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01. Dez. 2003

Einsame Mittelmacht

Ohne die USA gibt es keine Zukunft für Deutschland

Deutschland ist 1945 mit seiner unabhängigen, eigenständigen Großmachtpolitik endgültig gescheitert; es ist heute bestenfalls noch eine Mittelmacht, deren Lage aus sich heraus keineswegs stabil ist. Eine solche Mittelmacht aber kann auf Dauer ohne die Anlehnung an eine Großmacht nicht bestehen. Für Arnulf Baring gibt es deshalb für Deutschland keine tragfähige Alternative zum Bündnis mit den Vereinigten Staaten.

Drei Feststellungen vorab. Erstens haben sich anfangs alle – oder doch die meisten von uns – sehr getäuscht, welchen Umbruch der Weltsituation das Jahr 1990 bedeutete, obwohl man frühzeitig hätte ahnen können, dass das Ende des Kalten Krieges ein tiefer Einschnitt sein würde. Die wenigsten Analytiker der ersten Jahre nach 1990 haben die neue Lage mit der Klarheit erkannt, die heute der Rückblick erlaubt. Wir müssen inzwischen davon ausgehen, dass aus unterschiedlichen, aber verwandten Gründen die NATO, aber auch die Europäische Union und die Vereinten Nationen entscheidend geschwächt sind. Die Vorherrschaft – zumindest die zeitweilige, vielleicht nur scheinbare Vorherrschaft – der Vereinigten Staaten ist, was wir allerdings erst jetzt allmählich zu begreifen beginnen, das eigentliche Kennzeichen der Jahre seit 1990.

Zweitens erlebt man in Deutschland seit anderthalb Jahren improvisierte, daher erstaunliche, verwirrende Anläufe zu einer eigenständigen Außenpolitik.

Drittens scheint mir offensichtlich, dass es für Deutschland keine Alternative zu einer engen Bindung an die USA gibt. Das ist für jeden Kenner klar, obwohl es in Deutschland kaum erörtert wird. Man kann diese Behauptung nur begründen, wenn man einen historischen Rückblick wagt.

Das moderne Deutschland, das 1871 aus der Taufe gehoben wurde, fühlte sich im Laufe der Jahrzehnte nach der Reichsgründung mehr und mehr von unfreundlichen Ländern umgeben, hielt sich für eingekreist. Es war daher – und blieb – schwierig, die eigene Stabilität in Europa zu sichern, was unsererseits auch daran lag, dass die Deutschen von Bismarck bis Hitler von der fixen Idee besessen waren, sie müssten eine völlig unabhängige Rolle spielen, eine eigenständige Großmacht sein. Das war eine Überschätzung unserer Möglichkeiten.

Aber man muss zugeben, dass nicht leicht eine europäische Macht zu finden war, an die man sich hätte anlehnen können. Frankreich schied aus; die Einigung des Reiches war die Folge des deutsch-französischen Krieges, das Kaiserreich im Spiegelsaal von Versailles proklamiert worden. Aber für die Vergiftung des Verhältnisses zu Frankreich war nicht diese Demütigung entscheidend und auch nicht allein die Annexion Elsass-Lothringens. Ausschlaggebend für das schlechte Verhältnis war, dass Deutschland Frankreich aus der Führungsrolle – der vermeintlichen Führungsrolle – vertrieben hatte, die es unter Napoleon III. noch einmal errungen zu haben glaubte. Diese Situation hat sich, ungeachtet aller zwischenzeitlichen Veränderungen, jetzt nach der Wiedervereinigung 1990 tendenziell erneut ergeben. Daher rührt eine stark von untergründiger Rivalität bestimmte, versteckt ressentimentgeladene Reaktion Frankreichs auf die Vereinigung Deutschlands.

Es lag in der preußischen, preußisch-deutschen Tradition vor anderthalb Jahrhunderten, sich an Russland anzulehnen. Russlands Rückhalt war für die Reichseinigung entscheidend gewesen. Aber eine Anlehnung Berlins an St. Petersburg wurde zunehmend schwierig, ja unmöglich wegen des russischen Konflikts mit Wien. Österreich-Ungarn drängte, nachdem es 1866 aus der Mitte Europas vertrieben worden war, energisch auf den Balkan.

