Weltspiegel

26. Juni 2023

Europa muss sich wappnen

Der alte Kontinent, allen voran Deutschland, gilt als Trittbrettfahrer der Sicherheitspolitik: Schmarotzer-Vorwürfe werden im US-Wahlkampf sehr laut werden.

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Bild: Scholz und Biden im Oval Office
Die Wahl von US-Präsident Joe Biden – mit Bundeskanzler Olaf Scholz im März 2023 – gab Europa vier Jahre Zeit, parteiübergreifende Unterstützung für das transatlantische Verhältnis zu sichern; die Uhr tickt.
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Das Rennen um die nächste US-Präsidentschaft ist bereits in vollem Gange. Joe Biden hat seine Kandidatur für eine zweite Amtszeit am 25. April offiziell bekanntgegeben.

Der Wettstreit um die Nominierung der Republikaner nimmt schon seit Monaten deutlich an Fahrt auf, und Donald Trump ist erneut einer der aussichtsreichsten Anwärter der GOP. Was anfangs nach einem Kopf-an-Kopf-Rennen mt Ron De Santis, dem Gouverneur von Florida aussah, könnte vielleicht zu einer weiteren Ein-Mann-Show für Trump werden.

Wie bei allen US-Wahlen fokussieren sich die meisten Kandidaten auf innenpolitische Themen, erhoffen sie sich doch gerade in Zeiten starker Polarisierung davon Erfolg. Zwar ist auch die Außenpolitik ein wichtiges Thema, das sich immer wieder in innenpolitischen Themen spiegelt. Zur Stimmabgabe selbst treiben außenpolitische Belange jedoch für gewöhnlich nur die wenigsten Amerikanerinnen und Amerikaner. Das dürfte bei der Wahl im November 2024 kaum anders sein. Trotzdem wäre es nicht überraschend, wenn gerade die Präsidentschaftskandidaten aus dem konservativen Spektrum die Außenpolitik nutzten, um ihre innenpolitischen Argumente zu untermauern – und das im Zweifel auch auf Kosten der europäischen Bündnispartner. Europa sollte sich dessen bewusst sein, es sollte sich wappnen und handeln.

Spätestens seit Trump 2015 zum ernstzunehmenden Präsidentschaftskandidaten aufstieg, steht Europa mit seinem komplizierten Geflecht aus multilateralen Institutionen wie der Europäischen Union und der NATO-Beteiligung im Zentrum des Zornes der amerikanischen Rechten. Während Trumps Wahlkampf wurden Beziehungen, die bis zu diesem Zeitpunkt als praktisch unantastbar galten, zu einem Druckmittel für Trumps „America First“-Politik degradiert. Trump behauptete unter anderem, die EU sei geschaffen worden, um die Vereinigten Staaten zu schädigen, und dass die USA das Land seien, das am wenigsten von seiner ­NATO-Mitgliedschaft profitiere. Er ging sogar so weit, die in Artikel 5 festgelegten Verpflichtungen gegenüber Bündnis­partnern infrage zu stellen, sollten diese künftig nicht genug finanzielle Mittel für die eigene Verteidigung ausgeben.

Trump schlug auf Europa ein, um deutlich zu machen, dass die USA schon viel zu lange von ihren wohlhabenden Verbündeten ausgenutzt würden. Er war jedoch längst nicht der erste US-Präsident, der die Trittbrettfahrerei europäischer Verbündeter kritisierte. Schon Präsident Dwight D. Eisenhower beklagte 1959, dass die europäischen Verbündeten mit ihren unzureichenden Verteidigungsanstrengungen Gefahr liefen, „Uncle Sam zum Trottel zu machen“. Damals gab es jedoch weder Twitter noch Facebook – und so kamen Trumps State­ments im Zeitalter viraler Social-Media-Momente weitaus lauter an. Die Vorstellung, dass Europa die USA ausnutzt, verfestigte sich dabei insbesondere unter Konservativen. Gerade Deutschland fiel hierbei eine undankbare Rolle zu: viertgrößte Volkswirtschaft der Welt, größte Volkswirtschaft Europas und eines der Länder, die bei den Verteidigungsausgaben weit hinter seinen Erwartungen zurückbleiben. An der Bundesrepublik arbeitete Trump sich besonders ab.



