„Eine EU der souveränen Staaten“
Giorgio Trizzino von den Fünf Sternen über seine Forderungen an die EU
Die beiden stellvertretenden Premierminister Italiens, Luigi Di Maio von der populistischen Fünf-Sterne-Bewegung und Matteo Salvini von der nationalistischen Lega, überbieten sich derzeit in ihrem Konfrontationskurs mit der EU. Im Gespräch mit der IP erklärt Giorgio Trizzino, einer der Vordenker der Fünf Sterne, wie seine Partei sich die Neugestaltung Europas vorstellt.
IP: Herr Trizzino, der stellvertretende Regierungschef Luigi di Maio sagte vor Kurzem in einer Talkshow: „Wir müssen Europa zwingen, sich gegen unsere Haushaltspläne zu stellen.“ Was meinte er damit?
Giorgio Trizzino: Der EU stehen in den kommenden Monaten größere Änderungen bevor. Deshalb ist Di Maio der Auffassung, dass es an der Zeit ist, Europa neu zu gestalten. Sollte die EU den von der Regierung vorgelegten Haushalt mit einem geplanten Defizit von 2,4 Prozent zurückweisen, dann muss sie ihre Ablehnung genauer begründen. Das Problem ist jedoch, dass der Haushaltsentwurf von Beginn an instrumentalisiert wurde – bevor wir ihn überhaupt offiziell in Brüssel vorgelegt hatten.
IP: Di Maio lehnt einen Austritt Italiens aus der EU zwar kategorisch ab, kritisiert jedoch öffentlichkeitswirksam die Brüsseler Bürokraten. Für welche EU steht die Fünf-Sterne-Bewegung?
Trizzino: Wir sind definitiv keine Anti-Europäer, ein Austritt aus dem Euro steht für uns nicht zur Debatte. Wir fordern jedoch eine EU, in der souveräne Staaten zum Wohl ihrer Bürger handeln dürfen – im Einklang mit ihrer eigenen Verfassung und den europäischen Werten. Wenn die EU sich gegen dieses Prinzip der Souveränität stellt, dann muss Kritik erlaubt sein. Die EU sollte nicht nur auf Zahlen beruhen, sondern auf Solidarität und Gerechtigkeit.
IP: Auch gegen das italienische Staatsoberhaupt Sergio Mattarella hat Di Maio scharf geschossen. Den nächsten Präsidenten müssten die Bürger wählen, „nicht die Ratingagenturen, die Banken oder die Deutschen“. Beschädigen solche Attacken nicht das Ansehen der höchsten staatlichen Institution?
Trizzino: Natürlich gab es Spannungen und Missverständnisse. Die waren jedoch der besonders schwierigen Regierungsbildung geschuldet. Mittlerweile ist das alles aus dem Weg geräumt. Die Fünf-Sterne-Bewegung hat dem Staatsoberhaupt und der italienischen Verfassung immer wieder ihr Vertrauen ausgesprochen.
IP: In einem Strategiepapier der Fünf Sterne aus dem Jahr 2014 fordern Sie Folgendes: Abschaffung des Fiskalpakts, Einführung von Eurobonds sowie Investitionen, die von der Defizithaushaltsgrenze ausgenommen sind. Was ist daraus geworden?
Trizzino: Im Haushaltsgesetz gehen wir auf alle Punkte näher ein. Wir legen besonderen Wert darauf, dass die EU eine gewisse Flexibilität anerkennt, wenn es um außerordentliche Investitionsplanung geht. Denn wir wollen in die italienische Infrastruktur investieren und das Niveau der staatlichen Investitionen auf 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts anheben – das war auch das Niveau vor der Wirtschaftskrise. Außerdem wollen wir die Steuerlast senken und eine Erhöhung der Mehrwertsteuer vermeiden. Denn nur so geben wir den Unternehmen den nötigen Spielraum, um Italien mit wichtigen Innovationen voranzutreiben.
IP: Di Maio hofft auf eine neue Zusammensetzung des Europäischen Parlaments und der Kommission nach den EP-Wahlen im kommenden Jahr. Welche Erwartungen hat Ihre Partei?
Trizzino: Wir wollen, dass Parlament und Kommission in der kommenden Wahlperiode stärker auf Seiten der wirtschaftlich Schwachen stehen und eine Politik anstreben, die für eine nachhaltige Entwicklung und gesellschaftlichen Zusammenhalt steht. Das sind die Werte, die unsere Wähler einfordern.
IP: Mit welchen Parteien könnte sich Ihre Bewegung auf europäischer Ebene in Zukunft verbünden?
Trizzino: Wir suchen Partner, die ernsthaft an einer Lösung des Migrationsproblems arbeiten wollen. Dabei sind wir offen für alle Kräfte, die unsere europäische Vision teilen – Zusammenarbeit auf Augenhöhe, ohne unsere nationale Identität aufzugeben.
IP: Auf welcher Seite sehen Sie die Fünf-Sterne-Bewegung im politischen Spektrum: links oder rechts von der Mitte?
