess wurde erstmals in der neueren europäischen Geschichte das Problem der deutschen Hegemonie-Ambition gelöst. Die Politik des „balance of powers“ wurde von der Politik des „balance through institutions“ ersetzt. Seither können sich Deutschland und seine Nachbarn voreinander sicher fühlen. Jede Absicht, die europäische Integration zu torpedieren, läuft also vitalen deutschen Interessen zuwider.15

Der Eindruck, dass zumindest einige Kreise in den USA kein Interesse mehr an der Förderung der europäischen Integration haben könnten,16 stellt Deutschland vor eine Zerreißprobe wie kein anderes Land in Europa. Ein atlantisches Europa, eine EU als A-Partner Amerikas, bedarf daher der Unterstützung der europäischen Integration durch die USA.17 Wer in Amerika die EU inklusive ihrer Verfassung bekämpft, spielt in die Hände der „Euro-Gaullisten“,18 befördert multipolare Gedankenspiele, produziert Kerneuropa und macht ganz einfach Europa schwach und zum C.

Ein US-EU-Vertrag

Was können die Amerikaner tun, um die europäische Integration zu fördern? Natürlich ist dies eine primär europäische Aufgabe; dennoch würde sie mit amerikanischer Unterstützung leichter fallen, denn die EU ähnelt einem pubertierenden Sohn der USA, der allein wohnen will, aber noch die Kreditkarte der Eltern braucht.

Eine Idee wäre ein Vertrag zwischen den USA und der Europäischen Union, und zwar aus drei Gründen: Erstens kann die NATO nicht mehr allein das institutionell tragende und strukturierende Element der transatlantischen Beziehungen bleiben. Die NATO ist institutionell, funktional und geographisch überdehnt und wird es in Zukunft noch mehr sein. Damit ist sie kein geeignetes Forum mehr für einen geostrategischen transatlantischen Dialog. Mit zunehmender Entwicklung der ESVP wird die EU unweigerlich ihren Caucus-Ansatz innerhalb der NATO fortsetzen, die EU-Länder werden ihre Positionen vorab abstimmen. Dies wird ein schmerzhafter, aber notwendiger Prozess.19 Da die EU supranational, die NATO aber nur intergouvernemental organisiert ist, wird institutionell eine Art physikalische Schwerkraft zugunsten der EU wirken.

Zweitens haben sich die Sicherheitsrisiken dramatisch geändert. Viele von ihnen brauchen andere als militärische Antworten. Im Soft-Power-Bereich aber kann die EU mehr als die NATO, darunter vieles, was die USA wünschen und was in ihrem Interesse ist: Die EU kann die Türkei aufnehmen und zu einem demokratischen Modellfall für den Mittleren Osten entwickeln; während die NATO den Balkan befriedet, kann nur die EU die Region auch langfristig stabilisieren; die EU kann der Ukraine helfen; schließlich kann sie eine Freihandelszone mit den Maghreb-Ländern andenken. Deshalb sollten die USA direkt mit der EU über eine gemeinsame Geostrategie sprechen, denn gerade in der europäischen Nachbarschaft müssen amerikanische Ambitionen mit europäischen Fähigkeiten in Einklang gebracht werden.

Drittens sind die transatlantischen Beziehungen zu umfassend, als dass sie institutionell allein von der NATO getragen werden könnten, denn sie betreffen auch Handels-, Währungs-, Wettbewerbs- und Industriefragen. Teilweise werden diese auf den G-8-Treffen behandelt, aber eine engere US-EU-Abstimmung würde die gemeinsame Problemlösung verbessern.

Nun lösen Institutionen noch keine Spannungen, aber sie schaffen Raum für Dialog und überdauern politische Verkrampfungen. Der derzeitige, jährliche US-EU-Gipfel reicht als Forum offenbar nicht aus. Ein US-EU-Vertrag könnte das erwünschte „upgrading“ der Beziehungen bringen. Er müsste eine bewusst politische Weiterentwicklung der Neuen Transatlantischen Agenda von 1995 sein. Natürlich ist es naiv zu denken, dies könne sofort geschehen und gleich wirksam sein. Aber mehr als um reine Effizienz ginge es bei dem Vertrag um Symbolik.

Ein solcher Vertrag würde vor allem die politische Anerkennung der EU durch die Vereinigten Staaten bedeuten und damit auf Dauer auch die politische Einstellung der USA zur EU verändern. Es sei daran erinnert, dass der deutsch-französische Elysée-Vertrag in seinen zentralen Elementen der sicherheitspolitischen Zusammenarbeit auch eher ein Dornröschen-Dasein fristete; indes erwuchsen aus ihm vor allem das deutsch-französische Jugendwerk und die halbjährlichen Konsultationen, die das deutsch-französische Verhältnis dauerhaft stabilisiert und das deutsch-französische Paar zum Motor Europas gemacht haben.

