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01. Juni 2007

Erfolgreiches Notbündnis

Werkstatt Deutschland

Der Aufschwung der deutschen Wirtschaft ist auch ein Aufschwung der Großen Koalition – bevor sie abtritt, muss sie ihn nutzen, um weiter Schulden abzubauen

Etwas Magisches, Geheimnisvolles, Unerklärliches hat dieser Aufschwung. Der Außenhandel boomt, als wolle er persönlich Hans-Werner Sinns Reformthesen unter Beweis stellen. Die Binnenwirtschaft steckt 19 Prozent Mehrwertsteuer weg, als sei das gar nichts. Beim Ausfüllen der Fragebögen zu Konjunkturerwartungen kreuzen Manager die Top-2-Boxen „sehr gut“ und „gut“ an. In rauhen Mengen strömen Arbeitslose zurück an die Werkbank, und bei der Bundesagentur für Arbeit hat man neuerdings ein gravierendes Geldanlageproblem. Woher genau der Boom kommt, ist bei Volkswirten genauso umstritten wie die Frage nach seiner Dauer. Die herrschende Meinung geht von einer überaus günstigen Verbindung einzelner Glücksfaktoren aus, deren Ende nicht so bald zu erwarten ist: China und Indien brauchen in ihrer gegenwärtigen Aufholphase vorwiegend Güter, die Deutschland herstellt. Die Lohnstückkosten sind durch jahrelange Lohnzurückhaltung so stark gesunken, dass wir inzwischen eines der wettbewerbsfähigsten Industrieländer sind. Schröders „Agenda 2010“ hat den Arbeitsmarkt um genau jenes Quäntchen dereguliert, das Angebot und Nachfrage wieder zusammenbringt, und das damit verbundene Paket Hartz IV setzte die Transferleistungen in genau jenem Maße herab, das zur Aufnahme eigener Erwerbstätigkeit motiviert. Kurzum: Der Staat als Einspritzer der Volkswirtschaft liefert nach langen Jahren des Experimentierens endlich wieder die richtige Spritmischung.

Lässt man diese Interpretation gelten, drängen sich zwei entscheidende Fragen auf: Welchen Beitrag zum Aufschwung liefert eigentlich die Große Koalition – geschieht er ihretwegen oder trotz ihr? Und welche Projekte sollte die Koalition in ihrer verbleibenden Amtszeit noch angehen – hat sie alles Wünschenswerte schon erledigt oder verschenkt sie eine unwiederbringliche Chance, wenn sie jetzt tatenlos die nächste Bundestagswahl abwartet?

Hinsichtlich ihres Beitrags zum Aufschwung wird die Große Koalition erheblich unterschätzt. Sie darf sich einen bedeutenden Anteil zuschreiben und ist nicht einfach nur der zufrieden strahlende Nutznießer der Schröderschen Reformpolitik. Ihre wichtigste Leistung besteht im Erzeugen politischer Kontinuität und in der Rationalisierung von Zukunftserwartungen. Als große Koalition besitzt die Regierung Merkel genau jene Massenträgheit, die ruckartige Bewegungen unwahrscheinlich macht. Massenträgheit ist nicht das gleiche wie Stillstand. Ein Ozeandampfer kann mit hoher Geschwindigkeit durch den Atlantik fahren, zugleich ist seine Masse äußerst träge. In den kleinen Koalitionen der Vergangenheit mussten alle Wirtschaftssubjekte mit hoher Volatilität rechnen. Jeder einzelne Bundestagsabgeordnete konnte den Kanzler erpressen und Reformprojekte kippen. Verlässliche Investitions- und Zukunftsplanung war nicht möglich. Die Lage in Schröders zweiter Amtszeit war einer Hochseefahrt bei schlechtem Wetter und dichtem Nebel nicht unähnlich: Mit der Sicht verschwindet die Zuversicht, und an die Stelle von Zukunftsplanung tritt Zukunftsangst. Hektische Ruderausschläge sind das schlimmste, was man auf der Brücke in solcher Lage tun kann. Besser ist es, die Geschwindigkeit dem Wetter anzupassen, die Lage genau zu analysieren, den Kurs mit Bedacht festzulegen, ihn entschlossen zu halten und auf diese Weise mutig durch die Nebelwand zu ziehen.

Nichts anderes tut die Große Koalition mit ihrer „Politik der kleinen Schritte“. Prompt steigen Vertrauen und Zuversicht, prompt wird die Nebelwand überwunden, prompt erscheint die Zukunft in hellerem Licht. Wenn noch das Glück hinzukommt, dass Kunden im Ausland gerade viele deutsche Maschinen brauchen, BMW, Porsche, Mercedes, Audi und VW weltweit als begehrenswerte Statussymbole gelten und der Schrödersche Thatcherismus Früchte trägt, dann kann ein nachhaltiger Aufschwung die Folge sein. Wichtigste Aufgabe der Kanzlerin in dieser Konstellation ist es, Erschütterungen und laute Töne zu vermeiden.

Was also sollte die Große Koalition noch erledigen, bevor sie abtritt? Ihre wichtigste Aufgabe ist die Haushaltskonsolidierung. Wenn es Peer Steinbrück gelingt, die Neuverschuldung zu stoppen und einen Batzen Altschulden zurückzuzahlen, dann erzeugt die Regierung überhaupt erst die Voraussetzung für künftige Politik. Gegenwärtig kann gestaltende Politik gar nicht stattfinden; am Werke sind zwangsläufig Konkursverwalter. Oberstes Ziel ist das Abwenden des Bankrotts. Abtreten sollte die Große Koalition erst, wenn die strukturelle Zahlungsunfähigkeit verhindert ist. Aus diesem Ziel ergeben sich die Zwischenziele: Ohne weitere Steuererhöhungen, idealerweise mit einer Einkommenssteuersenkung, muss es gelingen, Einnahmen und Ausgaben in Deckung zu bringen. Dafür müssen die gigantischen staatsmonopolistischen Sozialsysteme wie Rente, Gesundheit, Pflege und Arbeitsverwaltung sowie der öffentliche Dienst samt seiner Rentenlasten saniert werden, die in ihrer Summe heute den Löwenanteil des Bundeshaushalts verschlingen. Diese große Koalition ist ein Notbündnis zur Behebung einer Finanzkrise. Ihre Aufgabenstellung ist eine rein fiskalische. Soziale und gesellschaftliche Reformprojekte muss sie ihrem fiskalischen Ziel unterordnen. Man könnte sagen: Diese Regierung ist ein Finanzkurator, und Deutschland steht unter ihrer Kuratel, bis der Konkurs endgültig abgewendet ist. Wann wird das sein? Gewiss nicht vor 2009. Mindestens bis dahin ist diese Koalition ein Gewinn.

CHRISTOPH KEESE, geb. 1964, ist Chefredakteur der Welt am Sonntag und Autor der Bücher „Rettet den Kapitalismus“ (2004) sowie „Verantwortung jetzt“ (2006).

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, Juni 2007, S. 104 - 105.

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