Russland seinerseits strebte auch dort hin, wollte zum Bosporus, an die Dardanellen, erhoffte im Zeichen des Panslawismus eine eigene Vorherrschaft auf dem Balkan, suchte dort das sieche Osmanische Reich zu beerben. Es war schwierig für Deutschland, zwischen Wien und St. Petersburg die Balance zu halten. Es war undenkbar für Berlin, sich angesichts eines deutsch geprägten, brüderlichen Österreichs offen auf die Seite Russlands zu stellen, obwohl Bismarck sogar das für den äußersten Notfall erwogen hatte. Damit schied im Zeichen eines zunehmend nationalistischen Russlands ein enges Zusammengehen des Reiches mit den Russen aus, das zur Zeit der Napoleonischen Kriege möglich, infolge der französischen Bedrängung notwendig gewesen war: nicht zufällig heißt ein großer Platz in Berlin Alexanderplatz, nicht von ungefähr verheiratete Preußens König Friedrich Wilhelm III. seine älteste Tochter mit dem künftigen Zaren Nikolaus I.

Nach dem französisch-russischen Bündnis von 1894 wäre für das Reich die einzige Erfolg versprechende, tragfähige Lösung ein Bündnis mit Großbritannien gewesen, der damals führenden Weltmacht. Aber das war schwierig, weil London an einem Zusammengehen mit uns kein Interesse hatte. Warum sollten sich die Briten mit Deutschland verbünden? Wir als Landmacht konnten ihnen bei ihrem See-Imperium kaum nützlich sein. Großbritannien war entschlossen, sich aus den europäischen Händeln herauszuhalten, so lange nicht, wie unter Napoleon I., ein Kontinentalblock drohte. Sobald jedoch Frankreich und Russland Deutschland überfielen, eine französisch-russische Dominanz Europas drohte, hätte sich London mit hoher Wahrscheinlichkeit auf Deutschlands Seite gestellt aus der Sorge heraus, das europäische Gleichgewicht zu sichern, wiederherzustellen.

Die Deutschen hätten also bessere Nerven gebraucht. Wir hätten mehr Geduld zeigen, die Situation nüchterner analysieren, auch antibritische Provokationen wie die Kolonialpolitik und vor allem eine forcierte Rüstung zur See vermeiden müssen. Wir waren damals töricht genug zu glauben, unsere stolze Marine werde die Engländer beeindrucken und unsere Attraktivität für Großbritannien erhöhen. Je stärker wir auch zur See würden, desto lieber werde sich London mit uns verbinden. Das war eine einigermaßen naive, falsche Annahme. Entsprechend desaströs war das Ergebnis, als die drei Großmächte 1914 gemeinsam gegen uns zu Felde zogen. Der Erste Weltkrieg, diese Urkatastrophe des Jahrhunderts, wie George F. Kennan gesagt hat, war schon für Deutschland verloren, als er begann – zumal frühzeitig abzusehen war, dass die Amerikaner ihre britischen Verwandten am Ende unterstützen würden.

Schwierige Mittellage

Warum muss das alles hier erwähnt werden? Die schwierige Mittellage Deutschlands in Europa war nach 1945 völlig verändert – aber eben nur zeitweilig. Meine Generation, erst recht die Jüngeren, haben über Jahrzehnte hinweg angenommen, die alte Konstellation sei sogar auf alle Zeiten beseitigt, die Bundesrepublik ein für allemal ein Teil der unauflöslich miteinander verbündeten, vereinten westeuropäisch-atlantischen Welt geworden. Auf Grund der langjährigen transatlantischen Einigkeit ist man bei uns der Illusion verfallen, die Nachkriegssituation Deutschlands und Europas sei gewissermaßen aus sich selbst heraus stabil, die Westintegration, die Westverschmelzung, dieses Einströmen Deutschlands in das westeuropäisch-atlantische Kräftefeld sei ein dauerhaftes, unabänderliches Ergebnis der westdeutschen Politik seit dem Zweiten Weltkrieg und werde daher für alle Zeiten unsere außenpolitische Grundlage bleiben. Das Buch Heinrich August Winklers über Deutschlands „langen Weg nach Westen“ ist der triumphale Höhepunkt dieser verbreiteten – aber inzwischen überholten Sicht der Dinge.

Wir müssen nämlich inzwischen feststellen, dass sich die alte Konstellation der Jahre von 1945 bis 1990 aufzulösen beginnt, wir erneut die Orientierungsschwierigkeiten bekommen, die wir nach 1871 gehabt und nie befriedigend gelöst haben. Diese fundamentale Veränderung hat in der deutschen Öffentlichkeit bisher erstaunlicherweise nicht zu einer anhaltenden, ernsthaften Strategiedebatte geführt. Es gibt nur vereinzelt ein vages, inhaltsarmes Gerede über einen „deutschen Weg“, neue „deutsche Interessen“. Eher lethargisch reagieren die Deutschen, auch die sonst so wachen intellektuellen Milieus, auf die Zerstörung der außenpolitischen Grundlagen der alten Bundesrepublik durch die rot-grüne Regierung, obwohl doch diese Fundamente seit Konrad Adenauer und bis zum Jahr 2002 als absolut verbindlich, als unantastbar galten.