Analog dazu könnten durch einen US-EU-Vertrag Amerika und Europa vielleicht zum Motor der Weltpolitik werden – wohlgemerkt Weltpolitik verstanden als Embryo für Global Governance, nicht als Weltdominanz. Der Preis für die USA wäre der Verzicht auf unipolare Ambitionen, der Gewinn Legitimität. Der Preis für die Europäer wäre ein gutes Stück Souveränitätsverzicht in der Außenpolitik, der Gewinn Einfluss auf die Welt. Zentrales Element eines solchen Vertrags müsste die gemeinsame internationale Agenda sein: die Entwicklung einer gemeinsamen Strategie gegenüber Staaten wie Russland oder China, gemeinsame Lösungen für Irak, Iran und den israelisch-palästinensischen Konflikt, moderne Konzepte gegen die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen und klare Vorgaben für eine gemeinsame Bewältigung der Milleniumziele. Institutionell könnten – ähnlich wie innerhalb der EU – regelmäßige Minister- bzw. Kommis-sartreffen und Informationsaustausch vorgesehen werden, ebenso wie ein Austausch zwischen US-Kongress und EU-Parlament.

Als symbolisches Datum für den Vertrag käme der Juni 2007 in Frage – 60 Jahre nach jener berühmten Rede, mit der General George C. Marshall den Grundstein für das European Recovery Program gelegt hat, und 50 Jahre nach Abschluss der Römischen Verträge. Im besten Fall verfügt die EU zu diesem Zeitpunkt über eine Verfassung, einen permanenten Ratspräsidenten als Stimme und Gesicht der EU und einen EU-Außenminister, die mit dem Kommissionspräsidenten unterschreiben könnten.

Wie Henry Kissinger immer zu sagen pflegt: „Sceptics don’t build Cathedrals!“

1 Bush kommt mit Angebot für Europa, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9.12.2004.

2 Steven Everts und Charles Grant: President Bush: why you need the Europeans, CER Policy Brief, Dezember 2004/Januar 2005.

3 So z.B. das Bemühen, die NATO wieder zu „politisieren“, vgl. das Interview mit NATO- Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer, Financial Times, 18.11.2004.

4 William Drozdiak: The North Atlantic Drift, Foreign Affairs, Januar/Februar 2005, S. 93.

5 Ronald D. Asmus, Anthony J. Blinken, Philip H. Gordon: Nothing to fear. Washington Should Embrace the European Union, Foreign Affairs, Januar/Februar 2005, S. 174–177, und Robert Kagan: Embracable EU, Washington Post, 5.12.2004.

6 Timothy Garton Ash: Freie Welt. Europa, Amerika und die Chance der Krise, München 2004, S. 169.

7 Jeremy Rifkin: Der Europäische Traum. Die Vision einer leisen Supermacht, Frankfurt a.M. 2004.

8 Horst von Buttlar: Tanzbär Brüssel, Financial Times Deutschland, 15.12.2004.

9 Laut einer Umfrage des German Marshall Fund wünschen 73% aller Europäer eine größere Rolle der EU in der Welt, aber, befragt, ob sie auch bereit wären, dafür den Verteidigungsetat zu erhöhen, sind es nur noch 43%. Vgl. ‚Transatlantic Trends 2004. A Project of the German Marshall Fund of the United States and the Compagnia di San Paolo, www.gmfus.org

10 Vgl. Andreas Maurer: Austritt oder institutionelle Anpassung: Optionen nach dem Scheitern des EU-Verfassungsvertrages, (SWP, vorläufige Version, unveröffentlicht); oder: Gian Luigi Tosato und Ettore Greco: The EU Constitutional Treaty: How to deal with the ratification bottleneck, Paper präsentiert bei dem Seminar „Riflessioni in terma di ratifica e anticipazione del Trattato Constituzionale per l’Europa“, Rom, Palazzo Rondinini, 15.11.2004, Istituto Affari Internazionali (IAI0417E).

11 Jeffrey Cimbalo: Saving NATO from Europe, Foreign Affairs, November/Dezember 2004, S. 112.

12 Martin Feldstein: EMU and international conflict, Foreign Affairs, November/Dezember 1997, S. 60–73.

13 Ein Staff Member des Foreign Relations Committee, bei einem Workshop über die EU-Verfassung in Washington, organisiert vom German Marshall Fund of the United States, 23.11.2004.

14 Jackson Janes und Eberhard Sandschneider: Eine neue deutsch-amerikanische Agenda, IP, November/Dezember 2004, S. 10–14.

15 So ein hoher Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes bei einer Veranstaltung der DGAP mit John Hulsman von der Heritage Foundation, 8.12.2004.

16 Vgl. auch Quentin Peel: Euroscepticism spreads West, Financial Times, 2.12.2004.

17 Siehe dazu auch Timothy Garton, (Fußnote 6), S. 78 ff.

18 Giuliano Amato und Rolf Dahrendorf: Letter to America. A European Proposal for a New Transatlantic Deal, Paper presented at the conference of the Aspen Institute Italy „After the US-Elections: Implications for Europe“, Rom 12.–13.11.2004.

19 Vgl. Tomas Valasek: Conclusion: on NATO’s future and riding the ESDP tiger, S. 61–70, in: Tomas Valasek und Olga Gyarfasova (Hrsg.): Easternization of Europe’s Security Policy, Center for Defense Information, Brüssel 2004.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar 2005, S. 54 - 60.

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