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01. Mai 2021

Entschieden 
entflechten

Chinas Boom war für die deutsche Wirtschaft lange ein Glücksfall. Doch auch die Unternehmen merken, wie sich der Wind in Peking dreht. Künftig wird man hart darum ringen müssen, wo die Grenze zwischen vorteilhafter Verflechtung und gefährlichen Abhängigkeiten verläuft.

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Bild: Ein Container wird von einem Schiff auf einen Sattelschlepper geladen.
Andockfähig: Einzelne deutsche Unternehmen und Branchen sind stark vom China-Geschäft abhängig, die Wirtschaft als Ganzes eher nicht. Blick in den Hafen von Qingdao, einen der geschäftigsten Häfen der Welt.
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Anfang 2021 in der Strategiesitzung eines deutschen Mittelständlers: Quer durch alle Zeitzonen treffen sich 20 führende Manager in einem virtuellen Meeting-Raum, um sich die Kernfrage jedes Unternehmens zu stellen: Passt unsere Strategie noch zu der Welt von morgen? Die Pandemie spielt dabei schon keine zentrale Rolle mehr; die Bestellungen für die Produktionsmaschinen der Deutschen ziehen wieder an. Die große Frage ist China. Das neue China. Das schwierige China. „Vor ein paar Jahren ging es vor allem darum, wie viel wir in China verkaufen können“, erklärt einer der Vorstände. „Heute ist die Frage: Wie viel China ist gesund für unser Unternehmen?“



Natürlich ist China ein Schlüsselmarkt; nirgends verzeichnet die Branche auch nur annähernd so hohe Wachstumszahlen. Aber jeder im Call weiß, dass hinter den steilen Kurven Gefahren lauern. Eine davon heißt „Made in China 2025“. Die chinesische Industriepolitikinitiative soll die chinesischen Technologieunternehmen zu Weltmarktführern machen, gerade auch in Branchen, in denen die Deutschen traditionell stark sind.



Kann das Unternehmen darauf hoffen, dass es mit seinen hochspezialisierten Anlagen eine Nische bedient, die groß genug ist, damit eine deutsche Mittelstandsfirma darin gut leben kann, aber zu klein, um auf das Radar der Pekinger Wirtschaftsplaner zu geraten? Oder hat die chinesische Politik es nicht gerade auf solche neuralgischen Punkte in den Wertschöpfungsketten abgesehen?



Eine andere Gefahr heißt „Decoupling“, ein politisch motivierter Abkopplungskurs zwischen der chinesischen und der US-Wirtschaft, dem sich auch Europa nicht entziehen kann. Eine weitgehende Rückabwicklung der Globalisierung mag schwer vorstellbar sein und ist doch längst Realität, etwa wenn es um den Transfer von Daten geht. „Unsere Datensysteme für unsere Anlagen müssen für unterschiedliche Märkte komplett voneinander getrennt sein“, sagt der Vorstand. „Allein das sind schon Anforderungen und Kosten, die nicht jedes Unternehmen stemmen kann.“

 

Die Wirtschaft denkt um

Ähnliche Diskussionen führen derzeit die meisten deutschen Exportunternehmen. Von den Strategien, die dabei herauskommen, hängt viel ab für den Wirtschaftsstandort Deutschland. Drei Jahrzehnte lang sind die wirtschaftlichen Beziehungen immer enger geworden, ein dichtes Netz aus Geschäftsverbindungen tausender Firmen. Doch die Welt hat sich verändert und mit ihr der deutsche Blick auf Kooperationen mit China. In den kommenden Jahren wird politisch und wirtschaftlich hart darum gerungen werden, wo die Grenze zwischen vorteilhafter Verflechtung und gefährlicher Abhängigkeit verläuft.



Dabei wird das lange Jahre dominierende Narrativ, die deutsche Wirtschaft sei so abhängig von China, dass ein unabhängigerer oder gar konfrontativerer Kurs gegenüber Peking ökonomischer Selbstmord sei, in wachsendem Maße infrage gestellt. Angela Merkels Kanzleramt scheint derzeit noch die letzte Bastion dieser Ansicht zu sein. In weiten Teilen der Wirtschaft hat längst ein Umdenken eingesetzt.



