Europa sucht nach Handlungsfähigkeit
Die GSVP jenseits von Symbolpolitik
Bisher muss eine nüchterne Bilanz gezogen werden: Die ESVP-Operationen sind zwar zahlreich, aber überwiegend von symbolischer Größe und heben die Fähigkeitenlücke der EU hervor. Dies soll mit den neuen Instrumenten des Lissabonner Vertrags geändert werden: dem Europäischen Auswärtigen Dienst und der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit.
Mit Operationen auf dem Balkan, in Afrika und vor der Küste Somalias verbindet die EU den Anspruch, im Rahmen der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) als sicherheitspolitischer Akteur international handlungsfähig zu sein. Doch gelang es selbst bei diesen eher kleinen, symbolischen Operationen nur nach schwierigen Verhandlungen, die notwendigen Fähigkeiten zusammenzustellen.
Die Entwicklung der ESVP wird von der EU als eine ihrer großen Erfolgsgeschichten dargestellt. Erst 1999 begründet, beansprucht sie mit über 20 zivilen und militärischen Operationen „eine immer wichtigere Rolle in der Krisen- und Konfliktbewältigung“, so ihr Umsetzungsbericht zur Europäischen Sicherheitsstrategie (2008). Beispielhaft führt sie ihre Übernahme des Krisenmanagements auf dem Westlichen Balkan sowie eine führende Rolle bei der Pirateriebekämpfung am Horn von Afrika an und sieht sich als Schlüsselakteur bei den Verhandlungen um den Georgien Krieg im Sommer 2008. Zumindest auf dem Papier unterhält sie einen Streitkräftekatalog mit dem Anspruch, militärische Operationen höchster Intensität und mit bis zu 60 000 Soldaten durchzuführen. Für kleinere Einsätze stehen zwei multinationale EU-Battlegroups bereit, die innerhalb weniger Tage einsatzbereit sein sollen.
Trotz dieser Erfolgsmeldungen ist eine nüchterne Bestandsaufnahme der ESVP dringend notwendig: 16 Operationen waren mit einem Umfang von weniger als 500 Soldaten und zivilen Kräften eher symbolischer Natur. Selbst die sechs EU-Operationen mit 1000 bis 7000 Soldaten sind im Vergleich zu denen der NATO wie etwa KFOR mit zeitweise mehr als 50 000 oder ISAF in Afghanistan mit ca. 89 000 Soldaten (März 2010) noch als klein einzustufen.
Und dennoch bedeuteten sie für die EU bei der Kräftegenerierung eine kaum zu bewältigende Herausforderung. Vor jedem Einsatz mussten die benötigten Kräfte ad hoc zusammengestellt werden, sodass mühsame, oft monatelange Verhandlungen notwendig waren. So war der bislang größte autonome militärische EU-Einsatz, EUFOR Tschad/Zentralafrikanische Republik 2008/09 (ca. 3700 Soldaten), nur möglich, weil Frankreich mehr als die Hälfte der Truppen stellte, die teilnehmenden Staaten über das SALIS-Abkommen auf gemietete ukrainische Transportflugzeuge zurückgreifen konnten und Russland sich mit Hubschraubern beteiligte.
Noch stärker von einer Fähigkeitenlücke betroffen sind zivile ESVP-Operationen, die vermeintliche Stärke der EU im Krisenmanagement. Während Polizisten und andere zivile Einsatzkräfte nicht wie Militärs in den Auslandseinsatz befohlen werden können, fehlen in vielen EU-Mitgliedstaaten strukturelle Anreize, um diese Kräfte für EU-Einsätze zu gewinnen. In der Folge ist es beispielsweise seit 2007 nicht gelungen, beim EU-Beitrag zur Polizeiausbildung in Afghanistan die anvisierte Sollstärke von 400 (!) Polizisten zu erreichen.
Gleichzeitig fehlt der EU die Fähigkeit, militärische Operationen selbstständig planen und leiten zu können. Sie muss stattdessen entweder auf das NATO-Hauptquartier SHAPE oder auf eines von fünf nationalen Hauptquartieren zurückgreifen. Letztere müssen dann jeweils „europäisiert“ werden, wie etwa das Einsatzführungskommando der Bundeswehr für EUFOR Demokratische Republik Kongo 2006. Durch diese Konstruktion kann die EU kaum vorausplanen und muss vor jeder Operation ad hoc ein Hauptquartier bestimmen, sodass der Verhandlungsprozess weiter erschwert wird. Zusätzlich ist dadurch ein Flickenteppich an Kommandostrukturen entstanden und es fehlt ein paralleler Überblick über alle laufenden Einsätze. Dies unterminiert sowohl die Fähigkeit der Union, in Krisen schnell zu handeln, als auch den Anspruch, einen vernetzten Ansatz mit zivilen und militärischen Mitteln umzusetzen. Gescheitert ist der Aufbau eines EU-Hauptquartiers bislang vor allem am politischen Widerstand transatlantisch orientierter Mitgliedstaaten, die darin eine Duplizierung von NATO-Strukturen sehen.