Das deutlichste Anzeichen unserer Verwirrung ist das Ausbleiben jeder tieferen, auch historischen Analyse der Frage, welche Bedeutung die Vereinigten Staaten künftig für uns haben werden. Stattdessen treten untergründige antiamerikanische Stimmungen und oberflächliche Vorbehalte an die Stelle einer nüchternen, rationalen Prüfung unserer objektiven Interessenlage.

Man hat seit einigen Monaten den Eindruck, ein großer Teil unserer Landsleute, auch in den politisch führenden Gruppen, habe die Folgen der Niederlage von 1945 und deren fortdauernde Bedeutung nicht begriffen. Wenn man junge Leute fragt, weshalb der Zweite Weltkrieg in einer beispiellosen Katastrophe endete, erhält man meist die schlichte Auskunft, das habe an den Verbrechen Hitlers gelegen, während wir doch bekanntlich den Krieg auch dann verloren hätten, wenn keinem Juden, Russen, Polen, wem auch immer, ein Haar gekrümmt worden wäre.

Gescheiterte Großmachtpolitik

Die einfache Wahrheit ist: Wir sind 1945 mit unserer unabhängigen, eigenständigen Großmachtpolitik auf eigene Faust endgültig, also auf Dauer gescheitert. Deutschland ist heute bestenfalls (nur noch) eine Mittelmacht. Eine solche mittlere Macht in unserer geographischen Umgebung, die strategisch-politisch immer gefährlich bleibt, kann ohne die Anlehnung an eine Großmacht auf Dauer nicht bestehen.

Der Glaube, Deutschlands Lage sei aus sich heraus stabil, ist wahrscheinlich das größte, schwerwiegendste Missverständnis, dem wir anheim fallen können. Wir hätten ohne die Vereinigten Staaten den Kalten Krieg nicht als freies Land überlebt. Wir hätten ohne sie nie die Wiedervereinigung bewerkstelligt. Ohne sie ist Europa in militärischen Krisensituationen nicht handlungsfähig, daher wäre es ohne Washington nie zu konstruktiven Lösungsansätzen im zerfallenden Jugoslawien gekommen.

Wo sonst könnten wir uns anlehnen? Russland kommt natürlich nicht in Betracht. Desgleichen schlägt ja auch kein ernsthafter Mensch vor. Aber auch Frankreich ist für die Rolle einer Vormacht Deutschlands ungeeignet, weil es zu schwach und auch zu eigensinnig, zu egoistisch ist, um ein verlässlicher, fairer Partner der Deutschen zu sein. Ich habe es den Franzosen nie übel genommen, dass sie uns immer wieder auszunutzen versuchen. Aber dass sie uns für so töricht halten, wir merkten es nicht, ist ärgerlich.

Man muss nüchtern davon ausgehen, dass es für uns Deutsche keine tragfähige Alternative zum Bündnis mit den USA gibt. Daher ist die Entwicklung der letzten Monate zutiefst zu bedauern. Die auftrumpfende Behauptung maßgeblicher Deutscher, es gäbe eine neue, pluralistische Weltordnung, oder müsse sie doch geben, auch die Forderung eines angeblich verbindlichen neuen Völkerrechts, verkennt die Lage. Der 11. September 2001 zeigt, dass es für die neue terroristische Bedrohung aus dem Dunkel keine wirksame, völkerrechtliche Abhilfe geben kann, weil die bewusste Anonymität der Angreifer juristische Regelungen von Konflikten ausschließt. Wer die Vereinten Nationen ohne – oder sogar gegen – die USA stärken möchte, verfällt naivem Wunschdenken. Es gibt keine UN ohne die aktive Unterstützung seitens der Vereinigten Staaten. Solche fundamentalen Fehleinschätzungen zeigen, dass von einer strategischen Diskussion, wie sie unabdingbar wäre, wenn man einen grundsätzlichen Richtungswechsel plant, bisher in Deutschland keine Rede sein kann. Wir erleben ein offenkundiges Versagen der deutschen politischen Führung. Es wäre eine schlimme Schädigung der Interessen unseres Landes, wenn sich die träumerische Fehleinschätzung der Situation und Chancen Deutschlands in den Köpfen unserer Landsleute dauerhaft festsetzen sollte.

