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01. Mai 2009

Elemente einer neuen Sicherheitsarchitektur

Deutschland hat noch keine durchdachte Antwort auf die neuen asymmetrischen Bedrohungen

Deutschlands sicherheitspolitische Debatte hinkt hinter den Realitäten her. Mit dem bloßen Nachjustieren von Stellschrauben wird den neuen Gefahren nicht begegnet werden können: Die heutigen asymmetrischen Bedrohungen erfordern mehr als nur den Umbau der Systeme – was sich am unsicheren Umgang mit den Auslandseinsätzen ablesen lässt.

Das Erfordernis zu einem grundlegenden Umbau der deutschen Sicherheitsarchitektur wird häufig auf das Ende des Ost-West-Konflikts zurückgeführt. Daran ist richtig, dass die der inneren wie äußeren Sicherheit dienenden institutionellen Arrangements beider deutscher Staaten durch die Konstellationen des Kalten Krieges bestimmt waren: von der Organisation der Polizei über die Ausrichtung der Geheimdienste bis zu Struktur, Bewaffnung und Ausbildung der Streitkräfte. Doch die Veränderungen der sozialen und ökonomischen Rahmenbedingungen, die eine neue Sicherheitsarchitektur erforderlich machen, greifen tiefer, als dies mit dem Ende der konfrontativen Konstellation zwischen Ost und West beschrieben werden kann. Es kommt die Erosion des politischen Ordnungsmodells der Staatlichkeit hinzu, die in der OECD-Welt langsam und schrittweise erfolgt, an der Peripherie der Wohlstandszonen aber nicht selten kataklystische Züge annimmt.

Der seit dem 17. Jahrhundert in Europa entstandene institutionelle Flächenstaat war und ist nicht bloß ein institutionelles Arrangement zur Herstellung von Sicherheit, sondern er hat auch die Erwartungshorizonte der Menschen – und mit ihnen die Vorstellungen über eine evolutive Verwirklichung von Normen und Werten – geprägt. Von der sozialen bis zur inneren und äußeren Sicherheit werden die staatlichen Arrangements künftig nicht mehr leisten können, was sich die Menschen gegenwärtig noch davon erwarten. Und schließlich kommt als drittes Element noch die unter der abkürzenden Bezeichnung „Globalisierung“ zusammengefasste beschleunigte Internationalisierung der Unternehmensstrukturen sowie die explosionsartige Ausweitung globaler Kapitalbewegungen, des Informationsaustauschs und der Migrantenströme hinzu. Zwar hat es all das auch in der Vergangenheit gegeben, aber nicht in dieser Quantität und vor allem nicht in dieser schlagartigen Beschleunigung.

Das sind die wesentlichen Herausforderungen, denen sich eine neue Sicherheitsarchitektur zu stellen hat: Sie muss eine höhere Flexibilität besitzen, da die Art der Gefahren und Bedrohungen weit weniger präzise zu antizipieren ist als in der Vergangenheit, sie muss breitere Reaktionsoptionen eröffnen, da die zumeist asymmetrischen Herausforderungen nicht durch eine auf Reziprozität gepolte Ordnung konkurrierender Akteure domestiziert werden können, und zugleich sollten diese Eigenschaften und Fähigkeiten nicht auf Kosten anderer Grundwerte, wie Freiheit und das Recht auf Privatheit, entwickelt werden. Tatsächlich ist diese neue sicherheitspolitische Ordnung seit längerem im Entstehen begriffen, freilich eher gemäß Stimulus und Response, also in spontaner Reaktion auf neue Herausforderungen und keineswegs auf der Grundlage eines Gesamtplans oder einer Grand Strategy. Ist von Sicherheitsarchitektur die Rede, so handelt es sich eher um eine verbreitete Redensart, als dass damit ein Plan für den Umbau der sicherheitspolitischen Instrumente apostrophiert würde. Um einen solchen Plan zu rekonstruieren, sollen nachfolgend ein Blick auf die Grundsätze der alten Sicherheitsarchitektur geworfen, anschließend die neuen Herausforderungen in Grundzügen beschrieben und abschließend Elemente einer neuen Sicherheitsarchitektur skizziert werden.