 Zwar sind einzelne deutsche Unternehmen und Branchen tatsächlich stark von China abhängig, insbesondere die Automobilindustrie, aber mitnichten die deutsche Wirtschaft insgesamt. Schätzungsweise 900 000 deutsche Arbeitsplätze hängen an Exporten nach China, weniger als 2 Prozent der gesamten Beschäftigten in Deutschland. Das ist kaum eine Zahl, die ein Nachdenken über größere Unabhängigkeit verbieten würde.



Im Gegenteil: Da die chinesische Wirtschaftspolitik ihrerseits darauf ausgerichtet ist, immer weniger Technologie zu importieren und immer mehr selbst zu exportieren, muss sich die deutsche Wirtschaft ohnehin darauf einstellen, dass sich das China-Geschäft in den kommenden Jahren grundlegend verändern wird. Vorbei sind die Zeiten, in denen man im Westen davon ausgehen konnte, dass sich Peking auf einem Weg marktwirtschaftlicher Reformen und systemischer Annäherung befände. Zwar bemüht sich Chinas Regierung, Sorgen über die chinesischen Ambitionen zu zerstreuen.

Vorbehalte gegenüber „Made in China 2025“, gegenüber der Seidenstraßen-Initiative oder gegenüber einem Cybersicherheitsgesetz, das der Kommunistischen Partei de facto vollen Zugriff auf alle Daten chinesischer Unternehmen ermöglicht, werden von Peking als (mehr oder weniger böswillige) Missverständnisse dargestellt.



Doch nimmt man die Pläne und Ankündigungen ernst, ergibt sich ein ziemlich klares Bild von Chinas Kurs. Ein Beispiel: „Made in China 2025“. In einer Studie haben die Bertelsmann Stiftung und das Fraunhofer Institut für Innovations- und Systemforschung (ISI) berechnet, was es für den deutschen Maschinen- und Anlagenbau, eine der exportwirtschaftlich wichtigsten Branchen, bedeuten würde, wenn China mit seiner Strategie Erfolg hat. Die Ergebnisse sind deutlich: Nur wenn „Made in China 2025“ scheitert, kann der deutsche Maschinenbau weiterhin mit einem langfristigen Wachstum der Exporte in die Volksrepublik rechnen. Die Zahlen zeigen außerdem: Je mehr Erfolg Peking mit seiner Industriepolitik hat, desto mehr Maschinen und Anlagen exportiert es auch in Drittländer und wird dort zu einer starken Konkurrenz. Die ausschließliche Fokussierung auf eine Teilhabe am wirtschaftlichen Wachstum Chinas könnte für die deutsche Wirtschaft mit steigenden Abhängigkeiten und dennoch rückläufigen Exporten einhergehen.



Das heißt keineswegs, dass Unternehmen sich aus dem chinesischen Markt zurückziehen müssten. Chinas Anteil am Weltmarkt wächst stetig, und in vielen Sektoren setzt die Volkrepublik längst selbst technologische Standards. Doch in Zeiten einer wachsenden Politisierung der Weltwirtschaft ist die alte Devise, dass alles, was für ein deutsches Unternehmen gut ist, auch dem Wirtschaftsstandort Deutschland diene, nur noch eingeschränkt gültig.



Wie viel Marktmacht China mit seinen Produkten entwickeln kann und welche politischen Folgen daraus entstehen können, hat zuletzt die 5G-Diskussion gezeigt. Die Frage, in welchen Branchen wir mit China gut zusammenarbeiten können, wird unweigerlich ins Zentrum der wirtschaftspolitischen Debatte rücken. Dort braucht es transparente Richtlinien, nach denen Chancen und Risiken gegeneinander abgewogen werden.



Wie ein solches Raster aussehen könnte, zeigt der sogenannte Green-List-Ansatz, den das US-Forschungsunternehmen Rhodium im Auftrag der Bertelsmann Stiftung entwickelt hat. Dafür wird analysiert, welche Teile des wirtschaftlichen Austauschs zwischen der EU und China aus sicherheitspolitischer Sicht unbedenklich sind. Das Ergebnis: Der größte Teil des China-Geschäfts ist sicherheitspolitisch irrelevant, also keine Bedrohung für die nationale Sicherheit, die Stabilität kritischer Infrastruktur oder die Versorgung mit lebensnotwendigen Gütern. 83 Prozent der europäischen Importe aus China und 56 Prozent der europäischen Exporte werden als „grün“ eingestuft. Auch ein beträchtlicher Anteil der Branchen, die nicht auf der „Green List“ stehen, könnten durch entsprechende Regulierungsmaßnahmen wieder auf grün geschaltet werden.