Kurzum: Die Entwicklung der Fähigkeiten hat mit dem operationellen Tempo der ESVP – selbst mit seinen größtenteils kleinen Operationen – nicht Schritt gehalten. Das Konzept gemeinsamer Operationen bei weitgehend rein nationaler Fähigkeitenentwicklung ermöglicht der EU zwar eine symbolische Präsenz, bietet ihr langfristig aber weder im zivilen noch im militärischen Bereich eine robuste gemeinsame Handlungsfähigkeit.
Neue Instrumente
Der Vertrag von Lissabon erhebt den Anspruch, die ESVP als Gemeinsame Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) auf eine neue Stufe zu heben. Doch welche neuen Instrumente bringt er wirklich mit, um diesem Anspruch in der Fähigkeitenentwicklung politische Taten folgen zu lassen?
Zunächst besteht ein großer Teil der neuen Artikel (Art. 42–46 EUV) aus einer Konsolidierung in der Praxis der ESVP vollzogener Entwicklungen. So werden zivile Operationen oder das 2003 durch die Europäische Sicherheitsstrategie erweiterte Aufgabenspektrum im Primärrecht verankert. Auch die 2004 ins Leben gerufene Europäische Verteidigungsagentur (EDA) wird ohne Veränderung an ihren Aufgaben und Instrumenten aufgenommen. Zusätzlich führt der Vertrag eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten ein, ihre militärischen Fähigkeiten zu verbessern (Art. 42 (3) EUV). Diese Verpflichtung ist allerdings weder mit bestimmten Zielen noch einem Sanktionsmechanismus verknüpft und daher primär als politische Absichtserklärung zu verstehen. Das Freiwilligkeitsprinzip bei der Entwicklung und Entsendung militärischer wie ziviler Einheiten bleibt unangetastet bestehen.
Substanzielle Impulse für die Handlungsfähigkeit der GSVP könnten allerdings von zwei Reformen kommen: Erstens soll das Instrument der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit (SSZ) Flexibilität in die militärische Integration der EU bringen. Die SSZ soll Mitgliedstaaten, die zu besonderen Anstrengungen zur Entwicklung gemeinsamer Fähigkeiten bereit sind, ein Forum im EU-Rahmen bieten. Dies soll durch qualitative Voraussetzungen, die für eine Teilnahme erfüllt sein müssen, eine stärkere Harmonisierung des militärischen Bedarfs sowie Zusammenarbeit in der Ausbildung und Logistik erreicht werden. Dabei ist keine Mindestanzahl an teilnehmenden Staaten, sondern nur eine qualifizierte Mehrheit zur Gründung einer SSZ festgesetzt, sodass sie schnell genutzt werden könnte.
Einer schnellen Nutzung der SSZ stehen allerdings noch inhaltliche Fragen entgegen, die der Vertrag offen lässt. So bleibt unklar, ob es im Sinne eines „Kerneuropas der Verteidigung“ nur eine SSZ gibt, in der verschiedene Projekte realisiert werden. An einer solchen Kerneuropa-Lösung könnten im Verteidigungsbereich allerdings nur die großen Mitgliedstaaten teilnehmen. Die Alternative wäre eine Reihe von SSZ, die sich jeweils um einzelne Projekte – wie etwa die European Air Transport Fleet für den strategischen Lufttransport – gruppieren.
Ebenfalls ungeklärt sind die qualitativen Voraussetzungen und damit das Kernstück der SSZ. Der Vertrag von Lissabon definiert in einem angehängten Protokoll hierzu nur allgemein die Bereitschaft zum Ausbau nationaler Fähigkeiten, die Teilnahme an der EDA sowie die Fähigkeit zur Beteiligung an EU-Battlegroups. Legt man diese Kriterien zugrunde, wären nur Dänemark angesichts seines Opt-Out aus der GSVP und Malta, welches sich bisher an keiner Battlegroup beteiligt, ausgeschlossen. Die Grundidee qualitativ anspruchsvoller Kriterien als Anreiz zum Fähigkeitenaufbau wäre damit kaum erfüllt.