Neuzeit: Europas klare Ordnung der Territorien

Die Sicherheitsarchitektur des klassischen Staatensystems, die diese Bezeichnung verdiente, beruht auf einer Reihe von Grenzziehungen, die bei der politischen Geographie beginnen und über die Rechtsordnung bis in die Systeme des Wissens reichen. Die grundlegende Grenzziehung ist dabei die, durch die ein Innen und ein Außen der politischen Ordnung geschaffen und in die Geographie der Räume eingeschrieben werden. Die sehr viel fluidere Struktur der zuvor das politische Gefüge prägenden Personenverbände wurde im neuzeitlichen Europa in die eindeutige und klare Ordnung der Territorien überführt. Durch die Territorialisierung von Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit, Inklusion und Exklusion, wurde die innere Sicherheit von der Sicherung nach außen unterscheidbar. Im Verwaltungslatein des 17. und 18. Jahrhunderts hieß ersteres protectio, letzteres defensio, und die damit je verbundenen Aufgaben wurden in eigenen Kompetenzen und Verantwortlichkeiten zusammengefasst. Militär und Polizei wurden mit der Fortentwicklung dieser Ordnung immer schärfer voneinander getrennt, und das wiederum hatte bei beiden einen Professionalisierungsschub zur Folge, bei dem sich Zuständigkeiten und Fähigkeiten wechselseitig stimulierten.

Mit der scharfen Unterscheidung von innen und außen aufs engste verbunden ist die Grenzziehung zwischen Krieg und Frieden. Entgegen einer verbreiteten Auffassung handelt es sich dabei nämlich keineswegs um quasi-natürliche Aggregatzustände des Politischen, sondern beide müssen künstlich voneinander getrennt werden. „Von Natur aus“ dürften die Menschen in einem Zustand gelebt haben, der dem nicht unähnlich ist, was man seit einiger Zeit als „low intensity conflict“ bezeichnet.1 Krieg und Frieden unterscheiden sich davon durch eine in entgegengesetzte Richtungen gesteigerte Erwartungssicherheit: Frieden heißt, dass die Konkurrenz um knappe Güter gewaltfrei ausgetragen wird; Krieg hingegen, dass die Gewalt das bevorzugte Mittel bei der Klärung strittiger Fragen darstellt. Die Übergänge zwischen beidem werden scharf markiert und in Form von Kriegserklärung und Friedensschluss rechtlich gefasst. Die mit der Evolution dieser Ordnung verbundene Norm ist die der räumlichen wie zeitlichen Ausweitung des Friedens und einer fortschreitenden Begrenzung des Krieges. An die Unterscheidbarkeit von Krieg und Frieden schließt die Trennung des Zivilen und Militärischen an.

Als dritte Grenzziehung kommt die zwischen Staaten- und Bürgerkrieg hinzu. Dabei haben sich die Anstrengungen von Anfang an auf die rechtliche und ethische Regulierung des zwischenstaatlichen Krieges konzentriert, während vom Bürgerkrieg, der zur Sammelbezeichnung aller nichtregulierten Kriege wurde, galt, dass er unter allen Umständen verhindert werden müsse. Entscheidend für die Sicherheitsarrangements der Staaten ist, dass es kein Drittes zwischen Staaten- und Bürgerkrieg gibt und Vermischungen zwischen beiden blockiert werden. Wo dies nicht gelingt, kommt es zu einer Eskalation der Gewalt und einer Steigerung der Grausamkeit; in der Regel ist das die Folge dessen, dass sich dann die Grenzziehung zwischen Kombattanten und Nonkombattanten auflöst, die für das neuzeitliche Kriegsvölkerrecht von zentraler Bedeutung ist. Die Auflösung der Grenze zwischen Staaten- und Bürgerkrieg ist eines der Merkmale der „neuen Kriege“.2

Für die Sicherheitsarchitektur der alten Bundesrepublik waren diese drei Grenzziehungen von herausgehobener Bedeutung. Sie avancierten zum Inbegriff einer rechtsstaatlich verfassten und demokratisch kontrollierten Sicherheitsordnung. Hinsichtlich der normativen Auszeichnung wie der institutionellen Ausgestaltung dieser Grenzziehungen nimmt die Bundesrepublik Deutschland in der westlichen Welt, wo diese Ordnung entstanden ist, eine besondere Stellung ein. Das zeigt sich beispielsweise, wenn ein möglicher Einsatz der Bundeswehr im Innern ins Gespräch gebracht wird oder im Fehlen einer Polizeieinheit, die sich, wie die französische Gendarmerie oder die italienischen Carabinieri, an der Schnittstelle von innen und außen bewegt, oder schließlich in der scharf ausgeprägten Trennung von Inlands- und Auslandsgeheimdienst. Die Bundesrepublik Deutschland ist darin die Avancierteste in den Reihen derer, die bei der Herstellung von Sicherheit dem Modell der Grenzziehungen gefolgt sind. Hier hat sie sich als Spitzenreiter einer in jeder Hinsicht wünschenswerten Entwicklung sehen können.