„Europäischer Ballast“

Russlands Invasion der Ukraine kollidiert mit amerikanischen Plänen, sich künftig verstärkt auf den indopazifischen Raum zu konzentrieren. Der rechte Flügel der Republikanischen Partei nutzt diesen Moment, um die Idee des „europäischen Ballasts“ weiter zu spinnen. Die Grundlage dieser Argumentation lautet: Die USA können sich immer nur auf einen Schauplatz im Ausland konzentrieren, und dieser Schauplatz sollte fortan der indopazifische Raum sein. Europa sollte sich derweil, bitteschön, um seine eigene Nachbarschaft kümmern.

Auch hier haben sich die Wortführer einmal mehr auf Deutschland eingeschossen. So twitterte Senator J.D. Vance kürzlich: „Deutschlands Verhalten in diesem Krieg ist schändlich, und es ist eine Beleidigung für unsere Wähler, dass zu viele Republikaner das hinnehmen.“ Sein Parteifreund und Senator Josh Hawley schrieb im vergangenen Jahr einen Brief an US-Außenminister Antony Blinken, der unter anderem folgende Frage enthielt: „Stimmen Sie zu, dass es für die Vereinigten Staaten klug wäre zu warten, bis die NATO-Verbündeten, einschließlich Deutschland, mehr als 2 Prozent ihres BIP für die eigene Verteidigung ausgeben, bevor die USA weitere Maßnahmen zur Unterstützung der ukrainischen Mitgliedschaft in der NATO ergreifen?“

Und nicht nur die Beziehungen zu einzelnen Bündnispartnern werden immer wieder hinterfragt, sondern auch die NATO im Allgemeinen. So twitterte Senator Mike Lee: „Wir werden von unseren NATO-Verbündeten ausgenutzt, wenn wir unsere Verteidigungsverpflichtungen konsequent erfüllen und übertreffen, während sie es nicht tun – aber sie wissen, dass sie sich auf uns verlassen können, wenn es um ihre Verteidigung geht.“

Natürlich lohnt es sich, eine offene und ehrliche Diskussion darüber zu führen, wie Europa seine Verantwortung wahrnehmen kann, was das für Taiwan bedeutet, und wie auch Deutschland zu einem ernstzunehmenden Verteidigungs- und Sicherheitsakteur wird. Der sich abzeichnende Trend aber, bei dem Deutschland stellvertretend für all die grundlegenden Missstände in den Beziehungen zwischen den USA und Europa steht – und Europa stellvertretend für alle Probleme mit Blick auf Amerikas Rolle in der Welt –, ist besorgniserregend.

Europa und insbesondere Deutschland müssen alles tun, um in den nächsten 18 Monaten nicht zu einer Art politischem Boxsack zu mutieren, an dem sich manche in den USA abreagieren. Der erste Schritt besteht dabei darin, zu verinnerlichen, dass Präsident Biden sehr wahrscheinlich der trans­atlantischste Präsident sein wird, den Europa in naher Zukunft erleben wird: Daher müssen sie Bidens Präsidentschaft zu ihrem Vorteil nutzen.

Der zweite Schritt ist die Einsicht, dass die EU und Deutschland unabhängig davon, wie Trump oder ein anderer republikanischer Kandidat am 5. November 2024 abschneiden werden, unter der politischen Rechten in den USA bereits heute erheblich an Rückhalt verloren haben.

Sich in die Defensive zu begeben oder sich von einflussreichen politischen Entscheidungsträgern in Washington vor den Kopf stoßen zu lassen, die Europa trotz seiner großen Unterstützung für die Ukraine beschimpfen, wird keine der beiden Herausforderungen lösen. Vielmehr braucht Europa eine Agenda, die nachweist, dass es seine Sicherheits- und Verteidigungsrolle tatsächlich ernster nimmt.



Zeitenwende konkret umsetzen

Deutschland muss dafür zunächst sicherstellen, dass die von Bundeskanzler Olaf Scholz beschriebene Zeitenwende nicht nur eine Phase ist, sondern sich auch schon kurzfristig in sinnvollen Veränderungen niederschlägt. So müssen das 2-Prozent-Ziel und seine konkrete Umsetzung Teil der neuen Nationalen Sicherheitsstrategie sein. Sonst kann sich Deutschland auf massive Kritik gefasst machen – und das nicht nur von den Republikanern. Früher wäre eine deutsche Nationale Sicherheitsstrategie vielleicht nur von einem kleinen Kreis von Europa-Experten, Transatlantikern und Akademikern gelesen worden. Heute würde es kaum überraschen, sollten Trump oder DeSantis schon bald vor einer Gruppe von Wählern in Iowa, Ohio oder Michigan stehen und darüber referieren, dass es die deutsche Absicht sei, die amerikanischen Steuerzahler einmal mehr für die europäische Sicherheit bezahlen zu lassen.

