Euro-amerikanische Partnerschaft im atlantischen Bündnis
Buchkritik
Die amerikanische Diskussion über eine eigenständige Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) ist durch ein hohes Maß an Ambivalenz gekennzeichnet. Zu beobachten ist gleichzeitig ein nachdrückliches Drängen auf einen größeren militärischen Beitrag der Europäer – nicht nur im Sinne eines „burden sharing“, sondern auch auf Errichtung eines starken europäischen Pfeilers im Rahmen der NATO. Andererseits wird die Besorgnis geäußert, dass eine eigene europäische Verteidigungskomponente das westliche Bündnis schwächen und diesem notwendige Ressourcen vorenthalten könnte.
Robert Hunter will in der vorliegenden Studie seinen Landsleuten die Motive und Etappen der Entwicklung der ESVP nahe bringen und aus der Perspektive amerikanischer Sicherheitsinteressen bewerten. Als NATO-Botschafter von 1993 bis 1998 und langjähriger Beobachter der europäischen Sicherheitspolitik ist der Verfasser, der heute im Washingtoner Büro der RAND-Corporation arbeitet, für diese Aufgabe besonders qualifiziert. Hunter geht davon aus, dass die europäischen Verbündeten außerordentlich wichtige („critically important“) Sicherheitspartner der USA sind und weder schwach bleiben noch eine unabhängige Kraft außerhalb der NATO werden dürften. Seine Analyse ist daher von dem Bemühen gekennzeichnet, ein konstruktives Verhältnis zwischen dem westlichen Bündnis und der im Entstehen begriffenen ESVP zu entwickeln.
Im Einzelnen zeichnet Hunter die Entstehung der ESVP seit dem Vertrag von Maastricht und die Reaktionen Washingtons nach. Er erkennt den Wunsch der Europäer nach größerer Mitsprache in Sicherheitsfragen an – wozu diese entsprechende militärische Mittel benötigten –, reagiert jedoch kritisch auf ihren Anspruch, eine Fähigkeit zum autonomen militärischen Handeln zu schaffen.
Die im Jahr 1996 auf der Berliner NATO-Konferenz gefundene Formel, wonach Einsatzkräfte von den Europäern ohne Mitwirkung aller NATO-Partner, aber nicht ohne deren Zustimmung eingesetzt werden können („separate, but not separable“), ist der Kompromiss. Die britisch-französische Erklärung von St. Malo 1998 ließ jedoch in Washington wieder die Alarmglocken schrillen. Sie veranlasste Außenministerin Madeleine Albright zu der berühmten Warnung vor den drei „D“: „decoupling“ (Abkopplung der Europäer von Amerika), „discrimination“ (Diskriminierung der Nicht-EU-Mitglieder), und „duplication“ (Duplizierung der NATO-Strukturen und -fähigkeiten). In diesem Zusammenhang verweist Hunter auf den Beschluss der Allianz vom April 1999, die militärischen Fähigkeiten des Bündnisses durch eine „Defense Capability Initiative“ (DCI) zu stärken.
Insgesamt kommt Hunter zu einem positiven Urteil über die ESVP, wenn es gelinge, diese eng mit der NATO zu verzahnen und eine Reihe von Sachproblemen zu lösen. Andernfalls könnte es leicht zu einer Konkurrenzsituation kommen. Er tritt für die Festschreibung des Vorrangs des westlichen Bündnisses („NATO first“) und die Übernahme gleicher Risiken von Allianz und EU (also keine Arbeitsteilung zwischen beiden) ein. Außerdem fordert er höhere europäische Verteidigungsleistungen, gemeinsame Planungs- und Befehlsstrukturen, Interoperabilität (wobei er – an seine Landsleute gerichtet – für eine Zweibahnstraße in der Hochtechnologie plädiert) sowie die Entwicklung von bündnisinternen Verfahren zum Krisenmanagement. Er macht sich das Petitum Washingtons zu eigen, dass alles vermieden werden müsse, was zu einer Schwächung der Vorrangstellung der Allianz und zur Minderung des amerikanischen Einflusses in Europa führen könnte. Die Regierung Bush unterstütze wie ihre Vorgängerin eine stärkere Rolle der EU in Fragen der europäischen Sicherheit, fordere jedoch, dass diese im Rahmen der NATO erfolge („properly integrated with NATO“).
Die äußerst lesenswerte Studie enthält eine Vielzahl von Informationen, die dem Verfasser aus seiner Teilnahme an den entscheidenden NATO-Sitzungen zugänglich waren. Obwohl ausschließlich offenes Material zitiert wird, ermöglicht sie dem Leser, an vielen Stellen zwischen den Zeilen zu lesen. In einem Nachwort geht Hunter auf die Folgen des 11. September ein. Er stellt fest, dass die Diskussion über die ESVP in den Hintergrund getreten sei und meint, dass diese in der Antiterrorkampagne des Westens – im Gegensatz zur Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) der EU – keine Rolle spiele.
Robert E. Hunter, The European Security and Defense Policy: NATO‘s Companion – or Competitor? RAND MR-1463 – ESDI; Santa Monica 2001, 179 S., 24,00 $.
Internationale Politik 4, April 2002, S. 74 - 75.