Neue sicherheitspolitische Herausforderungen

Für die neuen sicherheitspolitischen Herausforderungen, wie sie seit den 1990er Jahren zunehmend sichtbar geworden sind, ist charakteristisch, dass sie entweder die Grundlagen der staatlich hergestellten Sicherheit in Frage stellen oder aber an den Schnittstellen der dafür charakteristischen Trennlinien ansetzen: der zwischen innen/außen, Staatenkrieg/Bürgerkrieg, Kombattanten/Nonkombattanten, zivil/militärisch. Mit dem Auftauchen neuer Herausforderungen sind jedoch die alten Bedrohungen nicht gänzlich verschwunden: Die nuklearen und ballistischen Potenziale der Kontrahenten des Ost-West-Gegensatzes sind, wenn auch vermindert, immer noch vorhanden und obendrein haben sich weitere Akteure diese Fähigkeiten verschafft, zumal solche, bei denen nicht sicher ist, ob sie in ein stabiles System wechselseitiger Abschreckung einzubauen sind. Dafür ist das Risiko eines mit konventionellen Waffen geführten großen Krieges in Europa gesunken, und zwar so deutlich, dass die Vorbereitung auf einen mit konventionellen Kräften geführten Angriff inzwischen eher ein Ausdruck von Geldverschwendung als von sicherheitspolitischer Vorsicht ist. Dennoch laufen Rüstungsprogramme weiter, die zum Teil noch aus den Zeiten des Ost-West-Gegensatzes stammen, und es kommen Waffensysteme zur Auslieferung, die für in Europa nicht mehr wahrscheinliche Kriege entwickelt worden sind.

Eine Sicherheitsarchitektur, die asymmetrische Bedrohungen in Schranken zu halten vermag, wird sich nicht auf Waffensysteme stützen können, deren Entwicklung und Fertigung mehr als ein Jahrzehnt in Anspruch nimmt. Solche langfristigen Planungen waren möglich unter den Bedingungen einer symme-trischen Konfrontation, die linearen Entwicklungsrhythmen folgte, wodurch antizipierbar war, wie die Fähigkeiten eines Gegners in zwei bis drei Jahrzehnten aussehen würden und was man tun müsse, um ihm waffentechnisch ebenbürtig oder überlegen zu sein. Asymmetrische Bedrohungskonstellationen dagegen entwickeln sich nicht linear: Während sich die Bush-Administration auf die Entwicklung eines gegen „Schurkenstaaten“ gerichteten antiballistischen Raketensystems konzentrierte, erfolgte am 11. September 2001 ein Angriff, der sich der zivilen Infrastruktur hochentwickelter moderner Gesellschaften bediente. Das heißt nicht, dass die Abwehr von Bedrohungen durch „Schurkenstaaten“ überflüssig und sinnlos wäre; sie darf nur nicht so viel Aufmerksamkeit und Ressourcen für sich in Anspruch nehmen, dass andere Bedrohungen vernachlässigt werden. Überhaupt wird die Aufmerksamkeitsstruktur einer neuen Sicherheitsordnung multifocal sein müssen.