Zentrale Rolle der USA

Die bei weitem wichtigste außenpolitische Grundeinsicht aller Deutschen muss die Anerkennung der zentralen Bedeutung der USA für uns sein. Sie ist das wichtigste Ergebnis der blamablen Phase unserer nationalen Selbstüberschätzung. Angesichts dieses Befunds muss man sich vor selbstgefälligen moralischen Kompensationen, vor verärgerten Ressentiments hüten. Natürlich ist eine Weltmacht oft ein unangenehmer Partner für die kleineren Länder, auch Amerikaner sprechen selbstkritisch von einer gelegentlichen Arroganz amerikanischer Macht. Hinzu kommt die Neigung der USA zu außenpolitischer Sprunghaftigkeit, die sich immer wieder gezeigt hat – wenn auch nur selten gegenüber Europa.

Man kann gar nicht oft genug wiederholen, dass es ohne – oder gar gegen – die USA heute und in absehbarer Zukunft keine Weltordnung geben kann. Das heißt ja nicht, dass wir nun eine Vorherrschaft der USA über Jahrhunderte hinweg ertragen müssten. Es ist offensichtlich, dass die Amerikaner in Afghanistan und auch in Irak bisher nur Teilerfolge errungen haben. Nichts spricht dafür, dass sie eine Ordnungskraft werden, die dem Römischen Reich vergleichbar wäre. Es gehört wenig Phantasie und Prophetengabe dazu, um die Voraussage zu wagen, dass die Amerikaner sehr bald von dem Entschluss wieder Abstand nehmen werden, alle Probleme dieser beiden Länder – und erst recht der ganzen Erde – allein zu lösen.

Aber ihre Rolle ist und bleibt von entscheidender Bedeutung. Ihre militärische Stärke ist beeindruckend. Bisher hat man in Deutschland die Ursachen des verblüffend raschen Sieges in Irak nicht hinreichend verstanden. Welche modernen technischen Mittel haben da eine Rolle gespielt? Wie enorm groß ist der technologische Abstand zwischen der Ausrüstung der Amerikaner und dem, was die Europäer zu bieten haben!

Man muss übrigens davor warnen, von „den Europäern“ zu sprechen. Es gibt diese Einheit unseres Kontinents nicht, wie sich unübersehbar bei der kürzlichen Blockbildung innerhalb Europas gegenüber den Vereinigten Staaten gezeigt hat. Ein Großteil der Argumente, die sich bei Robert Kagan finden, der in seinem Buch „Macht und Ohnmacht. Amerika und Europa in der neuen Weltordnung“ die USA mit dem Mars und unseren Kontinent mit der Venus vergleicht, ist wenig schmeichelhaft für die Europäische Union, weil es bei diesem Vergleich ja nicht um Fragen der Kultur und der Liebe geht, sondern um unsere Einstellung zu den Problemen der Welt. Kagan hatte offenbar vor allem die heutigen, pazifistischen Deutschen im Auge, als er von Europa sprach. Franzosen und Engländer kann man anders sehen, weil ihre Außenpolitik noch immer, anders als bei uns, stärker vom Mars als von der Venus geprägt ist. Gleiches gilt von neuen Mitgliedern der Europäischen Union in Osteuropa.

Wir müssen uns allgemein darauf gefasst machen, dass die Unterschiede zwischen den Europäern größer werden. Wir werden in der Zukunft sehr viel weniger auf ein vereintes Europa rechnen können als in der Vergangenheit. Es ist immer eine Illusion gewesen zu glauben, die Erweiterung der Gemeinschaft, die Vergrößerung ihrer Mitgliederzahl werde eine Stärkung der Union bedeuten. Das Gegenteil ist richtig. Je größer sie wurde, desto heterogener, desto schwerfälliger, desto  antriebsärmer wurde sie. Das wird die jetzige Erweiterung, die offenbar nicht die letzte ist, erneut verdeutlichen.

Ob die Türkei am Ende eines jahrelangen Diskussionsprozesses der Europäischen Union beitritt oder nicht, wird viel weniger Gewicht haben, als Befürworter und Gegner dieses Beitritts heute glauben. Die Europäische Union nähert sich einer Art Freihandelszone, einem stark verwässerten Gemeinsamen Markt. Ob sie in den Turbulenzen der Zukunft noch in gleicher Weise funktionieren wird, wie sie das in der Vergangenheit – wenn auch mit Knirschen – getan hat, ist äußerst zweifelhaft. Wer den Vereinigten Staaten ein geeintes, auch militärisch handlungsfähiges Europa als Partner oder gar als Rivale gegenüberstellen möchte, hat die tiefe, heute weniger denn je behebbare Malaise unseres Kontinents noch nicht begriffen.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 12, Dezember 2003, S. 51 - 56

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