Spätestens, wenn der US-Wahlkampf Fahrt aufnimmt, wird er jeden Fortschritt zunichte machen, den deutsche Entscheider in Sachen Zeitenwende erzielt zu haben glaubten. Auch die 18 Kampfpanzer vom Typ Leopard 2A6, die Berlin nach Monaten erbitterter Debatten in die Ukraine geschickt hat, werden die Bundesrepublik nicht vor neuen Angriffen aus den USA schützen. Und nur für den Fall, dass sich in Berlin gerade jemand zurücklehnt und auf unbestreitbaren Errungenschaften ausruhen möchte: Erst kürzlich haben DeSantis’ Äußerungen, dass Deutschland „nichts tut“, gezeigt, dass die meisten deutschen Fortschritte und Aktionen im konservativen Spektrum der US-Politik nicht registriert werden. Selbst die vollständige Liste der gespendeten Waffen, Feldbetten und Artilleriegeschütze und andersgearteter Unterstützung würde ein aufgeheiztes Wahlkampfpublikum im „Rust Belt“ wohl kaum vom Gegenteil überzeugen. Anders wäre es vielleicht gelaufen, wenn Deutschland seine Leopard-Zusage nicht an die Entsendung von amerikanischen Abrams-Panzern gekoppelt hätte. Leider kam die deutsche Unterstützung für die Ukraine für viele doch sehr spät und war für viele nicht umfangreich genug.

All das würde noch in den Schatten gestellt, sollten US-Kritiker Deutschland erst einmal für eine in ihren Augen viel schlimmere Grenzüberschreitung ins Visier nehmen: eine „abweichende“ Haltung zum Umgang mit China. Dass die USA einen europäischen „dritten Weg“ gegenüber Peking nicht akzeptieren können und wollen, insbesondere wenn dieser von den großen Volkswirtschaften Frankreich und Deutschland beschritten wird, zeigt sich allein schon an den Reaktionen auf die jüngsten Äußerungen des französischen Präsidenten Emmanuel Macron. Dieser hatte erklärt, Europa müsse es vermeiden, in einem sich zuspitzenden Konflikt zwischen Washington und Peking zum „Vasallen“ zu werden. Kurz darauf schlug Senator Marco Rubio vor, Europa den Krieg in der Ukraine allein zu überlassen, sollte der Kontinent Macrons Vorschlag folgen.

Jegliche amerikanische Anerkennung der von der Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, sorgfältig kalibrierten europäischen Neuausrichtung gegenüber China wäre wohl mit einem Mal passé. Und selbst wenn Europa im November 2024 noch einmal eine Trump-freie Galgenfrist eingeräumt werden sollte, hätte eine zweite Biden-Regierung womöglich alle Hände voll damit zu tun, Europa vor der Kritik republikanischer China-Hardliner zu schützen.

Als Biden sein Amt antrat und sich nach vier Jahren Trump auf die Wiederherstellung der amerikanisch-europäischen Beziehungen konzentrierte, meinten viele, dass Europa nun vier Jahre Zeit habe, sich zu beweisen. Der russische Einmarsch in der Ukraine aber hat dieses Ziel in den Hintergrund treten lassen und einmal mehr das verstärkte Engagement der USA in Europa notwendig gemacht. So hat der russische Krieg nicht zuletzt zu der Erkenntnis beigetragen, dass die Sicherheit Europas und der europäischen Nachbarschaft noch immer und noch lange stark von den USA abhängt. Noch hat Europa Zeit, seinen Teil dazu beizutragen, die parteiübergreifende Unterstützung für die transatlantischen Beziehungen zu sichern. Doch die Uhr tickt, und sie tickt deutlich lauter.  



Aus dem Englischen von Kai Schnier

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli/August 2023, S. 82-85

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Jörn Fleck ist Senior Director des Europe Center beim Atlantic Council.

Rachel Rizzo ist Nonresident Senior Fellow des Europe Center beim Atlantic Council.

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