Die Asymmetrie der neuen Herausforderungen und Bedrohungen erwächst aus einer radikalen Ungleichheit in der „Verkörperlichung“ politischer Akteure: Der klassische Territorialstaat bildet einen „body politic“, der aus Territorium und Bevölkerung besteht, dazu einer materiellen Infrastruktur sowie einer Administration mit ausdifferenzierten Erfüllungs- und Erzwingungsstäben. Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten sind dadurch klar erkennbar, und die Ausbildung eines politischen Körpers macht den Akteur greifbar und verletzbar. Diese Verletzbarkeit ist die Voraussetzung für seine Eingliederung in ein System der Abschreckung: Alles, was er anderen antun kann, kann auch ihm angetan werden. Auf dieser Grundlage ist sein Handeln also rational antizipierbar. All dies gilt für terroristische Netzwerke oder Warlordstrukturen in zerfallenden Staaten nicht. Erstere tauchen in schwer zugänglichen Gebieten oder in der Tiefe der sozialen Räume unter; letztere steigern ihre Nichtfassbarkeit, indem sie permanent zwischen der Position des politischen Verhandlungspartners und der des bewaffneten Kontrahenten changieren. Auf diese Weise kompensieren sie ihre Unterlegenheit an materiellen Ressourcen, Infrastruktur und Organisation und sind zu ernstzunehmenden Kontrahenten der Staaten geworden.

Das ist die Grundlage der veränderten Bedrohungen und Herausforderungen, die eine neue Sicherheitsarchitektur erforderlich machen: das Auftauchen politischer Akteure, die keine Staaten und doch kriegführungsfähig sind. Da sie sich weder in Vertrags- noch in Abschreckungsregime einbinden lassen, ist die antizipierte Bedrohung durch sie relativ hoch. In der Regel werden diese Akteure als irrational bezeichnet. Streng genommen ist das unrichtig: Sie agieren durchaus rational, aber die Rationalität, der sie folgen, ist eine grundsätzlich andere als die der Staaten. Asymmetrie ist eine sehr umfassende Bezeichnung für das Ende des staatlichen Politikmonopols; sie ist keineswegs auf Taktik und Strategie, also auf Arten des Gebrauchs der Kräfte, beschränkt, sondern erfasst auch strategische Kreativität, politische Rationalität und völkerrechtliche Legitimität. Hatte das symmetrische Staatensystem die Akteure auf Reziprozität gepolt, so prämieren asymmetrische Konstellationen gerade nichtreziproke Entwicklungen.

Eine Voraussetzung für diese Entwicklung war die seit den achtziger Jahren einsetzende Veränderung der globalen Wirtschaftsstrukturen, zu der neben der politischen Entscheidung zur Liberalisierung des internationalen Güter- und Kapitalverkehrs auch die Dynamik der Kommunikations- und Informationstechnologie beigetragen hat, vom PC über das Handy bis zum Internet. Dadurch haben sich den nichtstaatlichen Akteuren logistische und kommunikationstechnische Möglichkeiten eröffnet, ohne die sie schwerlich zu der beschriebenen Bedrohung hätten werden können. So hat die Liaison, die etwa die Warlords über die Kanäle der Schattenglobalisierung mit der internationalen Kriminalität eingegangen sind, deren Durchhaltefähigkeit enorm gesteigert, und gerade daraus erwächst für sie eine Verfügung über Zeit, die den Staaten, wenn sie im Zusammenhang mit Friedensinterventionen gegen Warlords vorgehen, zunehmend Probleme bereitet. Vermutlich ist die Verfügung über Zeit als eine politisch-militärische Ressource das Feld, auf dem die Auseinandersetzung zwischen Staaten und nichtstaatlichen Akteuren entschieden wird. Man sollte nicht davon ausgehen, dass die Staaten die sicheren Sieger dieser Auseinandersetzung sind.

Warlordstrukturen können sich nämlich unter dem Druck von Interventionsstreitkräften in kürzester Zeit aus Gewaltakteuren in soziale Hilfsorganisationen oder halbkriminelle Netzwerke verwandeln, die mit illegalen Gütern, Rauschgift etwa, handeln und darüber ihre Klientelschaften versorgen und Loyalitäten pflegen. Auf deren Grundlage können die offenen Gewalthandlungen jederzeit wieder aufgenommen werden. Die Interventionskräfte werden von den Warlords so lange toleriert, wie sie gegen diese Strukturen nichts unternehmen. Tun sie dies doch, müssen sie mit Verlusten rechnen, in deren Folge dann die politische Unterstützung des Einsatzes in der Heimat dahinschmilzt. Die Gewalt der Warlords zielt dabei strategisch nicht gegen die Interventionskräfte, sondern auf die politische Unterstützung des Einsatzes. Sie spielt mit dem Instrument der Kostenerhöhung, von Geld bis Menschenleben. Humanitäre Interventionen und Friedensmissionen können sich so über Jahre, wenn nicht Jahrzehnte, hinziehen, ohne dass die Konstellationen beseitigt werden, die nach dem Ende der Intervention zu einem Wiederaufflammen der Kämpfe führen können. Das ist das Dilemma, das auch die Auslandseinsätze der deutschen Streitkräfte kennzeichnet.

