IP

01. Juli 2005

Eine Chance für Europa?

Der Vermittler: Tony Blairs Britannien will den Kontinent führen

Seit 1997 wollte Tony Blair die innenpolitische Debatte über „Europa“ für sich entscheiden und zugleich Großbritannien zur gestaltenden Macht in der EU machen – der vielleicht größte Fehlschlag seiner ins neunte Jahr gehenden Amtszeit. Die Krise der EU gibt dem britischen Premierminister die Chance, sich doch noch als europäischer Staatsmann zu bewähren. Wo steht Blair, der „Europäer“? Ein Blick in neue Biographien.

Wie der Nebel über dem Ärmelkanal, der nach dem alten britischen Halbscherz immer mal wieder die Kontinentaleuropäer vom Rest der Welt abschneidet, kehrte in Großbritannien seit 1997 eines regelmäßig wieder: die von Premierminister Tony Blair groß angekündigte, aber stets ausgebliebene Debatte über „Europa“.

Nach Blairs Willen sollte das Vereinigte Königreich, wo Bevölkerung, politische Klasse und Medien in ihrer „Euroskepsis“ vereint sind, endlich traditionelle Vorbehalte überwinden. Diese waren seit 1979 unter seinen konservativen Amtsvorgängern Margaret Thatcher und John Major, die in der EU in erster Linie eine antibritische Verschwörung und Bedrohung sahen, gepflegt worden.

„Ich habe ein großes Ziel“, sagte Blair bei der Verleihung des Karlspreises 1999 in Aachen, „dass Großbritannien in den nächsten Jahren ein für allemal seine Ambivalenz gegenüber Europa ablegt. Ich will ein Ende der Unsicherheit, des Mangels an Vertrauen, der Europhobie.“ Blair wollte dabei über eine „Normalisierung“ des Verhältnisses weit hinausgehen. In der Vision, die einst wichtiger Bestandteil seines „New Labour“-Projekts war, sollte das Land „ins Herz Europas“ geführt und zum „leader in Europe“ gemacht werden. Beides – die Entscheidung der Debatte zugunsten einer positiven Haltung der Briten gegenüber Europa und die Führungsrolle des Landes in der EU – verstand Blair zumindest zeitweise als komplementär.

Die Diskussion hat nie begonnen

Doch am Ende ist Tony Blair dieser Diskussion stets aus dem Weg gegangen, und die Aussicht, dass sie noch in seiner Amtszeit geführt und entschieden wird, ist sehr gering. Den jüngsten Plan, sie Anfang 2006, dem anvisierten Termin für das britische Referendum über den europäischen Verfassungsvertrag, auszutragen, haben die Franzosen und Niederländer durchkreuzt – zur überwiegenden Erleichterung im Regierungsviertel Whitehall, wo man allgemein damit rechnete, eine solche Abstimmung zu verlieren. Auch persönlich wird der Premierminister kaum traurig sein: Das Referendum hätte einen „natürlichen“ Termin für die schon angekündigte Aufgabe seines Amtes dargestellt.

Aus britischer Sicht ist der Verfassungsvertrag nach dem „Non“ und „Nee“ faktisch erledigt, und eine weitere Debatte darüber überflüssig. Nur mit Mühe konnte Außenminister Jack Straw, ohnehin kein Freund des Paragraphenwerks, dazu gebracht werden, den Vertrag nicht für tot zu erklären und sich vor dem Unterhaus auf die Ankündigung zu beschränken, angesichts der unsicheren Lage „unterbreche“ die britische Regierung die Vorbereitungen für eine Volksabstimmung, auf unbestimmte Zeit.

Über den Verfassungsvertrag wird das Land sein Verhältnis zur EU also nicht bestimmen. Das andere mögliche Thema, nämlich die Einführung des Euro, ist unterdessen auf die noch längere Bank geschoben. Bezeichnenderweise hatte Blair kurz vor den Unterhauswahlen vom 5. Mai wie nebenbei einen britischen Beitritt zur Währungsunion für die bevorstehende Legislaturperiode ausgeschlossen. Kritikern von Blairs Politik gilt das als der Beweis dafür, wie leicht der Premierminister heutzutage seine europapolitischen Ambitionen dem Tagesgeschäft opfert. Denn das Timing der Äußerung war dazu bestimmt, das Interesse von der Veröffentlichung des Rechtsgutachtens abzulenken, das der oberste Rechtsberater der Regierung, Lord Goldsmith, vor dem Irak-Krieg über die Legalität des Einmarsches erstellt hatte.