Trizzino: Das ist ein altes, ideologisch geprägtes Schema, das wir überwinden wollen. Italiens Bürger wurden jahrelang von Parteien vertreten, die mittlerweile überholt und realitätsfern sind. Die Wahlen im Frühling haben das bewiesen und den etablierten Parteien die Quittung ausgestellt. Wir sehen uns stattdessen als Bürger im Dienst der Bürger. Ich zum Beispiel bin Arzt und habe mich meinem Land zur Verfügung gestellt, um meinen Beitrag zur Modernisierung des italienischen Gesundheitswesens beizutragen. Weitermachen wie bisher ist einfach nicht mehr möglich. Deshalb bestehen wir auch auf einem Grundeinkommen. Wir betrachten das als eine Investition in die Gleichwertigkeit unter Bürgern.
IP: Innenminister Matteo Salvini hat sich kürzlich mit dem ungarischen Premier Viktor Orbán getroffen und wurde dafür gerade von Ihrer Bewegung heftig kritisiert. Können Sie angesichts dessen wirklich behaupten, dass sie keiner politischen Richtung zugehörig sind?
Trizzino: Man darf nicht vergessen, dass das ein rein symbolpolitisches Treffen war, also weder institutionell noch auf Regierungsebene. Natürlich helfen uns Leute wie Orbán, die sich einer Verteilung der Migranten und einer gemeinsamen Lösung des Problems verweigern, nicht weiter. Die Fünf-Sterne-Bewegung hat auch im Koalitionsvertrag festgehalten, dass wir alle nötigen Maßnahmen ergreifen wollen, damit keine Migranten mehr zu uns kommen. Jahrelang wurde Italien mit dieser Notsituation allein gelassen. Insofern hat Orbán mit seiner strikten Weigerung, Migranten aufzunehmen, Europa und damit auch Italien den Rücken gekehrt.
IP: Salvinis unnachgiebige Haltung gegenüber den Migranten hat immer wieder für Kritik aus den Reihen Ihrer Bewegung gesorgt. Sogar Roberto Fico, Vorsitzender der Abgeordnetenkammer, hat sich von Salvini in dieser Frage distanziert …
Trizzino: Italien ist das Land im Mittelmeerraum, das die meisten Migranten aufgenommen hat. Eine Aufgabe, die mit enormen Kosten verbunden war und ist. Seit Jahren weisen wir darauf hin, dass die Dublin-Regeln überholt sind. Wir fordern eine gerechte Verteilung der Asylbewerber auf alle Mitgliedstaaten anhand eines Umverteilungsmechanismus. Das ist übrigens auch in den europäischen Abkommen vorgesehen. Auch die Asylanträge müssen an andere Mitgliedstaaten weitergeleitet werden.
IP: Die Fünf-Sterne-Bewegung hat in der Vergangenheit mehr Nähe zu Russland als zur transatlantischen Allianz gezeigt. Mittlerweile scheint ein Sinneswandel eingetreten zu sein. Warum?
Trizzino: In erster Linie sind wir für Italien. Die Sanktionen gegen Russland haben den Exporten unserer Unternehmen geschadet, vor allem in der Landwirtschaft und in der Lebensmittelbranche. Wir wollen stabile Beziehungen zu allen Ländern aufbauen, natürlich auch zu den USA.
IP: Di Maios Position in der Bewegung scheint zu bröckeln. Stimmt es, dass Fico und der bei der Basis sehr beliebte Alessandro Di Battista nur auf den richtigen Moment warten, um Di Maio zu stürzen?
Trizzino: Es gibt weder Missmut in der Bewegung noch stellt jemand Luigi Di Maio als Vorsitzenden infrage. Diese Spekulationen überlassen wir anderen. Wir beschäftigen uns mit den wirklich wichtigen Problemen – der Modernisierung des Gesundheitswesens, dem Kampf gegen die Mafia und der Korruption. Probleme, mit denen nicht nur Italien konfrontiert ist, sondern ganz Europa. Genauso wie mit dem Problem eines nachhaltigen Wirtschaftswachstums, einer generationengerechten Rente, dem Bürgereinkommen, der Infrastruktur und der Umwelt.
IP: Wie bewerten Sie im Rückblick die ersten fünf Regierungsmonate?
Trizzino: Absolut positiv. Wir haben schon viel von dem, was wir unseren Wählern versprochen haben, in die Wege geleitet – wir haben zum Beispiel die lebenslangen Renten der ehemaligen Abgeordneten abgeschafft und unnötigen Ausgaben einen Riegel vorgeschoben. Das Bürgereinkommen ist an strikte Bedingungen gekoppelt und Kürzungen im Gesundheitswesen wurden vermieden.
IP: Laut Umfragen steht die Lega derzeit bei 31 Prozent; die Fünf Sterne sind auf 29 Prozent zurückgefallen. Wird diese Zwangsehe bis zum Ende der Legislaturperiode im Jahr 2023 halten?
Trizzino: Wir waren nie an Umfragen interessiert und sind es auch jetzt nicht. Mit der Lega haben wir einen Regierungsvertrag unterschrieben, um im Interesse des Landes zu arbeiten. Darin sehen wir anders als unsere Vorgängerregierungen eine Priorität. Und wenn alle Vereinbarungen des Koalitionsvertrags respektiert werden, dann wird auch diese Regierung die gesamte Legislaturperiode überstehen.
Giorgio Trizzino, geboren 1956 in Palermo,ist Chirurg und Palliativmediziner. Ehemaliger Sympathisant des Partito Democratico (PD), ist er seit März Abgeordneter der Fünf-Sterne-Bewegung und Mitglied des Ausschusses für Sozialwesen und Haushalt.
Das Gespräch führte Andrea Affaticati.
Internationale Politik 6, November-Dezember 2018, S. 82-85