Erst recht zeigt sich die unterschiedliche Verfügung über Zeit in der Herausforderung durch den transnationalen Terrorismus. Terroristen können Staaten unter Druck setzen, ohne sie manifest angreifen zu müssen. Inzwischen genügt die Verbreitung von Videobändern, in denen Anschläge angekündigt werden, ohne dass sie dann tatsächlich stattfinden müssen. Der so erzeugte permanente Druck führt zu einem präventiven Kontrollregime (etwa an Flughäfen), das in erheblichem Umfang Geld und Zeit kostet und damit eine permanente ökonomische Belastung darstellt. Die fortgeschrittenen kapitalistischen Gesellschaften des Westens haben während der letzten zwei, drei Jahrzehnte einen erheblichen Teil ihrer wirtschaftlichen Zuwächse aus der Fähigkeit zur Beschleunigung von Abläufen bezogen. Genau hier setzt die Strategie des transnationalen Terrorismus an: Sie zielt nicht auf die Sicherheitsinstitutionen des Staates, wie Militär und Polizei, sondern auf die ökonomischen Grundlagen dieser Ordnung. Insofern handelt es sich hierbei um eine moderne Variante der Ermattungsstrategie, und der Krieg, den die transnationalen Terroristen führen, ist ein Verwüstungs-, kein Niederwerfungskrieg.3

Vom Auslandseinsatz der Streitkräfte bis zur Bedrohung durch den Terrorismus ist die Asymmetrie der Zeit das Zentrum der neuen Herausforderungen. Dabei könnten sich die beschränkte Verfügung westlicher Gesellschaften über Zeit bzw. der Umstand, dass Zeit für sie im buchstäblichen Sinne Geld ist, als ihre Achillesferse erweisen. Obendrein handelt es sich bei ihnen um postheroische Gesellschaften, in denen Opfer und Ehre keine besondere Rolle mehr spielen.4 Postheroische Gesellschaften sind an der bedingungslosen Sicherung des Lebens orientiert; um diesem Imperativ zu genügen, setzen sie beachtliche finanzielle Mittel ein. So ist bei Auslandseinsätzen der Streitkräfte deren Ausrüstung und Bewaffnung nicht daran orientiert, in der direkten Konfrontation mit dem Gegner die Erfolgschancen zu erhöhen, sondern es geht wesentlich um die Vermeidung von Verlusten. Auch das ist eine Folge von Asymmetrie: dass die Rüstungsprogramme nicht mehr nur an den (potenziellen) Fähigkeiten des Gegners, sondern an der Vermeidung eigener Verluste ausgerichtet werden. Je stärker die Asymmetrie, desto mehr überwiegt der letzte Aspekt.

Neue Komplexitäten und Prioritäten

Eine neue Sicherheitsarchitektur, wie auch immer sie im Detail aussehen mag, wird komplexer sein als die alte. Neue Herausforderungen und Bedrohungen sind hinzugekommen, ohne dass die alten gänzlich verschwunden sind. Man wird sich jedoch nicht auf jedes denkbare Risiko vorbereiten können; dadurch würden Kapazitäten gebunden, die anderweitig dringlicher gebraucht werden. Wo sie gebraucht werden, lässt sich jedoch nicht mit Sicherheit sagen. Man muss eine möglichst große Flexibilität herstellen, aber auch Prioritäten setzen, was immer auf eine riskante Entscheidung hinausläuft.