Konzepte wie dieses können nicht nur Transparenz für Unternehmen schaffen, sondern auch politische Argumentationshilfen liefern, sowohl in Richtung Peking als auch in Richtung Washington. Zwar gibt es für Europa zwischen den beiden Großmächten keine Äquidistanz; die USA sind für die Europäer die deutlich engeren Partner. Doch auch im transatlantischen Verhältnis wird Europa seine Eigenständigkeit beweisen müssen.



Dabei sollte klar sein: Wirklich behaupten können wir uns gegenüber China nicht mit Defensivschlachten, sondern nur durch Wettbewerbsfähigkeit. Und dafür brauchen wir faire Wettbewerbsbedingungen in einem so großen Teil der Welt wie möglich. Hier liegen auch die Ansatzpunkte für eine aussichtsreiche transatlantische China-Agenda. Da nicht zu erwarten ist, dass Peking seinen staatlich gelenkten wirtschaftlichen Ansatz in absehbarer Zeit wesentlich ändert, sollten sich die EU und die USA auf die Gestaltung des Umfelds konzentrieren, in dem sie mit China interagieren.



Hier ist eine stärkere transatlantische Abstimmung über den Schutz gleicher Wettbewerbsbedingungen im eigenen Land gegenüber chinesischen Playern und über die Förderung der Wettbewerbsneutralität in China von entscheidender Bedeutung. Darüber hinaus sollten die Vereinigten Staaten und die EU auf gleiche Wettbewerbsbedingungen in Drittländern hinwirken, wo chinesische Wirtschaftsakteure unfaire Praktiken anwenden könnten, die amerikanische und europäische Unternehmen benachteiligen.



Damit dieser Ansatz erfolgreich ist, müssen die USA und die EU ihre eigenen Streitigkeiten beilegen. Dazu gehören Meinungsverschiedenheiten über Datenschutzstandards und digitale Besteuerung, Stahl- und Automobilzölle sowie der langjährige Airbus-Boeing-Streit, der nun immerhin bis mindestens Juli 2021 auf Eis gelegt wurde. Die Lösung dieser Fragen würde die USA und Europa in die Lage versetzen, mit China robuster das Thema gleiche Wettbewerbsbedingungen sowohl innerhalb als auch außerhalb des WTO-Kontexts zu verhandeln.



Nur wenn die USA und die EU ihre Fähigkeit beweisen, inhaltliche Differenzen zu überwinden und gemeinsam voranzukommen, wird ein erneuertes transatlantisches Bündnis ernst genommen werden. So ließe sich Peking signalisieren, dass die USA und Europa entschlossen und in der Lage sind, gleiche Wettbewerbsbedingungen untereinander und für eine breitere Gruppe der fortschrittlichsten Volkswirtschaften zu schaffen – und dass China den (zumindest teilweisen) Ausschluss von diesem Spielfeld riskiert.



Dieser Ansatz spiegelt eine Verschiebung in der China-Politik wider: Es geht nicht mehr nur um unsere Beziehung zu China, sondern darum, die Probleme, die Peking weltweit schafft, gemeinsam mit gleichgesinnten liberalen Demokratien und Marktwirtschaften anzugehen. Mit multilateralen Strukturen können wir dazu beitragen, direkte Konfrontationen zu verhindern, und uns so im Spannungsfeld von Partnerschaft, Wettbewerb und Rivalität selbstbewusst positionieren.              

Bernhard Bartsch ist seit Mai Director External Relations bei MERICS. Zuvor arbeitete er im Asien-Programm der Bertelsmann-Stiftung und als Korrespondent in China.

Anika Laudien ist Projektmanagerin im Asien-Programm der Bertelsmann Stiftung. 

Bibliografische Angaben

Internationale Politik Special, Mai, 03/2021, S. 55-59

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