Der Streit um den Britenrabatt oder: Tony schwingt Maggies Handtasche

Paradoxerweise hat sich unter dem „europhilsten“ Premierminister, den Großbritannien – vielleicht mit Ausnahme von Edward Heath – seit Ende des Zweiten Weltkriegs hatte, die Distanz und Skepsis der Briten gegenüber der EU stetig vergrößert. Mit der „United Kingdom Independence Party“ (Ukip), die bei den Wahlen zum Europaparlament im April 2004 mit 16,1 Prozent der Stimmen den dritten Platz belegte und seitdem 12 der 75 britischen Europaabgeordneten stellt, mischt nun eine Partei am Rande des politischen Spektrums mit, deren einziger Programmpunkt der Austritt aus der EU ist. Zwar hat Ukip bei den jüngsten Unterhauswahlen den Konservativen überraschend wenig Kopfzerbrechen bereitet, doch ist ihr Erstarken ein überdeutliches Symptom.

Auch von der Erfüllung des britischen Anspruchs auf eine Führungsrolle in Europa kann man in den vergangenen acht Jahren kaum reden. Schon vor seinem vehementen Eintreten für den Feldzug gegen den Irak an der Seite des amerikanischen Präsidenten George W. Bush, das ihm in weiten Teilen Europas starke Einbußen an Prestige und Sympathien eingebracht hat, waren britische Initiativen an ihre Grenzen gestoßen.

Kurz vor dem EU-Gipfel Mitte Juni brach gar die alte Diskussion über den „Britenrabatt“, den Margaret Thatcher 1984 mit der populistischen Formel „I want my money back“ errang, wieder aus. Skeptische Beobachter auf der Insel fühlten sich bestätigt, dass sich im Grunde in Europa in den letzten 20 Jahren nicht viel geändert habe. Auf der anderen Seite sprach der britische EU-Handelskommissar und Blair-Vertraute Peter Mandelson davon, die Regierung klinge in dieser Angelegenheit „neo-thatcheristisch“.

Dass es dem französischen Präsidenten Jacques Chirac überhaupt gelang, mit dem Thema den Tagesordnungspunkt „Zukunft der EU“ zu überlagern, der sich vor allem in Folge seiner Niederlage im Referendum über den Verfassungsvertrag stellte, zeigt, wie wenig Großbritannien unter Blair in Sachen EU-Diplomatie gelernt hat oder lernen will. Die britische Regierung verfiel früh in vertraute Muster, zog in Sachen Rabatt die „roten Linien“ und schwang sprichwörtlich „Thatchers Handtasche“.

Dessen ungeachtet hat sich mit der französischen und niederländischen Ablehnung des Verfassungsvertrags für Tony Blair, der am 1. Juli die EU-Präsidentschaft für das zweite Halbjahr 2005 übernahm, eine einmalige Chance aufgetan. Der französische Kommentator Alain Duhamel sagte bereits die Geburt von „l’Europe anglaise“ voraus: Frankreich habe faktisch die Führungsrolle in Europa aufgegeben. Die Gegner des Verfassungsvertrags hätten genau das Gegenteil von dem bewirkt, was sie beabsichtigt hatten, und durch ihr Nein dem „britischen Modell“ in Europa Tor und Tür geöffnet.

Mit einiger Bestürzung machte der britische Publizist Timothy Garton Ash Anhänger dieser Idee selbst im Umkreis von Downing Street aus. Chirac sei angeschlagen, Gerhard Schröder ein Bundeskanzler auf Abruf, also könne nur Tony Blair zur Rettung der EU eilen, ihr Wirtschafts- und Sozialreformen nach britischem Vorbild verordnen und so dem Drachen der Globalisierung die Stirn bieten. „Die Stunde Londons ist gekommen“, fasste Garton Ash diese Stimmung ironisch zusammen, „mit Gott für England, Tony und St. Georg.“ („What is to be done?“, The Guardian vom 2. Juni 2005).