Eines der Grundprobleme in der deutschen Sicherheitsarchitektur besteht darin, dass diese riskanten Entscheidungen zunächst vermieden und erst spät getroffen wurden. So hat man beim Umbau der Sicherheitsarchitektur tendenziell ein Jahrzehnt verloren. Um so konzentrierter und planmäßiger muss man jetzt zu Werke gehen. Neben der herkömmlichen Raumverteidigung, die nach wie vor eine gewisse, freilich deutlich reduzierte Rolle spielt, und der Spionageabwehr, die sich jedoch von politisch-militärischen auf technologisch-industrielle Aspekte verschoben hat, ist das Hauptaugenmerk auf die Fähigkeit zu Auslandseinsätzen sowie die Terrorismusabwehr zu legen. Die institutionenpolitische wie verfassungsrechtliche Problematik besteht dabei in der Sicherung der Schnittstellen, die im Institutionenarrangement der Staaten das Resultat der Trennung von innen und außen bzw. Zivilem und Militärischem sind. Asymmetrie heißt auch, dass hier die Bedrohung der Sicherheit am stärksten gewachsen ist; beim Umbau der Sicherheitsarchitektur ist vor allem auf diese Bereiche zu achten. Eine Antwort auf diese Herausforderung könnte in der Aufstellung von Kräften bestehen, die, wie etwa die italienischen Carabinieri oder die französische Gendarmerie, polizeiliche und militärische Fähigkeiten miteinander kombinieren. Allein daraus erwächst ein Flexibilitätsgewinn. Bei der Umgestaltung des Bundesgrenzschutzes in die Bundespolizei ist auf die Entwicklung solcher Fähigkeiten nicht oder nur unzureichend geachtet worden. Tatsächlich liegt bei den meisten Auslandseinsätzen – wenn es sich nicht um eindeutige Kampfeinsätze handelt – ein Großteil der verlangten Fähigkeiten genau in diesem Zwischenbereich von Militär und Polizei. Seit langem wird von einer „Konstabularisierung“ des Militärs geredet;5 nun geht es darum, daraus die organisatorischen Konsequenzen zu ziehen. Es kommt hinzu, dass solche Kräfte ein wichtiges Bindeglied bei der zivil-militärischen Zusammenarbeit darstellen können, die im Rahmen von Friedensmissionen von zentraler Bedeutung ist. Obendrein sind bei den neu auszubildenden Polizeikräften des Landes, in dem die Friedensmission stattfindet, vor allem Fähigkeiten auszubilden, die etwas robuster sind, als dies bei den Polizeien pazifizierter Staaten erforderlich ist. Vermutlich wird in Deutschland das entscheidende Problem in der Beantwortung der Frage liegen, ob diese neuen Kräfte dem Innen- oder dem Verteidigungsminister unterstellt werden. Das Schnittstellenproblem muss also nicht nur in institutionell-organisatorischer, sondern auch in politisch-legitimatorischer Hinsicht thematisiert und bearbeitet werden. Bei der Terrorismusabwehr wird es vor allem darum gehen, nicht in eine selbstgestellte Falle zu gehen: Diese besteht in der eher sprachlich vermittelten als analytisch gewonnenen Vorstellung, man müsse den Terrorismus an seinen Wurzeln bekämpfen und dürfe nicht bloß an dessen Symptomen herumlaborieren – mit der Folge, dass man sich zu einem von zivilen wie militärischen Kräften getragenen Engagement in den vermuteten Herkunfts- bzw. Ursprungsländern des Terrorismus entschließt. Dessen Ergebnis ist jedoch nicht selten, dass nicht die Ursachen des Terrorismus bekämpft werden, sondern man bloß seine Kräfte verschleißt, erhebliche Verluste hinnehmen muss und im Ergebnis nichts erreicht.