Auf der anderen Seite erscheinen harte budgetäre Kriterien – wie etwa der Anspruch, mindestens zwei Prozent des BNP für Verteidigung auszugeben – für den größten Teil der Mitgliedstaaten, einschließlich Deutschland, aktuell unrealistisch. Die beteiligungswilligen Mitgliedstaaten werden also bei der Begründung einer ersten SSZ Kriterien verhandeln müssen, die zwar als Ansporn für eine weitere Fähigkeitenentwicklung dienen, aber gleichzeitig unter den Vorzeichen der erwartungsgemäß eher sinkenden nationalen Verteidigungshaushalte realisierbar sind.
Zweitens wird im Zuge des Aufbaus des Europäischen Auswärtigen Dienstes (EAD) unter der Hohen Vertreterin Catherine Ashton der administrativ-institutionelle Unterbau der Europäischen Außen- und Sicherheitspolitik neu geordnet. Im EAD sollen künftig alle Fäden des Auswärtigen Handelns der Union zusammenlaufen. In der GSVP wurden der Hohen Vertreterin alle bisherigen Aufgaben der EU-Ratspräsidentschaft und ein Initiativrecht übertragen, sodass sie nicht nur den Vorsitz im Rat für Auswärtiges übernimmt, sondern ihre Vertreter auch die Ratsarbeitsgruppen der GSVP leiten werden. Sie kann damit von der Initiative und Planung über die Entscheidung bis zur Durchführung alle Phasen einer GSVP-Operation strategisch leiten, obgleich sie selbstredend weiterhin auf die Zustimmung aller Mitgliedstaaten sowie deren Ressourcen angewiesen ist.
Für GSVP-Operationen ist vor allem relevant, dass alle bisherigen ESVP-Strukturen wie das EU-Lagezentrum, der EU-Militärstab, die Direktion für die Planung von Krisenmanagementoperationen (CMPD) sowie der Stab für die Planung und Durchführung ziviler EU-Operationen (CPCC) in den EAD integriert werden. Der für die operationelle Handlungsfähigkeit der GSVP entscheidende Schritt – die Schaffung eines EU-Hauptquartiers für zivile und militärische Operationen – ist in den aktuellen Planungen zum EAD, wie sie Ashton Ende März 2010 vorgelegt hat, aber nicht vorgesehen. Vielmehr sollen die bisher bestehenden Strukturen weitgehend unverändert in den EAD integriert werden. Ashton hat jedoch im März 2010 vor dem Europäischen Parlament erklärt, in Zukunft auch die Frage der Notwendigkeit und Machbarkeit eines EU-Hauptquartiers prüfen zu wollen.
Verträge schaffen nur die Grundlage
Auf beiden Ebenen, der operativen wie der administrativ-institutionellen Fähigkeiten, sind nun die Mitgliedstaaten gefragt, den neuen Rahmen zu nutzen, um das Potenzial zu einer gestärkten Handlungsfähigkeit der GSVP in die Lissabonner Wirklichkeit zu übertragen.
So wird zum einen die Blockade um das EU-Hauptquartier kaum über die von der Hohen Vertreterin angekündigte Evaluation der EU-Planungs- und Führungsfähigkeiten gelöst werden – militärisch ist die Notwendigkeit eines ständigen Hauptquartiers angesichts der erklärten Ansprüche der GSVP unbestritten. Die eigentliche Crux liegt im ungeklärten Verhältnis zwischen NATO und EU im Krisenmanagement, und hier sollte eine Lösung ansetzen. Nur wenn insbesondere Großbritannien überzeugt werden kann, dass ein zivil-militärisches Hauptquartier einen Mehrwert und keine Bedrohung für die NATO darstellt, kann in dieser Frage ein substanzieller Fortschritt erzielt werden.
Zum anderen ist substanzieller Fortschritt im Bereich der Fähigkeitenentwicklung für GSVP-Operationen erst dann zu erreichen, wenn die Mitgliedstaaten die Bereitschaft entwickeln, ihre Souveränitätsvorbehalte zumindest teilweise zurückzustellen. Die SSZ ermöglicht ihnen, diesen Schritt in kleineren Gruppen zu machen; die politische Brisanz dieses Schrittes aber bleibt erhalten. Die im deutschen Koalitionsvertrag geforderte europäische Armee unter parlamentarischer Kontrolle kann hierbei höchstens visionäres Fernziel sein. Zumal die Realisierung dieser Vision insbesondere in Deutschland problematisch wäre, spätestens seitdem das Bundesverfassungsgericht im Urteil zum Lissabonner Vertrag festgelegt hat, dass ein solcher Schritt – die Übertragung der Entsendebefugnis vom Bundestag an eine europäische Instanz – die Integrationsschwelle zum europäischen Bundesstaat übertreten würde und eine Volksabstimmung notwendig wäre.