Das „window of opportunity“ besteht, und Blair scheint gewillt, es zu nutzen. Nach anfänglicher Irritation und schroffer Ablehnung als Reaktion auf Chiracs Vorschlag an die „britischen Freunde“, auf den Rabatt als „Geste des guten Willens“ zu verzichten, signalisierte der Premierminister Gesprächsbereitschaft. Der Rabatt könne im Kontext des EU-Budgets diskutiert werden. In einem Zeitungsinterview zeigte Blair gleichzeitig Verständnis für kontinentale Befürchtungen: Weitere Reformen in Europa müssten nicht zum „kompletten Abbau“ der Wohlfahrtssysteme führen, wie sie beispielsweise Frankreich und Deutschland genössen. „Europa“ müsse seine soziale Dimension behalten, es brauche ein starkes soziales Modell, aber „eines für die heutige Welt“.

Im Osten eine Hausmacht

Doch kann es Blair gelingen, sich am Ende doch noch als europäischer Staatsmann zu bewähren? Wie sieht es aus mit Blairs Verhältnis zum „Kontinent“, wie ist seine bisherige Negativbilanz zu erklären, wie sind die Chancen eines „blairistischen Europas“ zu bewerten?

Nur wenig hilft die Publikation des Journalisten Gerd Mischler weiter, die sich oft wie eine Seminararbeit liest. Mischler betont, dass der Premierminister in außenpolitischen Kategorien denkt, die dem Verhältnis zu den USA und den Beziehungen zur EU gleichrangige Bedeutung zumessen. Aber hat dies Blair zu einem „Schlingerkurs“ gezwungen, wie der Autor meint? War ein solches Verständnis nicht auch, mit eher situativen Ausnahmen in den letzten Jahren, das allgemeine Selbstverständnis der deutschen Außenpolitik?

Auch Blairs „Unzuverlässigkeit“ in Sachen europäischer Verteidigungspolitik erklärt nicht so ganz, warum Mischler mit Blick auf den britischen Einfluss in Europa von „reinem Wunschdenken“ spricht – findet sich doch bei ihm unter anderem der wichtige Hinweis darauf, dass sich Blair unter den neuen EU-Staaten, die schon aufgrund der Erfahrung der sowjetischen Herrschaft nach Washington blicken, wenn es um ihre Sicherheit geht, erstmals in Europa so etwas wie eine Hausmacht geschaffen hat.

Supermacht, nicht Superstaat

Für Philip Stephens, einen prominenten Kolumnisten und leitenden Redakteur der Financial Times, stehen Blairs „credentials“ als „Europhiler“ dagegen außer Frage. In seiner bei manchen Anflügen von Hagiographie (ursprünglich erschien das Buch mit dem Untertitel „The Making of a World Leader“) gedankenreichen und anregenden Darstellung bezeichnet er Blair bei seiner Ankunft in Nummer 10 Downing Street als „Instinkteuropäer“ – und damit als das glatte Gegenteil zu seinem konservativen Vorgänger John Major, der sich zum Ende seiner Amtszeit nicht zu schade war, im Gegenzug für den über BSE-verseuchtes Rindfleisch verhängten Exportstopp die EU-Gremien lahmzulegen.

„Europa ist nicht etwas, das uns 1973 [das Datum des britischen Beitritts zur damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft EWG] zugestoßen ist“, sagte Blair noch in Oppositionszeiten, „wir sind Europäer“. 1997 galt der jugendlich wirkende Blair mit seiner zu „New Labour“ reformierten Partei, dem Konzept des „dritten Weges“ und seinem „modernen“ Politikverständnis als Politstar; er stellte, wie Stephens schreibt, den „Zeitgeist“ dar, auch wenn manche mit seiner messianischen, oft überbordenden Rhetorik wenig anfangen konnten, und er gerade der europäischen Linken – beispielsweise dem gescheiterten französischen Sozialistenchef Lionel Jospin – als ideologisches Leichtgewicht galt.

Anfangs setzte Blair positive Zeichen. Als eine der ersten Amtshandlungen führte er beispielsweise die Europäische Sozialcharta ein. Im Gegensatz zu vielen anderen britischen Politikern hatte Blair auch keine grundsätzlichen Vorbehalte gegen-über dem integrativen Prinzip der Souveränitätsabtretung. Allerdings zog er der in den Römischen Verträgen von 1957 beschriebenen Idee einer „immer engeren Union“ einen pragmatischen und von Realpolitik geprägten „Europäismus“ vor, dessen Kern er in einer Rede in Warschau im Herbst 2000 als „Projektion kollektiver Macht“ definierte: Der Kontinent solle „Supermacht“, aber kein „Superstaat“ sein.