Von daher ist bei jeder Entscheidung über Auslandseinsätze genau zu prüfen, ob sich der politische Wille dazu auf die Bereitschaft zur Übernahme jahrelanger Verpflichtungen sowie zum Ertragen von Verlusten gründet. Wo dies nicht sicher ist, sollte man von dem Einsatz Abstand nehmen. Durchweg ist es nämlich mit der Blockierung offener Kriegsgewalt oder der Zerschlagung terroristischer Verbindungen nicht getan, sondern die Intervention geht mittelfristig in einen Prozess der Wiederherstellung von Staatlichkeit über, was heißt, dass die Interventionsmacht über Jahre hinweg präsent bleiben muss. Damit steigen die Kosten, und die Angreifbarkeit der Interventionskräfte wächst ebenso wie ihre Erpressbarkeit durch regionale Akteure. Schon bald beginnt im Entsendeland eine zunächst verdeckte und dann immer offener geführte Diskussion über die „exit option“. Abgebrochene Friedensmissionen und gescheiterte Versuche des Stabilitätsexports sind für die fragliche Region im Ergebnis schlimmer, als wenn nichts unternommen worden wäre. Gleichzeitig führt ein solches Scheitern im Entsendeland dazu, dass man beim nächsten Mal, wenn die Frage eines Einsatzes ansteht, zurückhaltender agiert, als der Sache zuträglich ist. Es wird terroristische Anschläge geben, bei denen es sinnvoll ist, nicht über deren vermeintliche oder tatsächliche tiefere Ursachen nachzuforschen und sich dann an deren Beseitigung zu machen, sondern die Anschläge stoisch hinzunehmen und bloß mit den Mitteln einer verdeckt agierenden Geheimpolizei die transnationalen Terroristen zu bekämpfen. Man meidet dann territoriale Bindungen, durch die man selbst verstärkt angreifbar wird. Davor schaudert man in Deutschland (noch) zurück. Aber das wäre eine defensive Reaktion im Clausewitzschen Sinn: Nutzung der stärkeren Form mit dem schwächeren Zweck – bloß Abwehr der Terroristen, keine Bekämpfung vermeintlicher oder tatsächlicher Ursachen. Andererseits gilt aber auch, dass, hat man sich erst einmal auf einen Einsatz zur Wiederherstellung von Staatlichkeit zwecks Blockierung terroristischer Netzwerke in einer Region eingelassen, man ihn nicht bei jeder Gelegenheit sogleich wieder in Frage stellen darf. Vom Beginn der Truppenstationierung an nämlich kommt die skizzierte Asymmetrie der Zeitressourcen zum Tragen, und es wäre naiv anzunehmen, dass die Gegenseite keine Vorstellung davon hat, wie sie innerdeutsche Debatten zu ihrem Vorteil anzetteln oder ausnutzen kann. Zu einer neuen Sicherheitsarchitektur gehört, dass man Einsätze sorgfältig und gründlich durchdenkt, bevor man sich dazu entschließt, dass man sich dabei unter keinen Umständen von Medienkampagnen mit Berichten über schwere Menschenrechtsverletzungen und Bildern des Grauens zu schnellen Entscheidungen verlocken lassen darf, dass man dann aber Entscheidungen auch für größere Zeiträume trifft und nicht in kurzen Intervallen den Einsatz im Parlament wieder zur Debatte und neuerlichen Entscheidung stellt. Ohnehin gilt, dass der deutsche Parlamentsvorbehalt beim Einsatz der Streitkräfte den Weg zu einem einheitlichen europäischen Agieren erschwert, wenn nicht blockiert. Die meisten Auslandseinsätze können aber nur in einem europäischen Rahmen geschultert werden. Damit geht man jedoch Verpflichtungen ein, die national nicht mehr ohne weiteres zur Disposition gestellt werden können.

Im Prinzip hat die Debatte über eine neue sicherheitspolitische Architektur in Deutschland noch nicht wirklich begonnen, weil die meisten von denen, die diese Debatte führen müssen, Art und Ausmaß der neuen Herausforderungen und Bedrohungen noch nicht realisiert haben. Über weite Strecken scheint der Eindruck vorzuherrschen, es gehe um ein bloßes Nachjustieren der immer wieder apostrophierten Stellschrauben. Es genügt aber nicht, eine Gerätschaft wieder ins Lot zu bringen, sondern ein ganzes Gebäude muss umgebaut werden. Das anzuzeigen, ist der Sinn der Architekturmetapher. Und Umbau steht in diesem Fall für mehr als bloß das Anstücken eines neuen Balkons. Man kann nicht ausschließen, dass ein wirklicher Umbau erst nach Terroranschlägen beginnt.

Prof. Dr. HERFRIED MÜNKLER, geb. 1951, lehrt Politikwissenschaft an der Berliner Humboldt-Universität. Sein jüngstes Buch „Der Wandel des Krieges. Von der Symmetrie zur Asymmetrie“ erschien 2006.
 

  • 2Dazu Herfried Münkler: Die neuen Kriege, Reinbek b. Hamburg 2002, sowie ders.: Der Wandel des Krieges. Von der Symmetrie zur Asymmetrie, Weilerswist 2006.
  • 3Dazu ausführlich Münkler: Der Wandel des Krieges (Anm. 2), S. 221 ff. 4 Ebd., S. 310 ff. 5 So bereits Morris Janowitz: The Professional Soldier. A Social and Political Portrait, New York 1966, S. 420.
Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, Mai 2007, S. 6 - 17.

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