Realistischer wäre vielmehr eine schrittweise Verstetigung multinationaler Streitkräfteintegration, die über die SSZ im EU-Rahmen organisiert wird. So könnten die EU-Battlegroups, von denen aktuell pro Halbjahr zwei von je einer kleinen Gruppe von Mitgliedstaaten bereitgehalten werden, zu dauerhaft stehenden Verbänden aufgewertet und aufgestockt werden. Nach gemeinsamem Training und vorab ausgehandelten gemeinsamen Einsatzregeln könnten sie dann als Verband direkt an EU- oder NATO-Operationen teilnehmen, anstelle diese erst mühsam aus einzelnen, kleinen nationalen Einheiten zu bilden.
Die Partner an einen Tisch bringen
Falls die Bundesregierung sich der Vision einer europäischen Armee tatsächlich annähern will, so wie Außenminister Guido Westerwelle auf der diesjährigen Münchner Sicherheitskonferenz noch einmal betont hat, muss sie die Bereitschaft zur Übernahme einer Führungsrolle in der GSVP entwickeln. Damit dies keine Demonstration von politischem Wunschdenken bleibt, sollte sie ihre Partner an einen Tisch bringen und mit ersten, realistischen Schritten überzeugen, und 2010/11 könnte sich hierfür ein Zeitfenster öffnen.
Drei EU-Staaten sind besonders zu überzeugen: erstens Frankreich, dessen Enthusiasmus für eine vertiefte GSVP-Integration Ernüchterung gewichen ist. Insbesondere aus Enttäuschung über mangelndes deutsches Engagement hat sich das französische Interesse nach gestärkter europäischer Handlungsfähigkeit in letzter Zeit mehr und mehr in Richtung bi- oder multilateraler Kooperationen außerhalb des EU-Rahmens entwickelt.
Ein schwieriger, aber unverzichtbarer Partner bleibt zweitens Großbritannien. Die neue Regierung wird angesichts der rasant gestiegenen Staatsschulden zu einer Überprüfung des Verteidigungshaushalts gezwungen sein. Erste Vorarbeiten des britischen Verteidigungsministeriums in Form des „Defence Green Paper 2010“ signalisieren eine größere Bereitschaft zur europäischen, aber nicht notwendigerweise EU-Kooperation. Diese müsste Sparpotenziale realisieren und militärische Handlungsfähigkeit sicherstellen. Als primärer Partner wird Frankreich genannt. Hier gilt es, einen drohenden britisch-französischen Alleingang zu verhindern.
Als dritter Partner bietet sich Polen an, das in Bezug auf die ESVP eine bemerkenswerte Wandlung durchlaufen hat: Vor seinem Beitritt noch ablehnend gegenüber ihrer Gründung und klar transatlantisch orientiert, hat es sich substanziell an mehr und mehr EU-Operationen beteiligt und nach der in Polen als enttäuschend aufgenommenen amerikanischen Abkehr von der Raketenabwehr zu einem deutlichen Unterstützer der GSVP gewandelt. Bereits jetzt hat die polnische Regierung angekündigt, die GSVP zu einem Schwerpunktthema ihrer Ratspräsidentschaft in der zweiten Hälfte 2011 zu machen – ein realistisches Zieldatum zur Umsetzung konkreter Schritte in der EU-Fähigkeitenentwicklung.
Die Partner eint das Ziel, die militärische Handlungsfähigkeit zu stärken. Wenn es Deutschland gelingt, die Fähigkeitenentwicklung um dieses Ziel zu gruppieren, und es eigene Bereitschaft mitbringt, kann es mit den neuen Lissabonner Instrumenten langfristig gelingen, der GSVP Perspektiven jenseits der bisherigen Symbolpolitik und Testläufe zu eröffnen.
NICOLAI VON ONDARZA ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Forschungsgruppe EU-Integration der Stiftung Wissenschaft und Politik.
Internationale Politik 3, Mai/Juni 2010, S. 100 - 105