Stephens verweist auf Erfolge, vor allem im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, als Blair im Dezember 1998 eine persönliche Kehrtwende vollzog und auf dem britisch-französischen Gipfel von St. Malo die Gründung einer europäischen Schnellen Eingreiftruppe anschob, oder im Bereich der Wirtschaftspolitik, wo seine Bemühungen in der ambitionieren „Lissabon-Agenda“ mündeten.

Doch auch Negativpunkte benennt Stephens: Die „Promiskuität“ seiner politischen Freundschaften, beispielsweise mit Silvio Berlusconi oder José Maria Aznar, wurde in manchen Hauptstädten ebenso missbilligend zur Kenntnis genommen wie sein Hang zur Mehrdeutigkeit und die Schwäche, seinen Gesprächspartnern das zu erzählen, was sie hören wollten, statt Konflikte auszutragen. Auch seine gelegentliche Selbstüberschätzung und Misskalkulationen hinsichtlich der Dauerhaftigkeit des deutsch-französischen „Motors“ spielten eine Rolle dabei, dass Blairs europäischen Ambitionen Grenzen gesetzt waren.

In den Fesseln von Gordon Brown

Im Werk des britischen Zeithistorikers Anthony Seldon, der die bislang detaillierteste Blair-Biographie vorgelegt hat, werden zwei grundsätzliche Hemmnisse noch deutlicher. Erstens ist da der ungeschriebene „Pakt“, den Blair mit der rechten, europafeindlichen Presse eingegangen ist, insbesondere mit Blättern des Medienkonzerns Rupert Murdochs, wie dem Boulevardblatt Sun oder der Times. Er werde wählen müssen, ob er „Europa führen oder Murdoch an seiner Seite haben“ wollte, prophezeite ihm früh der 2003 verstorbene „große Mann“ der britischen Sozialdemokratie, Roy Jenkins. Diese Wahl hat Blair aber bis heute nicht getroffen.

Zweitens schildert Seldon ausführlich die Entscheidung im Herbst 1997 gegen eine schnelle Beteiligung an der europäischen Einheitswährung. Diese wiederum war bestimmt von der „politischen Ehe“, die Blair 1994 mit Gordon Brown eingegangen war, seinen innerparteilichen Rivalen, Schatzkanzler und wahrscheinlichen Nachfolger. In der heute berühmten, heimlichen Absprache im Restaurant „Granita“ sagte Brown zu, im Kampf um die Parteispitze zurückzustehen, wenn er zum alleinigen Architekten der Labour-Wirtschaftspolitik werde und Blair beizeiten beerbe.

Laut Seldon war sich Blair 1997 bewusst, dass nur der Beitritt zum Euro die Ambition, eine führende Rolle in Europa zu übernehmen, möglicht gemacht hätte. Trotzdem konnte Brown die Entscheidung an sich ziehen und – im Zuge eines missglückten Schachzugs in Sachen Medienmanagement – einen baldigen Euro-Beitritt ausschließen. Indem er für das Finanzministerium die Kontrolle über die „fünf ökonomischen Tests“ reklamierte, deren Erfüllung für eine Euro-Annahme unabdingbar sei, sicherte sich Brown die Prärogative.

Blairs Rivale hatte durchaus persönliche, machtpolitische Gründe für seine in den vergangenen Jahren stetig gewachsene Gegnerschaft zum Euro, die heute eine Reihe von Kabinettsmitgliedern teilt. Ganz oben dabei stand die größere wirtschaftspolitische Entscheidungsfreiheit, die der Regierung durch den Nichtbeitritt entstand. Blairs spätere Bemühungen, das Thema zu forcieren – auf dem Labour-Parteitag von 2001 sprach er mit Blick auf den Euro von „Großbritanniens Bestimmung“ – scheiterten allesamt. „Der entscheidende Faktor für Blairs Entscheidung gegen den Euro“, schreibt Seldon, „war Browns kontinuierlicher Widerstand.“ Der Premierminister verpasste die beste Chance, „sich ins Buch der Geschichte einzutragen“.

Wie stark wird vor diesem Hintergrund die Position tatsächlich sein, die Tony Blair im zweiten Halbjahr 2005 einnehmen kann? Zwar scheint er mit seinem größeren Hang zum Wirtschaftsliberalismus und seinem Atlantizismus in der erweiterten EU der 25 nun aufs Neue den Zeitgeist zu repräsentieren (wenngleich das Konstrukt „britisches“ versus „französisches/deutsches“ Modell an den Realitäten etwas vorbeigeht). Doch hat das schon in der Vergangenheit nicht ausgereicht, weil Blairs europäische Ambitionen eher daheim als auf europäischer Ebene scheiterten – größte Ausnahme waren die Haushaltsverhandlungen von 2002, als er mit einem deutsch-französisichen fait accompli konfrontiert wurde.

Blairs Verhältnis zu den „Großen“ der EU ist nicht frei von Belastungen. Dass er auf viel Unterstützung aus Frankreich hoffen kann, ist beinahe auszuschließen – nicht zuletzt hat Blairs Kehrtwende in Sachen Referendum über den Verfassungsvertrag im April 2004 auch den französischen Präsidenten veranlasst, eine Volksabstimmung anzuberaumen und Chirac damit in die jetzige Lage gebracht. Viel wird davon abhängen, wie die im Herbst gewählte neue Bundesregierung aussieht und wie sie sich positionieren wird. Doch auch hier zeigt sich, wie kompliziert Blairs Aufgabe bei näherer Betrachtung ist. Mit einer CDU-geführten Bundesregierung wären weitere EU-weite Wirtschaftsreformen wohl leichter zu machen, nicht aber die fortschreitende Erweiterung, insbesondere der Beitritt der Türkei, den in Großbritannien sogar die konservative Opposition favorisiert.

Scheitere besser!

Blair könnte am effektivsten wirken, wenn er als Makler und Vermittler aufträte, in aufreibender Detailarbeit, unter Verzicht auf die großen Gesten, und die rhetorische Überhöhung die EU zusammenhielte und vorsichtig auf die Zukunft ausrichtete – kurz: einen Politikstil verfolgte, der das Gegenteil dessen wäre, was „New Labour“ und insbesondere Blair in der Vergangenheit praktiziert haben. Dass dies dem britischen Premierminister, für den die Bestätigung seiner „historischen Regierungsleistung“ noch in der Zukunft liegt, gelänge, ist zwar nicht leicht vorstellbar – ausgeschlossen ist es nicht.

Blair bräuchte vor allem größeren politischen Mut, und ihm müsste eine positive Bestimmung von Großbritanniens Verhältnis zur EU gelingen. Anregungen fände er in Überfülle in Mark Leonards bemerkenswertem und engagiertem Pamphlet „Why Europe Will Run the 21st Century“. Es beweist, dass Großbritannien nicht nur die schärfsten Kritiker der EU, sondern auch ihre eloquentesten und gewitztesten Befürworter hervorbringt. Leonard stellt insbesondere „Europas Macht neuer Art“ heraus, der seiner Ansicht nach die Zukunft gehört. Fast unsichtbar wirke sie durch nationale Institutionen und sei fähig – ganz im Gegensatz zur amerikanischen Regimewechsel-Politik –, ganze Gesellschaften in kürzester Zeit durch Anpassung an die eigenen Normen und Rechtsvorstellungen zu verändern.

Leonard weist auch darauf hin, dass jeder Rückschlag „Europa“ bislang stärker gemacht hat, getreu dem vom irischen Dramatiker Samuel Beckett stammenden Motto, der bei Misserfolg riet: „Scheitere, scheitere noch einmal, scheitere besser“ – vielleicht ein guter Leitspruch auch für Tony Blair.

Mark Leonard: Why Europe Will Run the 21st Century. Fourth Estate, London und New York 2005. 170 Seiten, £ 8,99.

Gerd Mischler: Tony Blair. Reformer, Premierminister, Glaubenskrieger. Parthas Verlag, Berlin 2005. 351 Seiten, € 28.

Philip Stephens: Tony Blair. The Price of Leadership. Politico’s, London 2004. 402 Seiten, £ 8,99.

Anthony Seldon: Blair. The Free Press/Simon & Schuster, London 2005. 784 Seiten, £ 9,99.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 7, Juli 2005, S. 58 - 59

Teilen